E-Book, Deutsch, 488 Seiten, Format (B × H): 155 mm x 223 mm, Gewicht: 846 g
Moliterni Eberle «Lassen Sie mein Leben nicht verloren gehen!»
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-03810-468-1
Verlag: NZZ Libro
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Begnadigungsgesuche an General Wille im Ersten Weltkrieg
E-Book, Deutsch, 488 Seiten, Format (B × H): 155 mm x 223 mm, Gewicht: 846 g
ISBN: 978-3-03810-468-1
Verlag: NZZ Libro
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Lea Moliterni Eberle (*1973) studierte Germanistik und Geschichte. Nach dem Studium arbeitete sie als Programmleiterin in einer NGO sowie als freie Historikerin. Seit 2013 verantwortet sie beim Schweizerischen Roten Kreuz in Zürich das Grossgönner-, Stiftungs- und Legatswesen sowie das historische Archiv.
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2 Modellfall Rudolf Urech
2.1. Chronologie des Geschehens
Der Modellfall ist in vier Teile gegliedert. Im ersten Teil geht es um den Überblick im Fall Rudolf Urech. Er beginnt daher mit einer Chronologie des Geschehens. Es folgen biografische Angaben zu Rudolf Urech und eine Quellenübersicht. Der erste Teil funktioniert somit als Raster. Der zweite Teil bildet die Untersuchung. Es geht darum, zu zeigen, mit welchen strategischen, thematischen und emotionalen Mitteln der Verurteilte und seine Angehörigen beim General um Gnade bitten. Im dritten Teil wird dargestellt, wie General Wille zu seinem Gnadenentscheid gelangte und welche Personen dabei involviert waren. Der Straffall Rudolf Urech ist hinsichtlich Ulrich Willes Entscheidung besonders aufschlussreich. Aus diesem Grund wird den Nachforschungen, die der General aufgrund der von Urech vorgebrachten Gnadengründe veranlasste, ebenfalls Platz eingeräumt. Der vierte Teil synthetisiert schliesslich die wichtigsten Ergebnisse und leitet zum Fortgang der Untersuchung über. Dabei wird der Modellfall Rudolf Urech militärjuristisch eingeordnet und leitet so zu den anschliessenden Bereichen «Militär – Recht – Gnade» über. Grundlegendes Ziel des Modellfallkapitels ist, diejenigen Themenbereiche herauszuarbeiten, mit denen dann die restlichen Fälle analysiert werden.
Die Chronologie im Militärjustizfall Rudolf Urech wird entlang seiner Strafrechtsprozessetappen erzählt. Dazu gehören die Deliktbegehung, die Tataufdeckung, die Untersuchungsphase mit der breit abgestützten Beweisführung, die Hauptverhandlung mit dem verhängten Strafmass sowie die Begnadigungsphase, in der Urech versucht, die Sanktionen aufzuheben. Zu dieser gehören die Begnadigungsgesuche des Petenten und der Angehörigen, die jeweiligen Gnadenempfehlungen des Auditors sowie die dazugehörigen Gnadenentscheide des Oberbefehlshabers. Der letzte Gnadenentscheid in der Causa Urech fällt Ulrich Wille am 7. August 1915 – knapp 200 Tage nach Rudolf Urechs Verurteilung.
Die Deliktbegehung und die Tataufdeckung
Am Morgen des 24. Dezember 1914, kurz nach 8.30 Uhr, sucht Wachtmeister Leopold Würsch seinen Vorgesetzten, Leutnant Rathgeb, auf. Beide leisten ihren Aktivdienst im zugerischen Rotkreuz.96 Der Wachtmeister meldet, dass ihm in der Nacht etwa 14 Franken aus seinem Geldbeutel gestohlen worden seien. Bei einem Tagessold von 1 Franken entspricht dies dem Lohn zweier Wochen. Wenige Stunden später setzt Leutnant Rathgeb erneut einen Rapport auf. Darin notiert er Folgendes: Rudolf Urech, Korporal in der 4. Kompanie des Bataillons 57, habe den Befehl erhalten, am 22. Dezember 1914 abends um 18.30 Uhr die Wache aufzuziehen. Kurz nach 19 Uhr sei dieser in sein Büro gestürmt und habe über fehlende Meldeformulare auf der Wache reklamiert. Leutnant Rathgeb händigte Urech diese aus und schickte ihn zurück auf die Wache. Als er kurz vor 23 Uhr bei den Munitionszügen und den Wachtlokalen patrouillierte, habe er den wachverantwortlichen Korporal Urech aber nicht auffinden können. Urechs Stellvertreter, Korporal Süess, meldete, dass sich Urech kurz vor 19 Uhr von der Wache entfernt habe und seit da nicht mehr zurückgekehrt sei. Im Rapport führt der Leutnant aus, wie er sich daraufhin auf die Suche nach dem fehlbaren Korporal Urech gemacht habe und diesen im Gasthaus Zur Linde aufgefunden habe. An Ort und Stelle habe er ihn auf seine Dienstnachlässigkeit aufmerksam gemacht und ihm den Befehl erteilt, sich unverzüglich auf die Wache zu begeben. Da die Wachtrapporte für den folgenden Tag aber erst um 23 Uhr eingetroffen seien, habe er erst zu später Stunde erfahren, dass der gemahnte Wachtkorporal Urech auch am nächsten Tag, dem 23. Dezember 1914, wiederholt den Wachtposten verlassen habe.97
Die Untersuchungsphase mit der breit abgestützten Beweisführung
Am Morgen des 25. Dezember 1914 wird Rudolf Urech mit Verdacht auf Diebstahl verhaftet und nach Luzern in Untersuchungshaft überführt.98 Noch am selben Tag beginnen die Voruntersuchungen, bei denen innert sechs Tagen 29 Zeugen verhört werden. Darunter befinden sich nicht nur Truppenangehörige wie die Wach- und Zimmerkameraden und militärischen Vorgesetzten von Rudolf Urech, sondern auch mehrere Wirtshausangestellte, ein Bahnangestellter, ein Krämerladenbesitzer und ein Coiffeur. Befragt wurden Personen, die am 23. Dezember 1914 und an Heiligabend mit Urech zu tun hatten. Aus den Zeugenprotokollen99 ist zu entnehmen, dass dem Korporal Würsch, der in der Diebstahlsnacht Bettnachbar von Urech war, 14 Franken gestohlen worden waren. Unter dem Diebesgut haben sich eine neue, braune Fünfrankennote mit Tellskopf und ein silbernes Fünffrankenstück befunden. Aufgrund der Zeugenaussage von Rosa Wyss, Angestellte des Gasthofs «Zur Schmiedstube», hatte Urech am Tag nach dem Diebstahl mit einer Tellskopfnote bezahlt. Dies sei ihr in Erinnerung geblieben, da diese ja braun und damit eine Fünffrankennote der ersten Ausgabe sei. Ihr sei vor allem aufgefallen, dass Korporal Urech überhaupt Geld besessen habe. Denn die Tage zuvor, so auch am Vorabend, habe er sich ständig einladen lassen oder sei davongelaufen, ohne zu zahlen. Urech sei, so Rosa Wyss, an Heiligabend erneut stark angetrunken gewesen und «sprach so, als wäre er ein Tessiner». Auch das Personal von fünf weiteren Gasthäusern sagt aus, dass Urech bis zur Diebstahlsnacht wegen Geldmangels stets angeschrieben, die Zeche geprellt oder Zivilisten angepumpt habe. Dies ändert sich schlagartig ab dem frühen Morgen des 24. Dezember. Ab diesem Zeitpunkt – so die Zeugen – habe er nunmehr selbst bezahlt, habe überdies seine längst überfälligen Spielschulden beglichen, sei zum Coiffeur gegangen und habe sich für den Weihnachtstag ein Zugbillett nach Luzern gekauft. Dorthin, wo seine Verlobte Emma wohnt. Einigkeit herrscht bei den Zeugen nicht nur bezüglich Urechs plötzlicher Spendierfreudigkeit, sondern auch hinsichtlich seines Alkoholkonsums. Ebenso übereinstimmend sind die Zeugenaussagen in Bezug auf sein Auftreten und sein Verhalten gegenüber der Truppe. In der Regel sei Urech bereits ab dem frühen Morgen angetrunken, spätestens ab der Mittagszeit stets stark betrunken gewesen und habe in und ausserhalb der Kaserne Rotkreuz randaliert. Die Witwe Edith Steiner, die das «Gotthard» führt, erklärt gegenüber Leutnant Rathgeb, dass Urech bei ihnen aufgrund seines Benehmens wiederholt Hausverbot erhalten habe. Unlängst habe er beim Hinausgehen im Gang «über den Tisch gepisst». Zählt man die Anzahl alkoholischer Getränke auf, die Urech am 23. und 24. Dezember gemäss den Zeugenprotokollen in den fünf Wirtshäusern getrunken hatte, beläuft sich der Konsum auf über 7 Franken.100 Berücksichtigt man die Preise von 15 Rappen für ein grosses Glas Bier und 20 Rappen für einen Kaffee mit Kirsch, ergibt dies einen Alkoholkonsum, der die Beschreibungen von Urechs betrunkenem Zustand glaubwürdig macht. Rudolf Urech zählt in seinem Verhör am zweiten Weihnachtstag sämtliche Wirtshausbesuche und konsumierten Getränke auf und bestätigt damit die Angaben aus den Zeugenprotokollen. Lediglich die Frage nach dem Geld beantwortet Urech nicht. Er könne sich nicht erinnern und fügt an: «Von dem Kameradendiebstahl weiss ich nichts.» Drei Tage nach Urechs Verhaftung leitet der Untersuchungsrichter das Strafverfahren ein. Nochmals drei Tage später, am Neujahrstag 1915, gesteht Rudolf Urech beide Delikte. Auch den Diebstahl, den er bis zu diesem Zeitpunkt stets abgestritten hatte. Die entwendete Summe, so Urech im Verhör, sei aber deutlich tiefer gewesen, denn im Geldbeutel seien nur 8 und nicht 14 Franken gewesen. Auf die Frage nach den Tatumständen antwortet er, dass die Hose seines Bettnachbarn Leopold Würsch über dem Stuhl gehangen sei. Und dieser habe wiederum fast vor seinem Bett gestanden. Zudem habe er nicht schlafen können, da die anderen herumgelärmt hätten.101 Zehn Tage später informiert der Untersuchungsrichter den Auditor Max Huber, dass die Voruntersuchung abgeschlossen sei. Rudolf Urech wird daraufhin von Hinwil ins Bezirksgefängnis Aarau überführt, wo am nächsten Tag die Hauptverhandlung stattfindet. Seit dem Delikt sind inzwischen 19 Tage vergangen.
Korporal Rudolf Urech wird verdächtigt, an Heiligabend einen Kameraden bestohlen zu haben. Im Rapport vom 1. Januar 1915 werden nun die Zeugenverhöre zusammengefasst. So auch das Verhör mit der Serviertochter Rosa Wyss. Ihr war aufgefallen, dass Urech nicht wie üblich die Zeche prellte, sondern Geld besass.
Die Hauptverhandlung und die Verkündung des Strafmasses
Am Nachmittag des 13. Januar 1915 wird Urech Rudolf vom 4. Divisionsgericht wegen Dienstverletzung und ausgezeichneten Diebstahls zu neun Monaten Gefängnis verurteilt. Darüber hinaus wird Urech zu zwei Strafen verurteilt, die die Ehre betreffen. Erstens wird er degradiert und verliert damit seinen Grad als Unteroffizier auf unbestimmte Dauer, und zweitens werden ihm seine bürgerlichen Ehrenrechte für zwei Jahre entzogen. Neben den Verfahrenskosten von 25.20 Franken muss der Verurteilte dem geschädigten Leopold Würsch 13 Franken entrichten. Dabei handelt es sich um eine verhältnismässig milde Strafe: Der Grossrichter hätte aufgrund des Militärstrafgesetzes von 1851 bis zu vier Jahren Zuchthaus verhängen können.102
Die Begnadigungsphase
Gemäss Artikel 189 der Militärstrafgerichtsordnung von 1889 konnte ein Verurteilter innerhalb 24 Stunden ein Kassationsbegehren einreichen und damit um Neubeurteilung des Strafurteils bitten. Rudolf Urech begehrte dies nicht, und so setzte am 15. Januar 1915 seine Begnadigungsfrist ein. Eine Frist, die gemäss Artikel 214 bis zum...