E-Book, Deutsch, 144 Seiten
Modiano Unfall in der Nacht
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-446-24884-7
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 144 Seiten
ISBN: 978-3-446-24884-7
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Patrick Modiano, 1945 in Boulogne-Billancourt bei Paris geboren, ist einer der bedeutendsten Schriftsteller der Gegenwart. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den großen Romanpreis der Académie française, den Prix Goncourt, den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur und 2014 den Nobelpreis für Literatur. Bei Hanser erschienen unter anderem die Romane Place de l'Étoile (2010), Im Café der verlorenen Jugend (2012), Der Horizont (2013), Gräser der Nacht (2014), Damit du dich im Viertel nicht verirrst (2015), der Prosatext Schlafende Erinnerungen (2018), das Theaterstück Unsere Anfänge im Leben (2018) sowie zuletzt die Romane Unsichtbare Tinte (2021) und Unterwegs nach Chevreuse (2022).
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Spät in der Nacht, vor sehr langer Zeit, kurz bevor ich volljährig wurde, da überquerte ich die Place des Pyramides in Richtung Concorde, als ein Wagen aus der Dunkelheit auftauchte. Zunächst glaubte ich, er habe mich gestreift, dann spürte ich einen stechenden Schmerz vom Knöchel bis hinauf ins Knie. Ich war auf das Trottoir gestürzt. Doch ich schaffte es, wieder aufzustehen. Der Wagen hatte plötzlich einen Schlenker gemacht und war mit dem Geklirr zerbrechenden Glases gegen einen der Arkadenpfeiler auf dem Platz geprallt. Die Tür ging auf, und eine Frau stieg schwankend aus. Jemand, der vor dem Hoteleingang unter den Arkaden stand, hat uns ins Foyer geführt. Wir, die Frau und ich, warteten auf einem roten Lederkanapee, während er an der Rezeption telephonierte. Sie hatte sich an der Wange, auf dem Backenknochen und der Stirn verletzt, und sie blutete. Ein brünetter Klotz mit sehr kurzem Haar hat das Foyer betreten und ist auf uns zugekommen.
Draußen umringten sie den Wagen, dessen Türen offenstanden, und einer machte sich Notizen wie für ein Protokoll. Als wir in den Streifenwagen stiegen, merkte ich, daß ich keinen Schuh mehr am linken Fuß hatte. Die Frau und ich saßen nebeneinander auf der Holzbank. Der brünette Klotz hatte sich uns gegenüber auf der anderen Bank niedergelassen. Er rauchte und warf von Zeit zu Zeit einen kalten Blick auf uns. Durch das vergitterte Fenster habe ich gesehen, daß wir den Quai des Tuileries hinunterfuhren. Man hatte mir keine Zeit gelassen, den Schuh zu holen, und ich habe gedacht, daß er nun die ganze Nacht dort auf dem Trottoir liegenbleiben würde. Ich wußte nicht mehr genau, ob es ein Schuh war oder ein Tier, das ich im Stich gelassen hatte, jener Hund aus meiner Kindheit, der von einem Wagen überfahren worden war, als ich in der Nähe von Paris lebte, in einer Rue du Docteur-Kurzenne. Mir war ganz wirr im Kopf. Vielleicht hatte ich mich bei meinem Sturz am Schädel verletzt. Ich habe mich zu der Frau gedreht. Es überraschte mich, daß sie einen Pelzmantel trug.
Mir ist wieder eingefallen, daß Winter war. Außerdem trug der Mann uns gegenüber auch einen Mantel und ich eine von diesen alten Lammfelljacken, wie man sie auf Flohmärkten fand. Ihren Pelzmantel hatte sie bestimmt nicht auf dem Flohmarkt gekauft. Nerz? Zobel? Sie hatte ein sehr gepflegtes Äußeres, was nicht zu den Verletzungen in ihrem Gesicht paßte. Auf meiner Jacke, etwas oberhalb der Taschen, sah ich Blutflecken. Ich hatte eine lange Schramme im linken Handteller, und die Blutflecken auf dem Stoff, die kamen sicher daher. Sie hielt sich sehr gerade, aber mit geneigtem Kopf, als starre sie auf etwas am Boden. Vielleicht auf meinen schuhlosen Fuß. Die Haare trug sie halblang, und im Licht des Foyers war sie mir blond vorgekommen.
Das Polizeiauto war an der Ampel stehengeblieben, auf dem Quai, bei Saint-Germain-l’Auxerrois. Der Mann beobachtete uns immer noch, mal sie und mal mich, schweigend, mit seinem kalten Blick. Ich fühlte mich langsam an irgend etwas schuldig.
Die Ampel wurde nicht grün. Es brannte noch Licht in dem Café an der Ecke Quai/Place Saint-Germain-l’Auxerrois, wo mein Vater sich oft mit mir verabredet hatte. Das war der Augenblick, um zu fliehen. Vielleicht brauchten wir auch nur diesen Typen auf der Bank zu bitten, daß er uns gehen ließ. Aber ich fühlte mich außerstande, das kleinste Wort hervorzubringen. Er hat gehustet, ein schleimiges Raucherhusten, und ich war überrascht, einen Ton zu hören. Seit dem Unfall herrschte tiefe Stille um mich, als hätte ich das Gehör verloren. Wir fuhren den Quai hinunter. Als das Polizeiauto auf die Brücke einbog, spürte ich, wie ihre Finger mein Handgelenk umfaßten. Sie lächelte mich an, wie um mich zu beruhigen, aber ich hatte überhaupt keine Angst. Mir schien sogar, als wären wir, sie und ich, uns schon bei anderer Gelegenheit begegnet und als habe sie immer dieses Lächeln. Wo hatte ich sie schon gesehen? Sie erinnerte mich an jemanden, den ich vor langer Zeit gekannt hatte. Der Mann uns gegenüber war eingeschlafen, und der Kopf sank ihm auf die Brust. Sie hielt mein Handgelenk fest umschlossen, und gleich nachher, beim Aussteigen, würde man uns mit Handschellen aneinanderketten.
Hinter der Brücke ist das Auto durch einen Torweg gefahren und hat im Hof der Unfallstation des Hôtel-Dieu gehalten. Wir saßen im Wartesaal, immer noch in Gesellschaft dieses Mannes, und ich fragte mich, welche Funktion er eigentlich hatte. War er ein Polizist, der uns bewachen sollte? Warum? Ich hätte ihn gern gefragt, aber ich wußte im voraus, daß er mich nicht hören würde. Ich hatte jetzt eine TONLOSE STIMME. Diese beiden Worte waren mir eingefallen im viel zu grellen Licht des Wartesaals. Wir saßen, sie und ich, auf einer Bank gegenüber der Aufnahme. Er ist aufgestanden, um mit einer der Frauen zu sprechen, die in diesem Büro arbeiteten. Ich saß dicht neben ihr, ich spürte ihre Schulter an der meinen. Er hat sich wieder auf seinen Platz gesetzt, ein Stück von uns weg, am Ende der Bank. Ein rothaariger Mann, barfuß, mit Lederjacke und Pyjamahose bekleidet, lief ständig im Wartesaal hin und her und schnauzte die Frauen im Büro an. Er warf ihnen vor, sich nicht um ihn zu kümmern. Er kam regelmäßig an uns vorüber und suchte meinen Blick. Ich dagegen wich seinem aus, denn ich fürchtete, er würde mich ansprechen. Eine der Frauen aus der Aufnahme ging zu ihm und schob ihn sanft zum Ausgang hinaus. Er kam zurück in den Wartesaal, und diesmal stieß er lange Klagelaute aus, wie ein Hund, der ganz jämmerlich heult. Von Zeit zu Zeit durchquerten ein Mann oder eine Frau, von Schutzmännern begleitet, rasch den Saal und verschwanden in einem Gang uns gegenüber. Ich fragte mich, wohin dieser Gang führen mochte und ob man uns beide gleich nachher auch da hineinschubsen würde. Zwei Frauen durchquerten den Wartesaal, von mehreren Polizeibeamten umgeben. Ich begriff, daß sie aus einer grünen Minna kamen, vielleicht derselben, die uns hier abgesetzt hatte. Sie trugen Pelzmäntel, die genauso elegant waren wie der meiner Nachbarin, und sie hatten dasselbe gepflegte Äußere. Keine Verletzungen im Gesicht. Aber jede hatte Handschellen an den Handgelenken.
Der brünette Klotz bedeutete uns, wir sollten aufstehen, und führte uns dann nach hinten in den Saal. Es war mir peinlich, mit nur einem Schuh zu gehen, und ich sagte mir, ich täte besser daran, auch den anderen auszuziehen. Ich spürte einen ziemlich starken Schmerz im Knöchel des Fußes, an dem kein Schuh war.
Eine Krankenschwester ist uns in einen kleinen Raum vorangegangen, wo zwei Feldbetten standen. Wir haben uns auf diese Betten gelegt. Ein junger Mann ist hereingekommen. Er hatte einen weißen Kittel an und trug einen kurzen Vollbart. Er schaute auf eine Karteikarte und fragte sie nach ihrem Namen. Sie antwortete: Jacqueline Beausergent. Auch mich hat er nach meinem Namen gefragt. Er hat meinen schuhlosen Fuß untersucht, dann das Bein, indem er die Hose bis zum Knie hochschob. Ihr hat die Krankenschwester aus dem Mantel geholfen und mit Watte die Verletzungen im Gesicht gereinigt. Dann verschwanden sie wieder, ließen aber ein Nachtlicht brennen. Die Tür stand weit offen, und im Licht des Korridors ging dieser Kerl auf und ab. Mit der Regelmäßigkeit eines Metronoms erschien er in der Tür. Sie lag neben mir, den Pelzmantel wie eine Decke über sich gebreitet. Zwischen den zwei Betten wäre nicht einmal Platz für einen Nachttisch gewesen. Sie hat den Arm nach mir ausgestreckt und mein Handgelenk umfaßt. Ich dachte an die Handschellen, die die zwei Frauen vorhin getragen hatten, und wieder sagte ich mir, daß sie früher oder später auch uns welche anlegen würden.
Auf dem Korridor ging er jetzt nicht mehr auf und ab. Er redete leise mit der Krankenschwester. Diese kam in das Zimmer, gefolgt von dem jungen Mann mit Vollbart. Sie haben das Licht angemacht. Sie standen an meinem Bett. Ich habe mich zu ihr gedreht, und sie hat unter dem Pelzmantel die Schultern gezuckt, als wollte sie mir andeuten, daß wir in der Falle säßen und nicht mehr entkommen würden. Der brünette Klotz stand, etwas breitbeinig und mit verschränkten Armen, reglos in der Tür. Er ließ uns nicht aus den Augen. Wahrscheinlich bereitete er sich darauf vor, uns den Weg zu versperren, falls wir versucht hätten, aus diesem Zimmer zu gehen. Sie hat mich wieder angelächelt, mit jenem leicht ironischen Lächeln, das sie auch vorhin in der grünen Minna aufgesetzt hatte. Ich weiß nicht warum, aber dieses Lächeln hat mich beunruhigt. Der Typ mit dem Vollbart und dem weißen Kittel beugte sich über mich und stülpte mir, von der Krankenschwester assistiert, etwas wie einen breiten schwarzen Maulkorb über die Nase. Ich roch den Äther, bevor ich das Bewußtsein verlor.
*
Von Zeit zu Zeit versuchte ich die Augen zu öffnen, fiel aber immer wieder in einen Halbschlaf. Dann erinnerte ich mich verschwommen an den Unfall und wollte mich umdrehen, um nachzusehen, ob sie noch in dem anderen Bett lag. Aber ich hatte nicht die Kraft für die kleinste Bewegung, und diese Reglosigkeit verschaffte mir ein wohliges Gefühl. Ich erinnerte mich auch an den breiten schwarzen Maulkorb. Sicher hatte mich der Äther in diesen Zustand versetzt. Ich machte den toten Mann und ließ mich in der Strömung eines Flusses treiben. Ihr Gesicht tauchte ganz deutlich vor mir auf, wie ein großes anthropometrisches Photo: der regelmäßige Bogen der Augenbrauen, die hellen Augen, das blonde Haar, die Verletzungen auf der Stirn, den Backenknochen und an der Wange. In meinem Halbschlaf hielt mir der brünette Klotz das Photo vor die Nase und fragte, »ob ich diese Person kenne«. Ich war überrascht, ihn sprechen zu hören. Er wiederholte die Frage...