Modiano | Die Kleine Bijou | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 152 Seiten

Modiano Die Kleine Bijou

Roman
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-446-24876-2
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 152 Seiten

ISBN: 978-3-446-24876-2
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die neunzehnjährige Thérèse sieht in der Metrostation eine Frau und glaubt, ihre Mutter wiederzuerkennen. Während sie ihr folgt, kehren die Erinnerungen zurück: an die Kindheit, in der man sie 'Die kleine Bijou' nannte, an die Mutter, eine gescheiterte Ballerina, an die Wohnung am Bois de Boulogne und an die Männer, die dort ein und aus gingen. Und daran, dass die Mutter ihre kleine Tochter verließ und nach Marokko ging. Wie in einem unheimlichen Traum jagt Thérèse der Gestalt hinterher und wird dabei selbst von den Bildern der Vergangenheit gejagt.

Patrick Modiano, 1945 in Boulogne-Billancourt bei Paris geboren, ist einer der bedeutendsten Schriftsteller der Gegenwart. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den großen Romanpreis der Académie française, den Prix Goncourt, den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur und 2014 den Nobelpreis für Literatur. Bei Hanser erschienen unter anderem die Romane Place de l'Étoile (2010), Im Café der verlorenen Jugend (2012), Der Horizont (2013), Gräser der Nacht (2014), Damit du dich im Viertel nicht verirrst (2015), der Prosatext Schlafende Erinnerungen (2018), das Theaterstück Unsere Anfänge im Leben (2018) sowie zuletzt die Romane Unsichtbare Tinte (2021) und Unterwegs nach Chevreuse (2022).
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Ein Dutzend Jahre waren vergangen, seit man mich nicht mehr »Die Kleine Bijou« nannte, und ich fand mich im Vorabendgedränge an der Metrostation Châtelet. Ich bewegte mich mit der Menschenmasse auf dem Laufband in dem endlosen Korridor. Eine Frau trug einen gelben Mantel. Dessen Farbe hatte meine Aufmerksamkeit erregt. Ich sah sie auf dem Laufband von hinten. Sie ging dann in dem Korridor mit der Richtungsangabe »Château de Vincennes« weiter. Wir standen jetzt im Gedränge auf der Treppe und warteten, ohne uns zu bewegen, auf das Sichöffnen der automatischen Tür; die Frau stand neben mir. Und ich sah da ihr Gesicht. Die Ähnlichkeit dieses Gesichts mit dem meiner Mutter war so stark, daß ich dachte: Sie ist es.

Ein Photo war mir in den Sinn gekommen, eins der paar Photos, die ich von ihr aufbewahrt habe. Ihr Gesicht war wie von einem Scheinwerfer aus der Nacht beleuchtet. Immer hatte ich vor diesem Photo ein Unbehagen gespürt. Es war mir ein jedes Mal, als halte mir jemand – ein Polizeikommissar, ein Angestellter des Leichenschauhauses – ein Suchbild hin, und ich sollte die Person da identifizieren. Ich aber blieb stumm. Ich wußte nichts von ihr.

Sie setzte sich auf eine der Bänke der Station, abseits von den andern, die sich in Erwartung des Zugs am Bahnsteigrand drängten. Es war auf der Bank neben ihr kein Platz frei, und ich hielt mich im Abstand, gestützt auf einen Fahrkartenautomaten. Der Schnitt ihres Mantels war einmal sicher elegant gewesen, und seine lebhafte Farbe hatte ihm einen phantastischen Anstrich gegeben. Aber das Gelb war stumpf geworden, und der Mantel erschien beinahe grau. Sie nahm offenbar nichts wahr von ihrer Umgebung, und ich fragte mich, ob sie wohl so auf der Bank sitzen bliebe bis zur letzten Metro. Das gleiche Profil wie das meiner Mutter, die so spezielle Nase, an der Spitze leicht aufgebogen. Die gleichen hellen Augen. Die gleiche hohe Stirn. Nur die Haare waren kürzer. Nein, sie hatte sich nicht sehr verändert. Höchstens, daß die Haare nicht mehr so blond waren. Aber im Grund wußte ich nicht, ob meine Mutter richtig blond gewesen war. Der bittere Zug an ihrem Mund: und meine Gewißheit: sie ist es.

Sie hat einen Zug vorbeifahren lassen. Die Station blieb eine Zeitlang leer. Ich habe mich auf die Bank neben sie gesetzt. Dann wieder das Gedränge auf dem Bahnsteig. Ich hätte ein Gespräch beginnen können. Ich fand die Worte nicht, und es waren zu viele Leute um uns herum.

Würde sie auf der Bank einschlafen? Doch als der nächste Zug ein bloßer ferner Donner war, stand sie auf. Ich bin hinter ihr in die Metro eingestiegen. Wir hatten eine Gruppe von Männern zwischen uns, die sich sehr laut miteinander unterhielten. Die automatischen Türen schlossen sich, und da habe ich gedacht, ich hätte so wie üblich den Zug in die Gegenrichtung nehmen sollen. Beim nächsten Halt wurde ich von dem Pulk der Aussteigenden auf den Bahnsteig gedrängt. Ich bin dann wieder eingestiegen und habe mich auf sie zubewegt.

In dem grellen Licht erschien sie älter als auf dem Bahnsteig. Eine Narbe zog sich über die linke Schulter und einen Teil ihrer Wange. Wie alt mochte sie sein? Um die Fünfzig? Und wie alt war sie wohl auf den Photos? Fünfundzwanzig? Der Blick war derselbe wie mit fünfundzwanzig, klar, mit dem Ausdruck des Erstaunens oder einer vagen Furcht, und mit einem jähen Sichverhärten. Zufällig hat er sich auf mich gerichtet. Aber sie sah mich nicht. Sie hat eine Puderdose aus der Tasche ihres Mantels gezogen, sie geöffnet und den Spiegel ans Gesicht gehalten, und sie fuhr sich mit dem kleinen Finger ihrer Linken über den Lidwinkel, wie um sich ein Stäubchen aus dem Auge zu wischen. Der Zug beschleunigte, kam in ein Gerüttel. Ich hielt mich fest an der Metallstange, aber sie, sie kam nicht aus dem Gleichgewicht. Unbewegt betrachtete sie sich in der Puderdose. An der Station Bastille drängten die Zusteigenden sich mit Ach und Krach in das Abteil, und die Türen gingen fast nicht zu. Es war ihr gelungen, die Puderdose einzustecken, bevor die andern in den Waggon stürmten. Wo würde sie aussteigen? Sollte ich ihr bis zuletzt folgen? War das wirklich notwendig? Wie sich an die Vorstellung gewöhnen, daß sie in derselben Stadt lebte wie ich? Man hatte mir gesagt, sie sei vor langer Zeit schon gestorben, in Marokko, und niemals hatte ich versucht, mehr zu erfahren. »Sie ist gestorben in Marokko«: einer jener Sätze aus der Kindheit, deren Bedeutung man nicht ganz versteht. Von jenen Sätzen bleibt einem allein der Klang im Gedächtnis, so wie manche Zeilen aus Liedern, die mir Angst machten. »Es gab ein kleines Schiff …« – »Sie ist gestorben in Marokko.«

In meiner Geburtsurkunde war auch ihr Geburtsjahr vermerkt: 1917, und zur Zeit der Photos gab sie ihr Alter mit fünfundzwanzig an. Aber schon da hatte sie wohl geschwindelt und sich in den Papieren jünger gemacht. Sie stellte den Kragen des Mantels auf, als friere sie in dem Waggon, wo wir doch alle dicht beieinanderstanden. Ich habe bemerkt, daß der Saum des Kragens völlig abgewetzt war. Seit wann trug sie diesen Mantel? Seit der Epoche der Photos? Deswegen war das Gelb so verblichen? Wir kämen an die Endstation, und von dort brächte ein Bus uns in einen entlegenen Vorort. Das wäre der Augenblick, da ich sie anspräche. Nach der Gare de Lyon leerte sich allmählich das Abteil. Wieder schaute sie mich an, freilich nur mit dem Blick, den die Fahrgäste mechanisch austauschen. »Erinnern Sie sich, daß man mich Die Kleine Bijou nannte? Auch Sie, Sie haben seinerzeit einen zweiten Namen angenommen. Sogar einen falschen Vornamen, Sonia.«

Inzwischen saßen wir einander gegenüber, auf den Klappsitzen, die den Türen am nächsten waren. »Ich hatte versucht, Sie im Telephonbuch zu finden, hatte sogar die vier, fünf Personen angerufen, die Ihren wahren Namen trugen, doch sie hatten nie von Ihnen gehört. Ich sagte mir, ich sollte eines Tages nach Marokko gehen. Nur so hätte ich herausgefunden, ob Sie wirklich gestorben waren.«

Nach der Station Nation war das Abteil leer, und sie saß mir weiterhin gegenüber auf dem Klappsitz, mit ineinander verschränkten Fingern, und die Ärmel ihres angegrauten Mantels bedeckten ihre Handgelenke. Die Hände nackt, ohne einen Ring, ohne ein Armband, aufgesprungene Haut. Auf den Photos trug sie Armbänder und Ringe – massiven Schmuck, wie er damals üblich war. Heute freilich: nichts mehr. Sie hatte die Augen geschlossen. Noch drei Halte bis zur Endstation. Die Endstation der Metro wäre Château de Vincennes, und ich, ich würde mich erheben so leise wie möglich, und ich würde aus dem Zug steigen, während sie eingeschlafen auf dem Klappsitz zurückbliebe. Ich stiege in die Metro für die Gegenrichtung, Pont-de-Neuilly, wie ich es getan hätte,wäre mir zuvor, in dem Korridor, nicht der gelbe Mantel aufgefallen.

Der Zug hielt langsam an der Station Bérault. Sie hatte die Augen geöffnet, die wieder ihren harten Glanz annahmen. Sie warf einen Blick auf den Bahnsteig und stand auf. Von neuem folgte ich ihr in dem Korridor, nur daß wir jetzt allein waren. Da habe ich bemerkt, daß sie Stricksocken trug, die man »Panchos« nannte: und das unterstrich an ihr den Gang der ehemaligen Tänzerin.

Eine breite Avenue, gesäumt von Wohngebäuden, an der Schwelle zwischen Vincennes und St. Mandé. Es wurde schon Nacht. Sie hat die Avenue überquert und eine Telephonzelle betreten. Ich wartete mehrere Rot-Grün-Phasen an der Ampel ab, und bin dann meinerseits über die Straße gegangen. Sie, in der Zelle, brauchte einige Zeit, um Geldstücke oder einen Jeton zu finden. Ich tat, als blickte ich in das der Telephonzelle benachbarte Schaufenster, das einer Apotheke, wo jenes Plakat ausgestellt war, das mich in der Kindheit erschreckt hatte: der Teufel beim Feuerspeien. Ich habe mich umgedreht. Sie wählte eine Nummer, so langsam, als sei es zum ersten Mal, hielt den Hörer mit beiden Händen gegen das Ohr. Aber es kam keine Antwort. Sie hat aufgelegt, aus einer der Manteltaschen ein Stück Papier gezogen, und während sie an der Wählscheibe drehte, blickte sie unverwandt auf das Papierstück. Da war es, daß ich mich fragte, ob sie irgendwo ein Zuhause hätte.

Diesmal war eine Antwort gekommen. Sie bewegte hinter der Glasscheibe die Lippen. Immer noch hielt sie den Hörer in beiden Händen, und von Zeit zu Zeit schüttelte sie den Kopf, wie um sich zu konzentrieren. Ihren Lippenbewegungen nach redete sie immer lauter. Doch diese Heftigkeit beruhigte sich am Ende. Mit wem mochte sie telephonieren? Unter den seltenen Gegenständen, die mir von ihr geblieben waren, gab es, in der metallenen Keksbüchse ein Vormerk- und ein Adreßbuch aus derselben Zeit wie die Photos, der Zeit, da man mich Die Kleine Bijou genannt hatte. Früher hatten diese Hefte nie meine Neugier geweckt, aber seit einiger Zeit blätterte ich abends darin. Namen. Telephonnummern. Es war mir klar, daß es sinnlos war, die zu wählen. Im übrigen hatte ich auch gar keine Lust.

Sie telephonierte weiter. So beansprucht schien sie von dem Gespräch, daß ich mich nähern konnte, ohne daß sie mich bemerkte. Ich konnte sogar tun, als wartete ich, um meinerseits zu telephonieren. So könnte ich vielleicht durch die Glaswand ein paar Worte aufschnappen, die mich ahnen ließen, was aus dieser Frau im gelben Mantel und in den Panchos geworden war. Doch ich hörte nichts. Sie telephonierte vielleicht mit einem der in dem Adreßbuch Vermerkten, dem einzigen, den sie nicht aus den Augen verloren hatte, oder der noch nicht tot war. Oft begleitet jemand dich das ganze Leben lang, ohne daß es dir jemals gelingt, ihn loszuwerden. Er hat einen gekannt in den grandiosen Momenten, doch später folgt er dir durch Kummer und Not, der einzige, der dir...


Modiano, Patrick
Patrick Modiano, 1945 in Boulogne-Billancourt bei Paris geboren, ist einer der bedeutendsten Schriftsteller der Gegenwart. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den großen Romanpreis der Académie française, den Prix Goncourt, den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur und 2014 den Nobelpreis für Literatur. Bei Hanser erschienen zuletzt die Romane Place de l'Étoile (2010), Im Café der verlorenen Jugend (2012), Der Horizont (2013), Gräser der Nacht (2014) und Damit du dich im Viertel nicht verirrst (2015).



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