Modiano | Place de l'Étoile | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

Modiano Place de l'Étoile

Roman
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-446-24878-6
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

ISBN: 978-3-446-24878-6
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein junger Mann, Raphael Schlemilovitch, in Paris zur Zeit des Nationalsozialismus. In seiner fingierten Autobiografie ziehen kaleidoskopartig die Lebensentwürfe der Juden im besetzten Frankreich vorüber: Mal ist er 'Kollaborationsjude' und Liebhaber von Eva Braun, mal 'Feld-und-Flur-Jude' in der tiefsten Provinz, bald emigriert er mit falschen Papieren und wird der Judenverfolgung dennoch nicht entgehen. Bis er bei Doktor Freud auf der Couch liegt, der dem halluzinierenden Held eine 'jüdische Neurose' attestiert. Modianos brillantes Erstlingswerk ist einer der aufregendsten Romane über das von Deutschen besetzte Paris und ein stilistisches Meisterstück zugleich, hier von Elisabeth Edl zum ersten Mal übersetzt.

Patrick Modiano, 1945 in Boulogne-Billancourt bei Paris geboren, ist einer der bedeutendsten Schriftsteller der Gegenwart. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den großen Romanpreis der Académie française, den Prix Goncourt, den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur und 2014 den Nobelpreis für Literatur. Bei Hanser erschienen unter anderem die Romane Place de l'Étoile (2010), Im Café der verlorenen Jugend (2012), Der Horizont (2013), Gräser der Nacht (2014), Damit du dich im Viertel nicht verirrst (2015), der Prosatext Schlafende Erinnerungen (2018), das Theaterstück Unsere Anfänge im Leben (2018) sowie zuletzt die Romane Unsichtbare Tinte (2021) und Unterwegs nach Chevreuse (2022).
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I


Es war in jener Zeit, da ich mein venezolanisches Erbe verschleuderte. Manch einer redete nur von meiner strahlenden Jugend und meinen schwarzen Locken, andere gossen Hohn über mich. Ich las ein letztes Mal den Artikel, den mir Léon Rabatête in einer Sondernummer von Ici la France gewidmet hatte: »… Wie lange noch müssen wir uns die Spielchen dieses Raphaël Schlemilovitch bieten lassen? Wie lange noch soll dieser Jude ungestraft seine Neurosen und epileptischen Anfälle überall zur Schau stellen dürfen, von Le Touquet bis Cap d’Antibes, von La Baule bis Aixles-Bains? Ich frage zum letzten Mal: Wie lange noch sollen Hergelaufene seines Schlags die Söhne Frankreichs beleidigen dürfen? Wie lange noch müssen wir uns ständig die Hände waschen wegen dem jüdischen Gesindel? …« In der gleichen Zeitung rülpste Doktor Bardamu über mich: »… Schlemilovitch? … Oh! dieser zum Himmel stinkende Schimmelpilz aus dem Ghetto! … Scheißschwächling! … Schlappschwanzvorhaut! … libanesisch-kanakischer Dreckfink! … Rumtata … Rums! … Schaut ihn euch an, diesen jiddischen Gigolo … diesen hemmungslosen Arschficker kleiner Arierinnen! … ungeheuer negroide Fehlgeburt! … dieser tollwütige Abessinier und junge Nabob! … Zu Hilfe! … schlitzt ihm den Bauch auf … kastriert ihn! … Erlöst den Doktor von so einem Schauspiel … ans Kreuz mit ihm, Himmelherrgott! … exotischer Hochstapler auf infamen Cocktailpartys … Judensau internationaler Paläste! … auf Sexorgien made in Haifa! … Cannes! … Davos! … Capri und tutti quanti! … durch und durch verjudete Grandbordells! … Erlöst uns von diesem beschnittenen Stutzer! … seinen mosesgrünen Maseratis! … seinen See-Genezareth-Jachten! … seinen Sinai-Krawatten! … Seine arischen Sklavinnen sollen ihm die Eichel abzwicken! … mit ihren hübschen einheimischen Beißerchen … ihren niedlichen Händen … ihm die Augen auskratzen! … los, ran an den Kalifen! … Aufstand im christlichen Harem! … Schnell! Schnell … Weigerung, ihm die Eier zu lecken! … ihm schönzutun gegen Dollars! … Befreit euch! … zeig Mumm, Madelon! … sonst muss der Doktor weinen! … sich verzehren! … grausame Ungerechtigkeit! … Komplott des Sanhedrins! … Man trachtet dem Doktor nach dem Leben! … glaubt mir! … die Kultusgemeinde! … die Rothschild-Bank! … Cahen d’Anvers! … Schlemilovitch! … Mädels, unterstützt Bardamu! … Hilfe! …«

Der Doktor konnte mir meinen Entlarvten Bardamu nicht verzeihen, den ich ihm aus Capri geschickt hatte. In dieser Studie offenbarte ich das Entzücken eines jungen Juden, mein eigenes Entzücken, als ich mit vierzehn Die Reise des Bardamu und Die Kindheiten des Louis-Ferdinand in einem Zuge gelesen hatte. Ich verschwieg auch seine antisemitischen Pamphlete nicht, wie es die braven Christenleutchen tun. Über sie schrieb ich: »Doktor Bardamu widmet ein Gutteil seines Werkes der Judenfrage. Das ist nicht weiter verwunderlich: Doktor Bardamu ist einer von uns, er ist der größte jüdische Schriftsteller aller Zeiten. Genau darum spricht er mit solcher Leidenschaft von seinen Rassenbrüdern. In seinem Romanwerk erinnert Doktor Bardamu an unseren Rassenbruder Charlie Chaplin, durch seine Vorliebe für schäbige kleine Details, die rührenden Gestalten Verfolgter … Der Satzbau des Doktor Bardamu ist noch viel ›jüdischer‹ als der gewunden-verschnörkelte Satzbau von Marcel Proust: eine sanfte, weinerliche Musik, ein bisschen ranschmeißerisch, ein klein wenig schmierenkomödiantisch …« Ich schloss mit: »Nur Juden können einen der ihrigen wirklich verstehen, nur ein Jude kann nach bestem Wissen und Gewissen über Doktor Bardamu sprechen.« Als Antwort schickte mir der Doktor einen Brief voller Beschimpfungen: ihm zufolge führte ich mit Hilfe von Sexpartys und Millionen die jüdische Weltverschwörung. Auf der Stelle sandte ich ihm meine Psychoanalyse von Dreyfus, mit der ich schwarz auf weiß die Schuld des Hauptmanns bewies: Das war von Seiten eines Juden apart. Ich hatte folgende These entwickelt: Alfred Dreyfus liebte das Frankreich von Ludwig dem Heiligen, Jeanne d’Arc und den Chouans leidenschaftlich, was seine militärische Berufung erklärt. Frankreich hingegen wollte von dem Juden Alfred Dreyfus nichts wissen. Darum hatte er es verraten, so wie man sich an einer herablassenden Frau mit Sporen in Lilienform rächt. Barrès, Zola und Déroulède begriffen nichts von dieser unglücklichen Liebe.

Eine solche Interpretation brachte den Doktor wohl aus der Fassung. Ich hörte nichts mehr von ihm.

Das Gezeter von Rabatête und Bardamu wurde übertönt durch die Lobreden, die Gesellschaftskolumnisten auf mich hielten. Die meisten von ihnen zitierten Valery Larbaud und Scott Fitzgerald: Man verglich mich mit Barnabooth, man nannte mich »The Young Gatsby«. Die Photographien der Illustrierten zeigten mich stets mit leicht geneigtem Kopf, in die Ferne schweifendem Blick. Meine Melancholie war sprichwörtlich in den Spalten der Klatschblätter. Den Journalisten, die mir vor dem Carlton, dem Normandy oder dem Miramar Fragen stellten, verkündete ich unermüdlich mein Judentum. Außerdem stand mein Tun und Treiben im Gegensatz zu jenen Tugenden, die man bei den Franzosen pflegt: Zurückhaltung, Sparsamkeit, Arbeit. Von meinen orientalischen Vorfahren habe ich die schwarzen Augen, den Hang zu Exhibitionismus und Pomp, die chronische Faulheit. Ich bin kein Kind dieses Landes. Marmeladekochende Großmütter, Familienportraits oder Religionsstunden habe ich nie gekannt. Und doch höre ich nicht auf, von einer Kindheit in der Provinz zu träumen. Meine eigene ist bevölkert von englischen Gouvernanten und spielt in der Eintönigkeit verkommener Strände: In Deauville hält mich Miss Evelyn an der Hand. Mama vernachlässigt mich zugunsten von Polospielern. Abends kommt sie und küsst mich im Bett, manchmal spart sie sich aber auch die Mühe. Dann warte ich auf sie, lausche nicht mehr Miss Evelyn und den Abenteuern von David Copperfield. Jeden Morgen bringt mich Miss Evelyn in den Poney Club. Dort nehme ich Reitstunden. Ich werde einmal der berühmteste Polospieler der Welt sein, um Mama zu gefallen. Die kleinen Franzosen kennen alle Fußballmannschaften. Ich denke nur an Polo. Ich sage mir magische Worte vor: »Laversine«, »Cibao la Pampa«, »Silver Leys«, »Porfirio Rubirosa«. Im Poney Club werde ich ständig mit der jungen Prinzessin Laïla, meiner Verlobten, photographiert. Am Nachmittag kauft uns Miss Evelyn Schokoregenschirmchen bei der »Marquise de Sévigné«. Laïla mag lieber Lutscher. Die von der »Marquise de Sévigné« sind länglich und haben einen hübschen Stiel.

Es kommt vor, dass ich Miss Evelyn entwische, wenn sie mich an den Strand bringt, aber sie weiß, wo sie mich finden kann: bei dem Ex-König Firouz oder bei Baron Truffaldine, zwei Erwachsenen, die meine Freunde sind. Der Ex-König Firouz spendiert mir Pistazieneis und ruft: »Genau so ein Leckermaul wie ich, dieser kleine Raphaël!« Baron Truffaldine sitzt immer allein und traurig in der Bar du Soleil. Ich gehe an seinen Tisch und pflanze mich vor ihm auf. Dann erzählt mir der alte Herr endlose Geschichten, deren Heldinnen Cléo de Mérode, Otéro, Émilienne d’Alençon, Liane de Pougy oder Odette de Crécy heißen. Sicher Feen wie in Andersens Märchen.

Die anderen Requisiten, mit denen meine Kindheit angefüllt ist, sind die orangefarbenen Sonnenschirme am Strand, der Pré-Catelan, der Cours Hattemer, David Copperfield, die Comtesse de Ségur, die Wohnung meiner Mutter am Quai Conti und drei Photos von Lipnitzky, auf denen ich neben einem Weihnachtsbaum stehe.

Dann kommen die Schweizer Privatschulen und meine ersten Flirts in Lausanne. Der Duesenberg, den mein venezolanischer Onkel Vidal mir zum achtzehnten Geburtstag geschenkt hat, gleitet in den blauen Abend. Ich fahre durch ein Tor, anschließend durch einen Park, der sanft zum Genfer See abfällt, und stelle meinen Wagen vor die Freitreppe einer erleuchteten Villa. Ein paar junge Mädchen in hellen Kleidern erwarten mich auf dem Rasen. Scott Fitzgerald hat besser, als ich es vermag, von diesen »Partys« erzählt, bei denen die Abenddämmerung zu lieblich ist, zu grell das Gelächter und das Funkeln der Lichter, als dass sie Gutes verheißen könnten. Ich rate Ihnen also, diesen Schriftsteller zu lesen, und Sie werden eine genaue Vorstellung von den Festen meiner Jugend bekommen. Zur Not können Sie auch Fermina Marquez von Larbaud nehmen.

Zwar teilte ich die Vergnügungen meiner kosmopolitischen Freunde aus Lausanne, doch war ich ihnen nicht vollkommen ähnlich. Ich fuhr häufig nach Genf. In der Stille des Hôtel des Bergues las ich die griechischen Bukoliker und bemühte mich, die Äneis elegant zu übersetzen. Bei einem dieser Aufenthalte lernte ich einen jungen Aristokraten aus der Touraine kennen, Jean-François Des Essarts. Wir hatten das gleiche Alter, und seine Bildung verblüffte mich. Gleich bei unserer ersten Begegnung empfahl er mir bunt durcheinander Délie von Maurice Scève, die Komödien von Corneille, die Erinnerungen des Kardinals von Retz. Er machte mich vertraut mit der Anmut und dem Euphemismus der Franzosen.

Ich entdeckte bei ihm kostbare Eigenschaften: Takt, Hochherzigkeit, sehr großes Feingefühl, beißende Ironie. Ich erinnere mich, dass Des Essarts unsere Freundschaft mit jener verglich, die Robert de Saint-Loup und den Erzähler von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit verband. »Sie sind Jude wie der Erzähler«, sagte er zu mir, »und ich bin ein Vetter der Noailles, der Rochechouart-Mortemarts und der La Rochefoucaulds, wie Robert de Saint-Loup. Erschrecken Sie nicht; seit einem...


Edl, Elisabeth
Elisabeth Edl, 1956 geboren, lehrte als Germanistin und Romanistin an der Universität Poitiers und arbeitet heute als Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin in München. Sie wurde u. a. mit dem Celan-Preis, Petrarca-Preis, Voß-Preis, dem Österreichischen Staatspreis und dem Romain Rolland-Preis ausgezeichnet. Sie ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und Chevalier de l'Ordre des Arts et des Lettres der Republik Frankreich.

Modiano, Patrick
Patrick Modiano, 1945 in Boulogne-Billancourt bei Paris geboren, ist einer der bedeutendsten Schriftsteller der Gegenwart. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den großen Romanpreis der Académie française, den Prix Goncourt, den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur und 2014 den Nobelpreis für Literatur. Bei Hanser erschienen zuletzt die Romane Place de l'Étoile (2010), Im Café der verlorenen Jugend (2012), Der Horizont (2013), Gräser der Nacht (2014) und Damit du dich im Viertel nicht verirrst (2015).

Edl, Elisabeth
Elisabeth Edl, 1956 geboren, lehrte als Germanistin und Romanistin an der Universität Poitiers und arbeitet heute als Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin in München. Sie wurde u. a. mit dem Celan-Preis, Petrarca-Preis, Voß-Preis, dem Österreichischen Staatspreis und dem Romain Rolland-Preis ausgezeichnet. Sie ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und Chevalier de l'Ordre des Arts et des Lettres der Republik Frankreich.



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