E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Modiano Damit du dich im Viertel nicht verirrst
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-446-25006-2
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
ISBN: 978-3-446-25006-2
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Patrick Modiano, 1945 in Boulogne-Billancourt bei Paris geboren, ist einer der bedeutendsten Schriftsteller der Gegenwart. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den großen Romanpreis der Académie française, den Prix Goncourt, den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur und 2014 den Nobelpreis für Literatur. Bei Hanser erschienen unter anderem die Romane Place de l'Étoile (2010), Im Café der verlorenen Jugend (2012), Der Horizont (2013), Gräser der Nacht (2014), Damit du dich im Viertel nicht verirrst (2015), der Prosatext Schlafende Erinnerungen (2018), das Theaterstück Unsere Anfänge im Leben (2018) sowie zuletzt die Romane Unsichtbare Tinte (2021) und Unterwegs nach Chevreuse (2022).
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Fast nichts. Wie ein Insektenstich, der dir zunächst ganz leicht vorkommt. Wenigstens sagst du dir das leise, um dich zu beruhigen. Das Telefon hatte am Nachmittag gegen vier bei Jean Daragane geklingelt, in dem Zimmer, das er »Büro« nannte. Er war eingenickt auf dem Kanapee, das ganz hinten stand, vor der Sonne geschützt. Und dieses Klingeln, an das er seit langem kaum noch gewöhnt war, verstummte nicht. Warum diese Hartnäckigkeit? Am anderen Ende der Leitung hatte man vielleicht vergessen aufzulegen. Schließlich erhob er sich und ging in jenen Teil des Raums unweit der Fenster, wo die Sonne hinbrannte.
»Ich würde gern mit Monsieur Jean Daragane sprechen.«
Eine weiche und bedrohliche Stimme. Das war sein erster Eindruck.
»Monsieur Daragane? Hören Sie mich?«
Daragane wollte auflegen. Doch wozu? Das Klingeln würde von neuem anfangen und nie wieder verstummen. Und wenn er die Telefonschnur nicht ein für allemal durchschnitt …
»Am Apparat.«
»Es geht um Ihr Adressbüchlein, Monsieur …«
Er hatte es letzten Monat in einem Zug verloren, der ihn an die Côte d’Azur brachte. Ja, es konnte nur in diesem Zug gewesen sein. Das Adressbüchlein war bestimmt aus seiner Jackentasche gerutscht, als er seinen Fahrschein hervorgezogen hatte, um ihn dem Schaffner vorzuweisen.
»Ich habe ein Adressbüchlein mit Ihrem Namen gefunden.«
Auf dem grauen Einband stand: BEI VERLUST DIESES BÜCHLEIN ZURÜCKSCHICKEN AN. Und Daragane hatte eines Tages gedankenlos seinen Namen hingeschrieben, seine Adresse und seine Telefonnummer.
»Ich bringe es Ihnen nach Hause. An welchem Tag und um welche Uhrzeit Sie möchten.«
Ja, wirklich, eine weiche und bedrohliche Stimme. Und dazu noch, dachte Daragane, ein Erpressertonfall.
»Mir wäre lieber, wir würden uns irgendwo treffen.«
Er hatte sich einen Ruck gegeben, um das Unbehagen zu überwinden. Doch plötzlich war seine Stimme, die gleichgültig klingen sollte, eine tonlose Stimme.
»Wie Sie möchten, Monsieur.«
Dann herrschte Stille.
»Schade. Ich bin ganz in Ihrer Nähe. Ich hätte es Ihnen gern eigenhändig übergeben.«
Daragane fragte sich, ob der Mann nicht vor dem Haus stand und ob er nicht dort stehenbleiben würde, auf der Lauer. Er musste ihn so schnell wie möglich loswerden.
»Wir können uns morgen nachmittag sehen«, sagte er endlich.
»Wenn Sie wollen. Aber dann nicht weit von meiner Arbeit. In der Nähe der Gare Saint-Lazare.«
Er wollte schon auflegen, beherrschte sich aber.
»Kennen Sie die Rue de l’Arcade?«, fragte der andere. »Wir könnten uns im Café treffen. In der Nummer 42, Rue de l’Arcade.«
Daragane notierte sich die Adresse. Er atmete durch und sagte:
»Gut, Monsieur. Nummer 42, Rue de l’Arcade, morgen abend um fünf.«
Dann legte er auf, ohne die Antwort seines Gesprächspartners abzuwarten. Er bedauerte sogleich, sich so grob verhalten zu haben, schrieb das jedoch der Hitze zu, die seit einigen Tagen auf Paris lastete, eine für September ungewöhnliche Hitze. Sie verstärkte seine Einsamkeit. Sie zwang ihn, in diesem Zimmer eingeschlossen zu bleiben bis Sonnenuntergang. Und außerdem hatte das Telefon seit Monaten nicht mehr geklingelt. Und er fragte sich, wann er das Handy auf seinem Schreibtisch zum letzten Mal benutzt hatte. Er kam damit kaum zurecht und vertat sich oft, wenn er auf die Tasten drückte.
Ohne den Anruf des Unbekannten hätte er den Verlust dieses Büchleins für immer vergessen. Er versuchte sich an Namen zu erinnern, die darinstanden. In der Vorwoche wollte er es sogar neu anlegen und hatte begonnen, auf einem weißen Blatt eine Liste aufzustellen. Nach kurzer Zeit hatte er das Blatt zerrissen. Keiner von den Namen gehörte Personen, die in seinem Leben gezählt hatten – deren Adressen und Telefonnummern hatte er nicht aufschreiben müssen. Er wusste sie auswendig. In diesem Büchlein nichts als Bekanntschaften, von denen man sagt, dass sie »beruflicher Natur« sind, ein paar sogenannte nützliche Adressen, nicht mehr als etwa dreißig Namen. Und darunter mehrere, die er hätte streichen müssen, weil sie nicht mehr gültig waren. Was ihm nach dem Verlust des Adressbüchleins Sorgen bereitet hatte, war allein, dass er seinen eigenen Namen und seine Adresse daraufgeschrieben hatte. Natürlich konnte er die Sache beiseiteschieben und diesen Menschen vergeblich in der Nummer 42 der Rue de l’Arcade warten lassen. Aber dann würde immer etwas in der Schwebe bleiben, eine Drohung. Oft, an manchen Nachmittagen voller Einsamkeit, hatte er geträumt, das Telefon würde klingeln und eine sanfte Stimme würde ihm ein Treffen vorschlagen. Er erinnerte sich an den Titel eines Romans, den er gelesen hatte: Die Zeit der Begegnungen. Vielleicht war diese Zeit für ihn noch nicht vorüber. Aber die Stimme von vorhin flößte ihm kein Vertrauen ein. Weich und zugleich bedrohlich, diese Stimme. Ja.
*
Er bat den Taxifahrer, ihn an der Madeleine aussteigen zu lassen. Es war weniger heiß als an den anderen Tagen, und man konnte zu Fuß gehen, vorausgesetzt, man nahm die Schattenseite. Er folgte der Rue de l’Arcade, die still und verlassen unter der Sonne lag.
Er war seit einer Ewigkeit nicht mehr in diese Gegend gekommen. Ihm fiel ein, dass seine Mutter in einem Theater hier in der Umgebung spielte und dass sein Vater ein Büro ganz am Ende der Straße besaß, links, in der Nummer 73 des Boulevard Haussmann. Er wunderte sich, dass er die Nummer 73 noch im Gedächtnis hatte. Aber diese ganze Vergangenheit war so durchscheinend geworden mit der Zeit … ein Dunst, der sich auflöste in der Sonne.
Das Café war an der Ecke Rue de l’Arcade/Boulevard Haussmann. Ein leerer Raum, ein langer Tresen und darüber Regale wie in einem Selbstbedienungsrestaurant oder einem alten Wimpy. Daragane setzte sich an einen Tisch ganz hinten. Würde dieser Unbekannte zu dem Treffen erscheinen? Die beiden Türen standen offen, die eine zur Straße und die andere zum Boulevard, wegen der Hitze. Auf der anderen Straßenseite, das große Gebäude der 73 … Er fragte sich, ob eines der Fenster im Büro seines Vaters nicht auf diese Seite hinausging. Auf welchem Stockwerk? Aber diese Erinnerungen entzogen sich ihm nach und nach, wie Seifenblasen oder Fetzen eines Traums, die beim Erwachen verfliegen. Sein Gedächtnis wäre reger gewesen in dem Café Rue des Mathurins, vor dem Theater, dort, wo er auf seine Mutter wartete, oder im Umkreis der Gare Saint-Lazare, eine Zone, wo er sich früher viel herumgetrieben hatte. Ach, nein. Bestimmt nicht. Das war nicht mehr dieselbe Stadt.
»Monsieur Jean Daragane?«
Er hatte die Stimme wiedererkannt. Ein Mann um die Vierzig stand vor ihm, in Begleitung eines Mädchens, das jünger war als er.
»Gilles Ottolini.«
Es war dieselbe Stimme, weich und bedrohlich. Er deutete auf das Mädchen:
»Eine Freundin … Chantal Grippay.«
Daragane blieb auf der Bank sitzen, reglos, ohne ihnen auch nur die Hand zu reichen. Sie setzten sich beide ihm gegenüber.
»Bitte entschuldigen Sie … Wir haben ein bisschen Verspätung …«
Er hatte einen ironischen Ton angeschlagen, wahrscheinlich um gelassen zu wirken. Ja, es war dieselbe Stimme, mit einem leichten, kaum wahrnehmbaren südlichen Akzent, der Daragane tags zuvor am Telefon nicht aufgefallen war.
Elfenbeinfarbene Haut, schwarze Augen, Adlernase. Das Gesicht war scharfkantig, von vorne ebenso wie im Profil.
»Hier ist Ihr Eigentum«, sagte er zu Daragane, im selben ironischen Ton, der eine gewisse Verlegenheit überspielen sollte.
Und er zog das Adressbüchlein aus der Jackentasche. Er legte es auf den Tisch, verdeckte es jedoch mit der Handfläche, wobei er die Finger spreizte. Man hätte meinen können, er wolle Daragane hindern, es an sich zu nehmen.
Das Mädchen hielt sich ein wenig im Hintergrund, so, als wolle sie keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, eine Brünette von etwa dreißig Jahren, mit halblangem Haar. Sie trug eine schwarze Bluse und eine schwarze Hose. Sie warf einen ängstlichen Blick auf Daragane. Wegen ihrer Wangenknochen und ihrer Schlitzaugen fragte er sich, ob sie nicht vietnamesischer – oder chinesischer – Herkunft war.
»Und wo haben Sie das Büchlein gefunden?«
»Auf dem Boden, unter einer Bank im Buffet der Gare de Lyon.«
Er reichte ihm das Adressbüchlein. Daragane steckte es in die Tasche. Tatsächlich, er erinnerte sich, dass er am Tag seiner Abreise an die Côte d’Azur zu früh am Bahnhof gewesen war und sich in das Buffet der ersten Etage gesetzt hatte.
»Möchten Sie etwas trinken?«, fragte dieser Gilles Ottolini.
Daragane bekam Lust, sich aus dem Staub zu machen. Doch er besann sich.
»Ein Schweppes.«
»Versuch doch jemanden zu finden, der die Bestellung aufnimmt. Für mich einen Kaffee«, sagte Ottolini, an das Mädchen gewandt.
Sie stand sofort auf. Offenbar war sie es gewohnt, ihm zu gehorchen.
»Es muss unangenehm für Sie gewesen sein, dieses Büchlein verloren zu haben …«
Er lächelte mit einem merkwürdigen Lächeln, das Daragane frech vorkam. Vielleicht aber war das bei ihm auch bloß Unbeholfenheit oder Schüchternheit.
»Wissen Sie«, sagte Daragane, »ich telefoniere fast überhaupt nicht mehr.«
Der andere schaute überrascht. Das Mädchen kam zurück an den Tisch und setzte sich wieder.
»Um diese Uhrzeit bedienen sie nicht mehr. Sie schließen gleich.«
Zum...