E-Book, Deutsch, 128 Seiten
Modiano Ein Stammbaum
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-446-24881-6
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 128 Seiten
ISBN: 978-3-446-24881-6
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
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Patrick Modiano, 1945 in Boulogne-Billancourt bei Paris geboren, ist einer der bedeutendsten Schriftsteller der Gegenwart. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den großen Romanpreis der Académie française, den Prix Goncourt, den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur und 2014 den Nobelpreis für Literatur. Bei Hanser erschienen unter anderem die Romane Place de l'Étoile (2010), Im Café der verlorenen Jugend (2012), Der Horizont (2013), Gräser der Nacht (2014), Damit du dich im Viertel nicht verirrst (2015), der Prosatext Schlafende Erinnerungen (2018), das Theaterstück Unsere Anfänge im Leben (2018) sowie zuletzt die Romane Unsichtbare Tinte (2021) und Unterwegs nach Chevreuse (2022).
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Ich wurde am 30. Juli 1945 geboren, in Boulogne-Billancourt, Allée Marguerite Nr. 11, als Kind eines Juden und einer Flämin, die sich im Paris der Okkupationszeit kennengelernt hatten. Ich schreibe Jude, ohne zu wissen, was das Wort für meinen Vater wirklich bedeutete, und weil es damals in den Personalausweisen vermerkt war. Bewegte Zeiten führen oft riskante Begegnungen herbei, so daß ich mich niemals als legitimer Sohn gefühlt habe und noch weniger als Erbe.
Meine Mutter wurde 1918 in Antwerpen geboren. Sie hat ihre Kindheit in einem Vorort dieser Stadt verbracht, zwischen Kiel und Hoboken. Ihr Vater war Arbeiter, später Landvermessergehilfe. Ihr Großvater mütterlicherseits, Louis Bogaerts, Docker. Er hat für die Statue des Dockers von Constantin Meunier, die vor dem Rathaus von Antwerpen zu sehen ist, Modell gestanden. Ich habe sein loonboek aus dem Jahr 1913 aufbewahrt, in dem er alle Schiffe verzeichnete, die er entlud: die Michigan, die Elisabethville, die Santa Anna... Er ist bei der Arbeit ums Leben gekommen, mit etwa fünfundsechzig Jahren, durch einen Sturz.
Als junges Mädchen ist meine Mutter Mitglied der Roten Falken. Sie arbeitet bei der Gasgesellschaft. Abends nimmt sie Schauspielunterricht. 1938 wird sie von dem Filmemacher und Produzenten Jan Vanderheyden engagiert, um in seinen flämischen »Komödien« mitzuspielen. Vier Filme zwischen 1938 und 1941. Sie wurde Revuegirl in Varietétheatern in Antwerpen und Brüssel, unter den Tänzerinnen und Künstlern waren viele Flüchtlinge aus Deutschland. In Antwerpen teilt sie sich mit zwei Freunden ein kleines Haus an der Horenstraat: mit einem Tänzer, Joppie Van Allen, und mit Leon Lemmens, der mehr oder weniger Sekretär und Zutreiber eines reichen Homosexuellen ist, des Barons Jean L., und während eines Bombardements in Ostende im Mai 1940 umkommt. Ihr bester Freund ist ein junger Dekorateur, Lon Landau, den sie 1942 in Brüssel wiedersehen wird, mit gelbem Stern.
Da mir andere Orientierungspunkte fehlen, versuche ich mich an die Chronologie zu halten. 1940, nach der Besetzung Belgiens, lebt sie in Brüssel. Sie ist mit einem gewissen Georges Niels verlobt, der im Alter von zwanzig Jahren ein Hotel leitet, das Canterbury. Ein Teil des Hotelrestaurants ist von den Offizieren der Propaganda-Staffel requiriert. Meine Mutter wohnt im Canterbury und begegnet dort den verschiedensten Leuten. Von all diesen Leuten weiß ich nichts. Sie arbeitet beim Radio, für das flämische Programm. Sie bekommt ein Engagement im Theater von Gent. Sie nimmt im Juni 1940 an einer Tournee durch die Häfen am Atlantik und am Ärmelkanal teil, um vor den flämischen Arbeitern der Organisation Todt zu spielen, und weiter im Norden, in Hazebrouck, vor deutschen Fliegern.
Sie war ein hübsches Mädchen mit einem harten Herzen. Ihr Verlobter hatte ihr einen Chow-Chow geschenkt, aber sie kümmerte sich nicht um ihn und überließ ihn anderen Leuten, wie sie es später auch mit mir tat. Der Chow-Chow hat sich umgebracht, indem er aus dem Fenster sprang. Dieser Hund ist auf zwei oder drei Photos zu sehen, und ich muß zugeben, daß er mich unendlich rührt und daß ich mich ihm sehr nahe fühle.
Die Eltern von Georges Niels, reiche Hoteliers aus Brüssel, wollen nicht, daß sie ihren Sohn heiratet. Sie beschließt, Belgien zu verlassen. Die Deutschen wollen sie in eine Filmschule nach Berlin schicken, doch ein junger Offizier der Propaganda-Staffel, den sie im Hôtel Canterbury kennengelernt hat, hilft ihr, den Kopf aus dieser Schlinge zu ziehen, und schickt sie nach Paris, in die Produktionsfirma Continental, die von Alfred Greven geleitet wird.
Im Juni 1942 kommt sie nach Paris. Greven läßt sie in den Studios von Billancourt vorsprechen, aber die Probe ist nicht überzeugend. Sie arbeitet in der Abteilung »Synchronisation« der Continental, schreibt niederländische Untertitel für die französischen Filme, die von dieser Gesellschaft produziert werden. Sie ist die Freundin von Aurel Bischoff, einem der Stellvertreter Grevens.
In Paris bewohnt sie ein Zimmer am Quai de Conti Nr. 15, in der Wohnung, die ein Antiquitätenhändler aus Brüssel und sein Freund Jean de B. gemietet haben, den ich mir als Jüngling vorstelle, mit einer Mutter und Schwestern in einem Schloß im tiefsten Poitou, und heimlich leidenschaftliche Briefe an Cocteau schreibend. Über Jean de B. lernt meine Mutter einen jungen Deutschen kennen, Klaus Valentiner, der einen Druckposten in einer Verwaltungsbehörde hat. Er bewohnt ein Atelier am Quai Voltaire und liest in seinen Mußestunden die letzten Romane von Evelyn Waugh. Später wurde er an die russische Front geschickt, wo er starb.
Andere Gäste in der Wohnung am Quai de Conti: ein junger Russe, Georges d’Ismaïloff, der an Tuberkulose litt, aber in den eiskalten Wintern der Okkupationszeit immer ohne Mantel aus dem Haus ging. Ein Grieche, Christos Bellos. Er hatte das letzte Passagierschiff nach Amerika verpaßt, wo er einen Freund treffen sollte. Ein Mädchen im selben Alter, Geneviève Vaudoyer. Von ihnen sind nur die Namen übriggeblieben. Die erste bürgerliche und französische Familie, in die meine Mutter eingeladen wird: die Familie von Geneviève Vaudoyer und ihrem Vater Jean-Louis Vaudoyer. Geneviève Vaudoyer machte meine Mutter mit Arletty bekannt, die am Quai de Conti im Nachbarhaus der Nr. 15 wohnt. Arletty nimmt meine Mutter unter ihre Fittiche.
Man möge mir all diese Namen nachsehen und andere, die noch folgen werden. Ich bin ein Hund, der so tut, als habe er einen Stammbaum. Meine Mutter und mein Vater gehören zu keinem bestimmten Milieu. So wackelig, so ungewiß sind sie, daß ich mich bemühen muß, ein paar Spuren und Markierungen in diesem Treibsand zu finden, so wie man sich bemüht, mittels halb verwischter Briefe ein Formular zum Personenstand oder einen amtlichen Fragebogen auszufüllen.
Mein Vater wurde 1912 in Paris geboren, am Square Pétrelle, wo das 9. in das 10. Arrondissement übergeht. Sein Vater stammte aus Saloniki und gehörte zu einer jüdischen Familie aus der Toskana, die im ottomanischen Reich ansässig geworden war. Cousins in London, in Alexandria, in Mailand, in Budapest. Vier Cousins meines Vaters, Carlo, Grazia, Giacomo und seine Frau Mary, wurden in Italien von SS-Leuten ermordet, in Arona am Lago Maggiore, im September 1943. Mein Großvater hat Saloniki in seiner Kindheit verlassen und kam nach Alexandria. Doch ein paar Jahre später ging er nach Venezuela. Ich glaube, er hatte mit seiner Herkunft und seiner Familie gebrochen. Er hat sich für den Perlenhandel auf der Insel Margarita interessiert, dann einen Basar in Caracas geleitet. Nach Venezuela hat er sich 1903 in Paris niedergelassen. Er führte einen Antiquitätenladen in der Rue de Châteaudun Nr. 5, wo er Kunstgegenstände aus China und Japan verkaufte. Er besaß einen spanischen Paß, und bis zu seinem Tod war er im spanischen Konsulat in Paris gemeldet, während seine Vorfahren unter dem Schutz der Konsulate Frankreichs, Englands, später Österreichs standen, als »Bürger der Toskana«. Ich habe einige seiner Reisepässe aufbewahrt, einer davon ausgestellt im spanischen Konsulat in Alexandria. Und einen Schein, ausgefertigt in Caracas, der bestätigt, daß er Mitglied des Tierschutzvereins war. Meine Großmutter wurde im Pas-de-Calais geboren. Ihr Vater wohnte 1916 in einem Vorort von Nottingham. Aber nach ihrer Heirat nahm sie die spanische Staatsbürgerschaft an.
Mein Vater hat seinen Vater mit vier Jahren verloren. Kindheit im 10. Arrondissement, Cité d’Hauteville. Collège Chaptal, wo er im Internat war, auch an Samstagen und Sonntagen, sagte er mir. Und im Schlafsaal hörte er die Musik vom Jahrmarkt auf dem Grünstreifen des Boulevard des Batignolles. Er macht kein Abitur. Als Halbwüchsiger und in seiner Jugend ist er sich selbst überlassen. Schon mit sechzehn besucht er mit seinen Freunden regelmäßig das Hôtel Bohy-Lafayette, die Bars am Faubourg Montmartre, das Cadet, den Luna Park. Sein Vorname ist Alberto, doch alle rufen ihn Aldo. Mit achtzehn treibt er Schleichhandel mit Benzin, schmuggelt es durch den Pariser Stadtzoll. Mit neunzehn bittet er einen Direktor der Banque Saint-Phalle mit solcher Überzeugungskraft, ihn bei »Finanzgeschäften« zu unterstützen, daß dieser ihm sein Vertrauen schenkt. Aber die Sache geht schief, denn mein Vater ist minderjährig, und die Justiz schaltet sich ein. Mit vierundzwanzig mietet er ein Zimmer in der Avenue Montaigne Nr. 33, und verschiedenen Unterlagen zufolge, die ich behalten habe, reist er häufig nach London, wo er am Aufbau einer Gesellschaft, der Bravisco Ltd., beteiligt ist. Seine Mutter stirbt 1937 in einer Familienpension in der Rue Roquépine, wo er eine Zeitlang mit seinem Bruder Ralph logiert hatte. Dann hatte er ein Zimmer im Hôtel Terminus unweit der Gare Saint-Lazare bewohnt, aus dem er ausgezogen war, ohne die Rechnung zu bezahlen. Kurz vor dem Krieg nahm er einen Strumpf- und Parfümladen in Pacht, Boulevard Malesherbes Nr. 71. Damals soll er in der Rue Frédéric-Bastiat (8. Arrondissement) gewohnt haben.
Und der Krieg bricht aus, als er keinerlei materielle Grundlage hat und sich bereits irgendwie durchschlägt. 1940 ließ er sich seine Post ins Hôtel Victor-Emmanuel III schicken, Rue de Ponthieu Nr. 24. In einem Brief von 1940 an seinen Bruder...