E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Mix Die Ambivalenz des Geheimnisses
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-593-44645-5
Verlag: Campus Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zum Verhältnis von Demokratie und Öffentlichkeit
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-593-44645-5
Verlag: Campus Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Andreas Mix, Dr. phil. ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1.Der Ausschluss des Geheimnisses um das Jahr 1800
»Alle Demokratie wird die Publizität für den an sich wünschenswerten Zustand halten, von der Grundvorstellung aus: daß jeder diejenigen Ereignisse und Verhältnisse, die ihn angehen, auch kennen solle – da dies die Bedingung davon ist, daß er über sie mit zu beschließen hat; und jedes Mitwissen enthält auch schon die psychologische Anreizung, mittun zu wollen. Es steht dahin, ob jener Schluß ganz bündig ist.«
(Simmel, 2013 [1908], S. 413)
»I would particularly insist on the political, on the public and private regions; the secret is not reducible to the private, but what should the political, what should democracy do with the possibility of the secret?«
(Derrida & Ferraris, 2002 [1997], S. 75)
Die ausgewählten Zitate von Georg Simmel und Jacques Derrida liegen sehr nah an der Hypothese dieser Studie, dass das Verhältnis zwischen Geheimnis und Demokratie sich nicht als eine wechselseitige Ausschließlichkeit beschreiben lässt und die Forderung nach umfassender Transparenz aller Lebensbereiche folglich nicht das allein oder immer geeignete Mittel einer gesellschaftlichen Demokratisierung ist. Auffällig an den oben angeführten soziologischen Beschäftigungen mit dem politischen Geheimnis ist ferner, dass die Autoren ihre Position in Form rhetorischer Fragen an die politische Theorie herantragen. Diese Fragen lassen sich dahingehend explizieren, dass es aus Sicht der angrenzenden Sozialwissenschaften wahrscheinlich erscheint, dass das Geheimnis ein unhintergehbares Faktum der Sozialisation ist, das immer auch eine politische Dimension hat, und etwa Simmel und Derrida sich deshalb über die Enge des politikwissenschaftlichen Geheimnisbegriffes wundern. Daher strebt die in dieser Untersuchung geplante Infragestellung der wechselseitigen Ausschließlichkeit von Geheimnis und Demokratie zunächst eine Weitung des politikwissenschaftlichen Geheimnisbegriffes an. Dieses Kapitel beginnt daher mit einer möglichst weiten, noch nicht demokratietheoretisch-normativ eingeschränkten zeitgenössischen Definition des Geheimnisses. Zur Absicherung der Hypothese, dass in dem unten vorgestellten Geheimnisbegriff von Aleida und Jan Assmann geschichtswissenschaftliche, philosophische und soziologische Beschäftigungen mit dem Geheimnis kondensieren, werden anschließend die Perspektiven dieser Disziplinen auf den Begriff des Geheimnisses überblicksartig dargestellt. Insofern dies gelingt, wäre die Kontrastfolie erarbeitet, vor der die spezifischen Bedingungen und die guten Gründe für den normativen Ausschluss des Geheimnisses aus der politischen Sphäre um 1800 in gebündelter Form nachgezeichnet und in ein Verhältnis zum gegenwärtigen politikwissenschaftlichen Begriff des Geheimnisses gesetzt werden können. Die resultierende Spannung des Begriffes soll schließlich in dem Vorschlag der vorliegenden Studie, nämlich dem von der demokratietheoretischen Ambivalenz des Geheimnisses als Überlagerungszustand, zusammenfassend aufgelöst werden.
1.1Ein zeitgenössischer Begriff des Geheimnisses
In einem noch recht aktuellen Definitionsversuch, nämlich dem von Aleida und Jan Assmann in (Assmann & Assmann, 1997–1999), verbinden die Autoren27 dreierlei Signifikate mit dem Begriff des Geheimnisses: (1) zum einen Inhalte, die intentional nicht (mit allen) kommunikativ geteilt werden (›secrets‹ oder ›strategische Geheimnisse‹); (2) weiterhin solche, die dergestalt sind, dass das Individuum sie persönlich als Wahrheit akzeptiert, obwohl sie intersubjektiv nicht kommunizierbar sind (›mysteries‹ oder ›substantielle Geheimnisse‹), und (3) schließlich diejenigen Geheimnisse, die erst der neugierige Blick auf ein Phänomen oder Ding konstruiert (›konstruktive Geheimnisse‹).
Zum Punkt: Bei einer näheren Betrachtung von Inhalten, die intentional nicht mit allen geteilt werden, liegt es nahe, diese Art des (strategischen) Geheimnisses als einen Gegenbegriff von Öffentlichkeit zu verstehen. Diese Gegenüberstellung erscheint insofern vertraut, als im allgemeinen Bewusstsein Geheimnis und Öffentlichkeit als prinzipiell antagonistisch verstanden werden, wobei dem Geheimnis wie selbstverständlich Motive der Anmaßung, Unaufrichtigkeit und des Verrats unterstellt werden (Voigts, 1998, S. 73). So unkompliziert liegen die Dinge jedoch nicht, denn »Öffentlichkeit und Geheimnis bedeuten etwas anderes, je nachdem, in wessen Namen sie für oder gegen wen sie eingefordert werden« (Assmann & Assmann, 1997, S. 12). Dies ist eine Ermahnung zu begrifflicher Differenzierung, die in Zeiten des institutionalisierten Verfassungsbruches durch Geheimdienste sowie der Unterwanderung der intimsten Wissens- und Kommunikationsformen durch Big Data dringlicher erscheint als noch in den 1990er Jahren. Die Aktualität der Aufgabe einer begrifflichen Klärung des politikwissenschaftlichen Geheimnisbegriffes zeigt sich auch darin, dass die verschiedenen Domänen strategischer Geheimnisse in einer Demokratie heute durchweg, in der einen oder anderen Form, unter habituellem und normativem Druck zu stehen scheinen: der Datenschutz (etwa Arztgeheimnis, Briefgeheimnis, Bankgeheimnis) durch Big Data, der klassische Öffentlichkeitsentzug (etwa Bundestagsausschüsse, Sicherheitskabinett, ›Geheimverhandlungen‹, etwa zu TTIP) durch politischen Aktivismus und das Wahlgeheimnis durch die technische Entwicklung (Han, 2013).
zeigt sich der Umstand, dass Öffentlichkeit und Geheimnis keine reinen Gegensätze sind, auch am Verhältnis von substantiellen Geheimnissen und Öffentlichkeit. Substantielle Geheimnisse bezeichnen individuell als Wahrheit akzeptierte Gewissheiten, die nicht intersubjektiv kommunizierbar sind. Deren Gegenbegriff ist die Offenbarung, der jedoch nicht weiterführt, da diese ›Entschleierung‹ (lat.: revelatio) typischerweise substantielle Geheimnisse als Glaubenssätze einführt, aber eben nicht beweist. Lessing stellte hierzu treffend fest, »dass Nachrichten von Wundern nicht Wunder sind« (Lessing, 2007 [1777], S. 6), und meinte hiermit, dass das Verhältnis von substantiellem Geheimnis und Öffentlichkeit gänzlich anders beschaffen sei als jenes von strategischem Geheimnis und Öffentlichkeit.
können das Staunen und die ihm verwandte Neu- und Wissbegierde, die Philomathie der griechischen Philosophen, als eine Haltung zur Welt verstanden werden, die sich jene als gleichzeitig geheimnisvoll und prinzipiell erklärbar vorstellt. Sie besitzt, qua Definition, in dieser Form eine Beziehung zur Öffentlichkeit, wonach neugewonnene Erkenntnisse über zuvor geheimnisvolle Phänomene unter vernunftbegabten Wesen geteilt werden können und die Erkenntnis des einen wiederum die Neugierde des anderen, die Freude am Lernen, weckt, sodass kollektive Lernprozesse in Gang kommen. Der Weg der Erkenntnis ist hierbei jedoch nicht nur der der Transparenz, der bloßen Veröffentlichung, sondern auch der des Studiums und der Kritik; er ist somit an eine Leidenschaft zur Erkenntnis ebenso wie an eine prinzipielle Erkennbarkeit gebunden (Assmann & Assmann, 1999, S. 9).
Diese hier kondensiert wiedergegebene Aufzählung lässt es als plausibel erscheinen, dass das Geheimnis ein bedeutendes, wenngleich ambivalentes Prinzip des menschlichen Zusammenlebens ist. In ihrem Unvermögen, eine eindeutige Definition des Wesens des Geheimnisses zu leisten, und in der alternativen und an die Tradition angelehnten begrifflichen Dreiteilung illustriert die Aufzählung jedoch auch die Schwierigkeit, die Substanz des Begriffes sprachlich fassbar zu machen.28 Dennoch können bereits hier zwei Einsichten für den weiteren Fortgang der Untersuchung formuliert werden. Erstens nämlich wurde deutlich, dass die Forderung nach Ausschluss des Geheimnisses praktisch etwas anderes bedeutet, »je nachdem, in wessen Namen sie für oder gegen wen sie« erhoben (Assmann & Assmann, 1997, S. 12) wird. Zweitens wurde erarbeitet, dass das Geheimnis nicht die bloße Kehrseite von Öffentlichkeit ist. Der erste Punkt führt direkt zum Thema dieses Buches: Denn wenn die Forderung nach Öffentlichkeit in ihrer politischen Bedeutung von ihrem Adressaten abhängig ist, so ist es einsichtig, dass der Strukturwandel der Öffentlichkeit nicht nur mit dem Verfall, sondern auch dem Erfolg von Öffentlichkeit in einem ambivalenten Verhältnis steht.29 Der zweite...