Modiano | Gräser der Nacht | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

Modiano Gräser der Nacht

Roman
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-446-24849-6
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

ISBN: 978-3-446-24849-6
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Aus der Distanz eines halben Jahrhunderts erinnert sich Jean, wie er sich nach dem Algerienkrieg in die geheimnisvolle Dannie verliebte. Als er sie in den 1960er Jahren kennenlernt, lebt sie in Paris, hat so viele Namen wie Adressen und verkehrt mit einer zwielichtigen Bande, die Kontakte nach Marokko unterhält. Trotz der vage lauernden Gefahr werden der angehende Schriftsteller und die junge Frau ein Paar. Doch dann verschwindet Dannie von einem Tag auf den anderen. Und Jean wird als Zeuge in einem Mordfall verhört, der eine neue Geschichte von Dannie erzählt. Modianos Roman ist wie ein Film noir, voller Spannung, Sehnsucht und Geheimnis.

Patrick Modiano, 1945 in Boulogne-Billancourt bei Paris geboren, ist einer der bedeutendsten Schriftsteller der Gegenwart. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den großen Romanpreis der Académie française, den Prix Goncourt, den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur und 2014 den Nobelpreis für Literatur. Bei Hanser erschienen unter anderem die Romane Place de l'Étoile (2010), Im Café der verlorenen Jugend (2012), Der Horizont (2013), Gräser der Nacht (2014), Damit du dich im Viertel nicht verirrst (2015), der Prosatext Schlafende Erinnerungen (2018), das Theaterstück Unsere Anfänge im Leben (2018) sowie zuletzt die Romane Unsichtbare Tinte (2021) und Unterwegs nach Chevreuse (2022).
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Aber ich habe doch nicht geträumt. Zuweilen ertappe ich mich dabei, dass ich diesen Satz auf der Straße sage, als hörte ich die Stimme eines anderen. Eine tonlose Stimme. Namen kommen mir in den Sinn, bestimmte Gesichter, bestimmte Details. Niemand mehr, mit dem ich darüber reden könnte. Zwei oder drei noch lebende Zeugen müssten sich wohl finden lassen. Doch wahrscheinlich haben sie alles vergessen. Und außerdem fragt man sich irgendwann, ob es wirklich Zeugen gegeben hat.

Nein, ich habe nicht geträumt. Der Beweis, ich besitze noch immer ein schwarzes Buch, angefüllt mit Notizen. In diesem Nebel brauche ich genaue Begriffe, und ich schaue ins Wörterbuch. Notiz: kurze Aufzeichnung, die jemand macht, um sich an etwas zu erinnern. Auf den Seiten des Notizbuchs reihen sich Namen aneinander, Telefonnummern, Termine von Verabredungen und auch kurze Texte, die vielleicht irgendetwas mit Literatur zu tun haben. Aber in welche Kategorie soll ich sie einordnen? Tagebuch? Bruchstücke von Erinnerungen? Und auch Hunderte abgeschriebene Kleinanzeigen, die in Zeitungen gestanden haben. Entlaufene Hunde. Möblierte Wohnungen. Stellengesuche und -angebote. Hellseherinnen.

Unter diesen Unmengen von Notizen haben manche einen stärkeren Nachhall als andere. Vor allem, wenn nichts die Stille beeinträchtigt. Kein Telefongeklingel mehr seit langem. Und niemand wird an die Tür klopfen. Bestimmt glauben sie, ich sei gestorben. Du bist allein, hellwach, als wolltest du Morsezeichen auffangen, die ein unbekannter Korrespondent dir aus weiter Ferne schickt. Natürlich, viele Zeichen sind gestört, und auch wenn du die Ohren spitzt, gehen sie für immer verloren. Doch ein paar Namen lösen sich ganz deutlich aus der Stille und von der weißen Seite …

Dannie, Paul Chastagnier, Aghamouri, Duwelz, Gérard Marciano, »Georges«, das Unic Hôtel in der Rue du Montparnasse … Wenn ich mich recht erinnere, war ich in diesem Viertel immer auf der Hut. Unlängst bin ich dort zufällig durchgelaufen. Ich habe ein seltsames Gefühl verspürt. Nicht, dass die Zeit vergangen war, sondern dass ein anderes Ich, ein Zwilling, sich in dieser Gegend herumtrieb, ohne gealtert zu sein, und in den kleinsten Einzelheiten und bis ans Ende aller Zeiten weitererlebte, was ich hier erlebt hatte, während einer sehr kurzen Frist.

Woher kam das Unbehagen, das ich einst empfunden hatte? Lag es an diesen paar Straßen im Schatten einer Bahnstation und eines Friedhofs? Plötzlich wirkten sie harmlos. Die Fassaden hatten eine andere Farbe. Viel heller. Nichts Besonderes. Eine neutrale Zone. Konnte es wirklich sein, dass ein Doppelgänger, den ich hier zurückgelassen hatte, immer weiter jede meiner alten Bewegungen wiederholte, meine alten Wege ging bis in alle Ewigkeit? Nein, hier war nichts mehr von uns übrig. Die Zeit hatte Tabula rasa gemacht. Das Viertel war neu, saniert, so als hätte man es an der Stelle eines baufälligen Wohnblocks errichtet. Und selbst wenn die meisten Häuser dieselben waren, so hatte man doch den Eindruck, vor einem ausgestopften Hund zu stehen, einem Hund, der dir früher einmal gehörte und den du geliebt hast, als er noch lebte.

An jenem Sonntagnachmittag versuchte ich mich während meines Spaziergangs zu erinnern, was in dem schwarzen Notizbuch stand, das ich leider nicht bei mir trug. Uhrzeiten von Verabredungen mit Dannie. Die Telefonnummer des Unic Hôtel. Die Namen der Leute, denen ich dort begegnet bin. Chastagnier, Duwelz, Gérard Marciano. Die Telefonnummer von Aghamouri im marokkanischen Pavillon der Cité universitaire. Kurze Beschreibungen verschiedener Winkel dieses Viertels, die ich »L’arrière-Montparnasse«, das Hinterland von Montparnasse, nennen wollte; dreißig Jahre später musste ich entdecken, dass der Titel bereits von einem gewissen Oser Warszawski verwendet worden war.

An einem späten Sonntagnachmittag im Oktober hatten meine Schritte mich also in jene Zone geführt, der ich an einem anderen Wochentag ausgewichen wäre. Nein, es handelte sich wirklich nicht um irgendeine Wallfahrt. Aber Sonntage, vor allem spätnachmittags, und wenn du allein bist, reißen eine Bresche in die Zeit. Du musst bloß durchschlüpfen. Ein ausgestopfter Hund, den du geliebt hast, als er noch lebte. In dem Augenblick, da ich an dem großen schmutzigweiß-beigen Haus der Rue d’Odessa Nr. 11 vorbeikam – ich ging auf dem Trottoir gegenüber, dem rechten –, habe ich so etwas wie ein Klicken gespürt, jenen leisen Schwindel, der einen jedesmal erfasst, wenn eine Bresche in die Zeit gerissen wird. Ich blieb stehen und starrte auf die Fassaden des Häuserblocks, die den kleinen Hof umrahmten. Hier hatte Paul Chastagnier immer seinen Wagen geparkt, obwohl er damals ein Zimmer in der Rue du Montparnasse bewohnte, im Unic Hôtel. Eines Abends hatte ich ihn gefragt, warum er diesen Wagen nicht vor dem Hotel lasse. Er hatte verlegen gelächelt und mit einem Schulterzucken erwidert: »Aus Vorsicht …«

Ein roter Lancia. Der konnte nur allzu leicht Blicke auf sich ziehen. Aber wenn er unsichtbar sein wollte, warum hatte er sich dann für eine solche Automarke entschieden und für eine solche Farbe … Darauf hatte er mir erklärt, ein Freund wohne in diesem Haus der Rue d’Odessa und er leihe ihm oft seinen Wagen. Ja, deshalb war er hier geparkt.

»Aus Vorsicht«, sagte er. Ich hatte schnell gemerkt, dass dieser Mann um die Vierzig, dunkler Typ, immer gepflegt, in grauen Anzügen und marineblauen Mänteln, keinem festen Beruf nachging. Ich hörte ihn im Unic Hôtel telefonieren, aber die Wand war zu dick, als dass ich dem Gespräch hätte folgen können. Nur die Stimme drang zu mir, tief, manchmal schneidend. Immer wieder langes Schweigen. Diesen Chastagnier hatte ich im Unic Hôtel kennengelernt, zugleich mit ein paar anderen Leuten, denen ich im selben Etablissement begegnet war: Gérard Marciano, Duwelz, dessen Vornamen ich vergessen habe … Ihre Gestalten sind mit der Zeit unscharf geworden, ihre Stimmen kaum hörbar. Paul Chastagnier sticht deutlicher hervor, wegen der Farben: pechschwarzes Haar, marineblauer Mantel, roter Wagen. Ich vermute, er hat ein paar Jahre im Gefängnis gesessen wie Duwelz, wie Marciano. Er war der älteste, und bestimmt ist er seither gestorben. Er stand immer spät auf und hatte seine Verabredungen weiter weg, irgendwo im Süden, diesem Hinterland um den ehemaligen Güterbahnhof, dessen Namen und Orte auch mir vertraut waren: Falguière, Alleray, und sogar noch ein Stück weiter, bis zur Rue des Favorites … Öde Cafés, in die er mich zuweilen mitnahm, wahrscheinlich, weil er dachte, hier würde niemand auf ihn aufmerksam. Ich habe nie gewagt, ihn zu fragen, ob er mit einem Aufenthaltsverbot belegt war, obwohl mir der Gedanke oft durch den Kopf ging. Aber warum parkte er den roten Wagen dann vor diesen Cafés? Wäre es nicht klüger gewesen, zu Fuß hinzugehen, ganz unauffällig? Ich dagegen streifte damals ständig durch dieses Viertel, das nach und nach zerstört wurde, an Brachen entlang, kleinen Mietshäusern mit zugemauerten Fenstern, Straßenstücken zwischen Schutthaufen, wie nach einem Bombenangriff. Und dieser rote Wagen, der hier parkte, sein Ledergeruch, dieser grelle Fleck, durch den die Erinnerungen zurückkommen … Die Erinnerungen? Nein. An jenem Sonntagabend war ich schon fast überzeugt, dass die Zeit sich nicht bewegt und dass, würde ich wirklich durch die Bresche schlüpfen, ich alles wiederfände, unversehrt. Und zuallererst diesen roten Wagen. Ich beschloss bis zur Rue Vandamme zu gehen. Dort war ein Café, in das mich Paul Chastagnier mitgeschleppt hatte und wo unser Gespräch persönlicher geworden war. Ich hatte sogar gespürt, dass er nahe dran war, vertraulich zu werden. Er hatte mir andeutungsweise vorgeschlagen, ich sollte für ihn »arbeiten«. Ich hatte ausweichend geantwortet. Er hatte nicht insistiert. Ich war sehr jung, aber sehr misstrauisch. Später hab ich dieses Café mit Dannie wieder aufgesucht.

An jenem Sonntag war es schon beinahe dunkel, als ich in der Avenue du Maine angelangt bin, und ich ging an den großen neuen Häusern entlang, auf der Seite mit den geraden Nummern. Sie bildeten eine gleichförmige Fassade. Kein einziges Licht in den Fenstern. Nein, ich hatte nicht geträumt. Die Rue Vandamme mündete ungefähr auf dieser Höhe in die Avenue, doch an jenem Abend waren die Fassaden glatt, kompakt, ohne die kleinste Lücke. Ich musste wohl oder übel einsehen: die Rue Vandamme existierte nicht mehr.

Ich bin durch die Glastür eines dieser Häuser getreten, ungefähr da, wo wir früher in die Rue Vandamme einbogen. Neonlicht. Ein langer, breiter Flur, gesäumt von gläsernen Wänden, hinter denen ein Büro auf das andere folgte. Vielleicht war ein Stück der Rue Vandamme noch irgendwo vorhanden, eingeschlossen von der Masse der neuen Gebäude. Dieser Gedanke löste bei mir ein nervöses Lachen aus. Ich ging immer weiter durch den Flur mit den Glastüren. Ich sah kein Ende und musste blinzeln, wegen des Neonlichts. Ich habe mir gedacht, dieser Flur folge ganz einfach dem alten Verlauf der Rue Vandamme. Ich schloss die Augen. Das Café lag am Ende der Straße, in ihrer Verlängerung eine Sackgasse, die an die Mauer der Eisenbahnwerkstätten stieß. Paul Chastagnier parkte seinen roten Wagen in der Sackgasse, vor der schwarzen Mauer. Ein Hotel über dem Café, das Hôtel Perceval, wegen einer Straße dieses Namens, auch sie ausgelöscht unter den neuen Gebäuden. Ich hatte alles in dem schwarzen Notizbuch festgehalten.

Gegen Ende fühlte sich Dannie nicht mehr besonders wohl im Unic – wie Chastagnier zu sagen pflegte –, und sie hatte sich ein Zimmer in diesem Hôtel Perceval genommen. Fortan wollte sie den anderen aus dem Weg gehen, ohne dass ich gewusst hätte, wem im...


Modiano, Patrick
Patrick Modiano, 1945 in Boulogne-Billancourt bei Paris geboren, ist einer der bedeutendsten Schriftsteller der Gegenwart. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den großen Romanpreis der Académie française, den Prix Goncourt, den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur und 2014 den Nobelpreis für Literatur. Bei Hanser erschienen zuletzt die Romane Place de l'Étoile (2010), Im Café der verlorenen Jugend (2012), Der Horizont (2013), Gräser der Nacht (2014) und Damit du dich im Viertel nicht verirrst (2015).

Edl, Elisabeth
Elisabeth Edl, 1956 geboren, lehrte als Germanistin und Romanistin an der Universität Poitiers und arbeitet heute als Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin in München. Sie wurde u. a. mit dem Celan-Preis, Petrarca-Preis, Voß-Preis, dem Österreichischen Staatspreis und dem Romain Rolland-Preis ausgezeichnet. Sie ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und Chevalier de l'Ordre des Arts et des Lettres der Republik Frankreich.

Patrick Modiano, 1945 geboren, ist einer der bedeutendsten französischen Schriftsteller der Gegenwart. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den Prix Goncourt, den österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur und 2014 den Literaturnobelpreis. Zuletzt erschienen bei Hanser die Romane Place de l’Étoile (2010), Im Café der verlorenen Jugend (2012) und Der Horizont (2013). Elisabeth Edl, 1956 geboren, lehrte an der Universität Poitiers. Für ihre Übersetzungen französischer Literatur, u.a. Gustave Flaubert, Julien Green, Philippe Jaccottet, Stendhal und Simone Weil, wurde sie vielfach ausgezeichnet.



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