Modiano | Dora Bruder | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 152 Seiten

Modiano Dora Bruder

Roman
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-446-24877-9
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 152 Seiten

ISBN: 978-3-446-24877-9
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wer war Dora Bruder? Eine Zeitungsanzeige im Paris Soir vom 31. Dezember 1941 läßt Patrick Modiano nicht mehr los: »Gesucht wird ein junges Mädchen, Dora Bruder, 15 Jahre, ovales Gesicht, graubraune Augen... « Seit diesem Tag folgt er den Spuren der jungen Jüdin im Paris während der deutschen Besatzung. Von der Flucht aus einem katholischen Mädchenpensionat, über ihre Verhaftung und Deportation nach Drancy bis nach Auschwitz, rekonstruiert Modiano ein zerstörtes Leben. »In seiner moralischen und künstlerischen Eindringlichkeit ist Dora Bruder nicht nur große Literatur, sondern auch ein wichtiges Buch, eine Parabel gegen den Terror damals wie heute.« Günther Freitag, DER STANDARD

Patrick Modiano, 1945 in Boulogne-Billancourt bei Paris geboren, ist einer der bedeutendsten Schriftsteller der Gegenwart. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den großen Romanpreis der Académie française, den Prix Goncourt, den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur und 2014 den Nobelpreis für Literatur. Bei Hanser erschienen unter anderem die Romane Place de l'Étoile (2010), Im Café der verlorenen Jugend (2012), Der Horizont (2013), Gräser der Nacht (2014), Damit du dich im Viertel nicht verirrst (2015), der Prosatext Schlafende Erinnerungen (2018), das Theaterstück Unsere Anfänge im Leben (2018) sowie zuletzt die Romane Unsichtbare Tinte (2021) und Unterwegs nach Chevreuse (2022).
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Es dauert lange, bis das, was ausgelöscht worden ist, wieder ans Licht kommt. Spuren bestehen noch in Registern fort, und man weiß nicht, wo sie versteckt sind und welche Hüter über sie wachen und ob diese bereit sein werden, sie einem zu zeigen. Oder vielleicht haben die Hüter ganz einfach vergessen, daß es diese Register einmal gab.

Es genügt ein wenig Geduld.

So habe ich schließlich herausgefunden, daß Dora Bruder und ihre Eltern schon in den Jahren 1937 und 1938 im Hotel am Boulevard Ornano lebten. Sie bewohnten ein Zimmer mit Küche im fünften Stock, dort, wo ein eisernes Balkongeländer um die beiden Häuser herumführt. Etwa zehn Fenster, in diesem fünften Stockwerk. Zwei oder drei gehen auf den Boulevard und die anderen auf das Ende der Rue Hermel und hinten auf die Rue du Simplon.

An jenem Tag im Mai 1996, als ich wieder in dieses Viertel kam, waren die rostigen Läden der ersten zwei Fenster im fünften Stock, die auf die Rue du Simplon gingen, geschlossen, und auf dem Balkon vor diesen Fenstern habe ich einen ganzen Haufen bunt zusammengewürfelter Gegenstände bemerkt, die aussahen, als seien sie schon vor langer Zeit hier zurückgelassen worden.

Während der zwei oder drei Jahre, die dem Krieg vorausgegangen sind, muß Dora Bruder eine der städtischen Schulen des Viertels besucht haben. Ich habe dem Direktor jeder einzelnen Schule einen Brief geschrieben und ihn gefragt, ob er ihren Namen in den Registern finden könne:

8 Rue Ferdinand-Flocon

20 Rue Hermel

7 Rue Championnet

61 Rue de Clignancourt.

Sie haben mir freundlich geantwortet. Keiner hatte diesen Namen in der Schülerliste der Vorkriegsklassen wiedergefunden. Aber wenigstens hat mir der Direktor der ehemaligen Mädchenschule in der Rue Championnet Nr. 69 angeboten, ich könne vorbeikommen und die Register selbst durchsehen. Eines Tages werde ich hingehen. Doch ich zögere. Ich möchte weiter hoffen, daß ihr Name dort aufgeführt ist. Diese Schule lag ihrem Wohnsitz am nächsten.

Ich habe vier Jahre gebraucht, um ihr genaues Geburtsdatum ausfindig zu machen: der 25. Februar 1926. Und zwei weitere Jahre waren notwendig, um den Ort dieser Geburt zu erfahren: Paris, zwölftes Arrondissement. Doch ich bin geduldig. Ich kann stundenlang im Regen warten.

An einem Freitagnachmittag im Februar 1996 bin ich ins Rathaus des zwölften Arrondissements gegangen, Abteilung Standesamt. Der Beamte in dieser Abteilung – ein junger Mann – reichte mir ein Formular, das ich ausfüllen sollte:

»Bei Ersuchen um Auskunft am Schalter sind anzugeben:

Name

Vorname

Adresse

Ich bitte um das vollständige Duplikat der Geburtsurkunde von:

Name BRUDER Vorname DORA

Geburtsdatum 25. Februar 1926.

Sie sind (Zutreffendes bitte ankreuzen):

Der/die um Auskunft ersuchende Betroffene

Vater oder Mutter

Großvater oder Großmutter

Sohn oder Tochter

Ehegatte oder Ehegattin

Der gesetzliche Vertreter

Sie verfügen über eine Vollmacht sowie einen Personalausweis des/der Betroffenen

Duplikate von Geburtsurkunden werden ausschließlich diesen Personen ausgefertigt.«

Ich habe das Formular unterschrieben und es ihm hingestreckt. Nach einem Blick darauf sagte er, daß er mir kein vollständiges Duplikat der Geburtsurkunde geben könne: Es bestünde kein Verwandtschaftsverhältnis zwischen dieser Person und mir.

Einen Augenblick lang dachte ich, er sei eine jener Schildwachen des Vergessens, die den Auftrag haben, ein schändliches Geheimnis zu wahren und sich allen entgegenzustellen, die auch nur die kleinste Spur vom Leben einer bestimmten Person wiederzufinden hofften. Aber er sah gutmütig aus. Er gab mir den Rat, im Justizpalast, 2 Boulevard du Palais, dritte standesamtliche Abteilung, fünfter Stock, Treppe 5, Büro 501, um eine Sondergenehmigung anzusuchen. Von Montag bis Freitag, 14 bis 16 Uhr.

Am Boulevard du Palais Nr. 2 wollte ich gerade den Weg durch die hohen Gitter und den Haupthof einschlagen, als mich ein Wachtposten auf einen anderen Eingang etwas weiter unten verwies: jener, der zur Sainte-Chapelle führt. Eine Schlange von Touristen wartete zwischen den Absperrungen, und ich wollte geradewegs unter dem Eingangsportal hindurchgehen, doch ein zweiter Wachtposten bedeutete mir mit einer groben Geste, mich hinter den anderen in die Schlange zu stellen.

Am Ende eines Flurs verlangten die Vorschriften, daß man alle Metallgegenstände aus den Taschen nahm. Ich hatte nur einen Schlüsselbund bei mir. Ich sollte ihn auf eine Art Fließband legen und auf der anderen Seite einer Glasscheibe wieder an mich nehmen, doch im ersten Augenblick begriff ich einfach nicht, was man von mir wollte. Weil ich zögerte, bin ich von einem weiteren Wachtposten ein wenig angeschnauzt worden. War er ein Gendarm? Ein Polizist? Mußte ich ihm, wie beim Eintritt in ein Gefängnis, auch meine Schnürsenkel, meinen Gürtel, meine Brieftasche geben?

Ich habe einen Hof durchquert, bin in einen Korridor eingebogen, bin in eine sehr weitläufige Halle gekommen, wo Männer und Frauen umhergingen, die schwarze Aktentaschen in der Hand hielten und von denen einige Anwaltsroben trugen. Ich wagte nicht, sie zu fragen, wie man zur Treppe 5 gelangte.

Ein Aufseher, der hinter einem Tisch saß, verwies mich an das äußerste Ende der Halle. Und dort betrat ich einen menschenleeren Saal, dessen vorspringende Fenster ein gräuliches Licht einfallen ließen. Sooft ich in diesem Saal auch auf und ab ging, die Treppe 5 fand ich nicht. Ich wurde von jener panischen Angst und jenem Schwindelgefühl gepackt, die man in bösen Träumen verspürt, wenn es einem nicht gelingt, den Bahnhof zu erreichen, und wenn die Zeit verrinnt und man den Zug versäumen wird.

Etwas Ähnliches hatte ich zwanzig Jahre zuvor erlebt. Ich hatte erfahren, daß mein Vater im Krankenhaus Pitié-Salpêtrière lag. Seit dem Ende meiner Jugendzeit war ich ihm nicht mehr begegnet. Und da hatte ich den Entschluß gefaßt, ihn überraschend zu besuchen.

Ich erinnere mich, daß ich stundenlang durch die unendliche Weite dieses Krankenhauses geirrt bin, auf der Suche nach ihm. Ich betrat uralte Gebäude, Gemeinschaftssäle, in denen sich die Betten aneinanderreihten, ich befragte Krankenschwestern, die mir widersprüchliche Auskünfte gaben. Am Ende zweifelte ich an der Existenz meines Vaters, während ich immer wieder an jener majestätischen Kirche und jenen irrealen Gebäudetrakten vorüberging, die seit dem achtzehnten Jahrhundert unversehrt dastanden und mir Manon Lescaut und die Zeit ins Gedächtnis riefen, als dieser Ort ein Gefängnis für leichte Mädchen war, unter dem sinisteren Namen Hôpital Général, bevor man sie nach Louisiana deportierte. Ich bin in den gepflasterten Höfen auf und ab gegangen, bis es dunkel wurde. Unmöglich, meinen Vater zu finden. Ich habe ihn nie wiedergesehen.

Aber die Treppe 5 habe ich schließlich doch entdeckt. Ich stieg die Stockwerke hinauf. Eine Reihe von Büros. Jemand zeigte mir das mit der Nummer 501. Eine Frau mit kurzem Haar und gleichgültiger Miene fragte mich, was ich wolle.

In schroffem Tonfall erklärte sie mir, um diesen Auszug aus dem Geburtsregister zu bekommen, müsse ich an den Procureur de la République schreiben, Parquet de grande instance de Paris, 14 Quai des Orfèvres, dritte Abteilung B.

Nach drei Wochen erhielt ich eine Antwort.

»Am fünfundzwanzigsten Februar eintausendneunhundertsechsundzwanzig, um einundzwanzig Uhr zehn, wurde in der Rue Santerre Nr. 15 Dora, weiblichen Geschlechts, geboren. Eltern: Ernest Bruder, geboren in Wien (Österreich), am einundzwanzigsten Mai eintausendachthundertneunundneunzig, Hilfsarbeiter, und seine Ehefrau Cécile Burdej, geboren in Budapest (Ungarn), am siebzehnten April eintausendneunhundertsieben, ohne Beruf, beide wohnhaft in Sevran (Seine-et-Oise), Avenue Liégeard Nr. 2. Ausgefertigt am siebenundzwanzigsten Februar eintausendneunhundertsechsundzwanzig, um fünfzehn Uhr dreißig, gemäß der Erklärung von Gaspard Meyer, dreiundsiebzig Jahre, beschäftigt und wohnhaft in der Rue de Picpus Nr. 76, welcher bei der Geburt zugegen war und nach der Verlesung in unserem Beisein unterzeichnet hat, Auguste Guillaume Rosi, stellvertretender Bürgermeister des zwölften Arrondissements von Paris.«

Die Nummer 15 in der Rue Santerre ist die Adresse des Hôpital Rothschild. In der Entbindungsstation dieses Krankenhauses wurden zur selben Zeit wie Dora zahlreiche Kinder armer jüdischer Familien geboren, die erst vor kurzem nach Frankreich eingewandert waren. Anscheinend konnte Ernest Bruder seinen Arbeitsplatz nicht verlassen, um selbst die Geburt seiner Tochter an jenem 25. Februar 1926 im Rathaus des zwölften Arrondissements anzumelden. Vielleicht würde man in einem Register weitere Angaben zu Gaspard Meyer finden, der die Geburtsurkunde unterzeichnet hat. Die Nummer 76 in der Rue de Picpus, wo er »beschäftigt und wohnhaft« gewesen ist, war die Adresse des Hospice de Rothschild, eingerichtet für Alte und Notleidende.

In jenem Winter 1926 verlieren sich die Spuren von Dora...


Edl, Elisabeth
Elisabeth Edl, 1956 geboren, lehrte als Germanistin und Romanistin an der Universität Poitiers und arbeitet heute als Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin in München. Sie wurde u. a. mit dem Celan-Preis, Petrarca-Preis, Voß-Preis, dem Österreichischen Staatspreis und dem Romain Rolland-Preis ausgezeichnet. Sie ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und Chevalier de l'Ordre des Arts et des Lettres der Republik Frankreich.

Modiano, Patrick
Patrick Modiano, 1945 in Boulogne-Billancourt bei Paris geboren, ist einer der bedeutendsten Schriftsteller der Gegenwart. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den großen Romanpreis der Académie française, den Prix Goncourt, den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur und 2014 den Nobelpreis für Literatur. Bei Hanser erschienen zuletzt die Romane Place de l'Étoile (2010), Im Café der verlorenen Jugend (2012), Der Horizont (2013), Gräser der Nacht (2014) und Damit du dich im Viertel nicht verirrst (2015).



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