Mischkulnig Umarmung
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-7099-3574-3
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 271 Seiten
ISBN: 978-3-7099-3574-3
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Es ist Abend. Draußen wütet ein Schneesturm. Eine Frau ist allein zu Haus, nimmt sich ein Buch zur Hand, liest und denkt. Da läutet es. Eigentlich erwartet sie niemanden mehr. Aber aus Neugier steht sie auf, geht und öffnet die Tür. Ihre Freundin prescht in die Wohnung. Sie sagt, sie sei in eine arge Geschichte geraten, aus der sie allein nicht entkommen könne. Sie stecke fest. Sie habe in eine Figur schlüpfen wollen und sei nun gefangen im Körper ihrer Romanfigur. Eine immer irrer werdende Geschichte entspinnt sich, in der die Konturen des Selbst verwischen. Wie Ingeborg Bachmann oder Elfriede Jelinek lotet Lydia Mischkulnig in ihrem neuen Roman die Grenzen weiblicher Identität aus.
Autoren/Hrsg.
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Mitten im Raum stand LM, mit kurzgeschorenen Haaren, farblos, aschblond, von einem nebelfarbenen Grau durchsetzt, und spielte Agathe. Immerhin starrte sie mich an, sagte LM. Weil sie mit mir und mit einer Zigarette nicht gerechnet hatte. Agathe schwieg, stand da, wie eine Puppe, ein leeres Kästchen in Menschenform, ein Sarkophag in Fleischfarbe und Lederkleid. Freilich hat Agathe Angst, denn sie mußte sich für wahnsinnig halten, weil ich bei ihr aufgetaucht war, eine Erscheinung, ein Geist in ihrer Wohnung, in ihrem liebevoll eingerichteten Wohnzimmer. Wie aus dem Koma erwacht, ganz ohne Gedächtnis, stierte sie. Ich trällerte ein Liedchen zur Zerstreuung. Pfiff eine fröhliche Melodie und guckte mich um und entdeckte auf dem Kaminsims die glasäugigen Vögel ihres angetrauten Tierpräparators. Es sind Trophäen und Pokale in einem. Die Tierpräparation ist eine Kunst mit eigener Fachwelt. Diese Fachwelt hat ihre eigenen Gesetze. Und nach diesen Gesetzen wird geurteilt und verurteilt. Die zwei ausgestopften Exemplare sind auf jeden Fall Prachtstücke. Das sieht sogar ein Laie wie ich. Wie aus dem Leben gerissen ist der Bruchteil einer Sekunde in Dauer übergegangen. Die Vögel drehen ihre Köpfe voneinander weg und schauen links und rechts in die Wand. Die Spannung ihrer sich gerade hebenden Flügel wird mit Draht unterstützt. Wohin immer sich die beiden Wendehälse gerade aufmachen wollten, la mort subite hat sie erwischt. Zu den Krallen der Vögel glänzten Metallplättchen. Von meiner Warte aus war es jedoch unmöglich zu lesen, was darauf stand. Welche Trophäen könnte Agathe nach Hause bringen, und welche Preise pflegt sie abzustauben? Für Särge, die sie restauriert. Auch hierfür gibt es eine Fachwelt mit Gesetzen und Wettbewerben. Medaillen? Pokale? Oder Grabbeigaben? Ist sie eine Leichenfledderin? Sie verdient zumindest gut, seit sich diese Nische, in die gerade ein paar Särge passen, für sie aufgetan hat. Sie hätte sich die toskanische Silberschale auf dem Tisch kaufen können und die Früchte. Aber kauft sich Agathe privat irgendwas aus Metall? Vielleicht sollte ich die Silberschale gegen einen Marmorteller eintauschen. Das Zimmer ist dunkel und hölzern und irgendwie englisch durch den Kamin und den Sims und die Vögel und das Eisenbahnbild darüber. Es ist totenstill, könnte man sagen, nur ein Holzwurm tickt, und die Zigarette knistert. Ich rauche und verstinke die Wohnung. Agathe starrte entgeistert, was ich mir aber auch nur einbilden kann. Hast du Sägespäne im Kopf? fragte ich und zeigte die Zigarette, sie aufrecht zwischen zwei Fingern haltend, zeigte, wie der rauchende Phallus zu Asche würde, sich verkrümelte und abfiel. Da nirgends ein Aschenbecher bereitstand und Agathe keine Anstalten machte, auch nur den kleinen Finger zu rühren, um mir einen zu zeigen oder zu holen, oder die marmornen Obstschüsselchen zweckzuentfremden, schnippte ich die Asche einfach weg. Ich achtete darauf, daß die Asche nicht auf den Perser fiel, sondern auf das Blech vor dem Kamin. Mein Blick glitt nochmals zu den ausgestopften Wendehälsen hin. Der eine schien seinen Blick mehr ins Zimmer gerichtet zu haben, starrte nicht mehr in die Wand, sein Schnabel zeigte auf mich, während der andere nun wirkte, als wollte er von dem Geschehen um Agathe überhaupt nichts mehr mitbekommen, er hatte seinen Kopf um hundertachtzig Grad nach hinten gedreht und starrte ins Eisenbahnbild. Kann es sein, daß man sich in diesem Zimmer, in dieser Wohnung, sehr wohl bewegte, bloß in einer entsetzlich gestreckten Zeitlupe? Darauf fiel mir das kurze Leben einer Eintagsfliege ein. Vielleicht vergeht auch für mich die Zeit irrsinnig schnell. Vielleicht bin ich die Fliege hier und sollte schleunigst verschwinden, bevor es zu spät ist, vielleicht bin ich diesen Himbeeren auf dem Tisch entflogen, wurde eingekauft und verschleppt von Agathe und habe mich jetzt hier auf dem Fauteuil niedergelassen und bilde mir ein, weiß Gott wer zu sein. Da fiel mir ein Vers von Klaus Merz ein: Jede Glut kürzt den Docht. Ich versuchte also ruhig zu bleiben, stürzte mich nicht in die Vorstellung einer Welt, die für mich nicht gedacht war. Warum sollte ich auch ein anderes Tempo empfinden und an den Tag legen als Agathe. Ich konzentrierte mich auf die beständigen Werte, die die Wände verkleideten: Poe, Kafka, Wilde, Barnes, Bachmann. Wer aber ist die Anonyma, dachte ich. Ich erinnere mich an meine Verwunderung. Weshalb wunderst du dich? Steht eben bei Agathe das Werk einer Anonyma herum. Ich flitzte über die Titel. Ich hegte sogar den Verdacht, daß Agathe unter diesem Pseudonym schrieb. Ich musterte sie argwöhnisch. Dann hätte LM eine Konkurrentin erfunden. Sie starrte stumpfsinnig vor sich hin. Agathe wäre mir bestimmt sympathisch, stünde sie nicht weiterhin wie eine Tote in einer Geisteswelt herum. Ich glaubte nicht, daß sie tot ist. Konkurrenten sind doch höchst lebendig. Sie denkt sich was. Diese Verstellung macht einen Sinn. Dabei könntest du so hübsch sein, sagte ich Agathe. Sie rollte nicht einmal mit den Augen. Sie blieb regungslos. Ich hätte mir zumindest eine Schreibschwierigkeit verpaßt. Ich hätte mich aufgefordert, sofort die Zigarette zu töten und zu verschwinden, wie ich aufgetaucht war. Sie brauchte nur das Buch, das sie in der Hand hielt, zuzuschlagen. Ich hätte die Polizei gerufen oder wäre hinaus in den Flur gelaufen und hätte um Hilfe geschrien. Es wäre so leicht gewesen, ein Lebenszeichen von sich zu geben. Aber Agathe schwieg und dachte wohl, ich sei wahnsinnig. Ich mag das nicht. Ich bin nicht nichts. Ich bin Gestalt, und sogar Gestaltung. Ich bemühe mich um Geduld, werde meine Hauptfigur mit Logik stopfen und beseelen, nicht bloß als Konstrukt behaupten. Denn alles trug sich zu, genau wie ich es schreibe. Ich stellte mich freundlich und sagte: Hallo, wie war dein Tag? Vielleicht kann sie nicht antworten, überlegte ich, vielleicht hat sie kein Sprechwerkzeug. Ihre Augen sind nach wie vor stumpf, als hätten sie noch nie ein Licht empfangen oder sonstwas reflektiert. Haben Sie Ihre Tage, vielleicht? fragte ich. Schlagen Ihnen Ihre Tage auf die Ohren? fragte ich. Nach wie vor machte Agathe keinen Mucks. Sind Ihnen die Tage zu Kopf gestiegen, oder handelt es sich eher um eine Umnachtung? Was kann diese künstliche Hauptfigur reizen? Auf dem Kaminsims stehen Photos. Ihre unleibliche Tochter, ihr alter Mann interessieren mich nicht. Woher weiß ich eigentlich, daß die Dame Restauratorin ist? Mein Blick fällt auf einen Serviettenring. Zwischen den Wendehälsen. Der Serviettenring ist aus Elfenbein? Welch ein politisch unkorrektes Material! Das ist gut für Agathe. Fährt sie auf Safaris in Afrika und schießt illegal Elefanten? Ich erhob mich und machte einen Schritt, zeigte also Agathe, was Bewegung sein kann, wiederholte es für sie Schritt für Schritt und schnappte mir diesen Elfenbeinring. Er war ganz glatt und kühl, ich fühlte, da war mal Leben darin. Ich mag dieses Material, ich bewundere es regelrecht, und ich will es um jeden Preis besitzen, nicht umsonst würde ich beim Kauf eines Klaviers auf Elfenbeintasten bestehen. Viel lebendiger käme meine Musik dann daher, und doch ist mir persönlich Elfenbein politisch viel zu unkorrekt. Ich mag kein Schießen und Töten. Ich rutschte mit meinem Finger über den Elefantenzahn und schabte den vergilbten Belag ab. Das Material splitterte, und als ich weiterkratzte, splitterte es weiter ab und wurde politisch noch unkorrekter. Ich warf Agathe einen mißtrauischen Blick zu, bevor ich weiterdachte. Der Ring war nicht aus Elefantenbein, sondern aus einem menschlichen Knochen. Genauer: Welchem Rückgrat hatte Agathe diesen Wirbelknochen entnommen? Und weshalb hat sie ihn poliert und ausgestellt zwischen den Wendehälsen? Fleddert sie Leichen und ist sie stolz darauf? Gibt es auch dafür eine Fachwelt? Oder halte ich ein Pars pro toto Agathes in Händen? Oder ist es ein habsburgischer Wirbel womöglich? Fürchtet sie Rache für den Diebstahl, die Leichenschändung, die Störung der Totenruhe? Deshalb die Totstellung? Ich halte den Knochen fest. Ich gehe auf sie zu. Wie bleich diese Agathe ist. Ich halte ihr den Knochen unter die Nase. Woher stammt denn der, frage ich streng wie eine Mutter, mit stechendem Blick, der vielleicht zu stechend ist und Agathe einschüchtert und sie deshalb zu keiner Widerrede finden läßt. Meinem Ton konnte sie ja schon entnehmen, daß ich alles wußte und was ich nicht wußte ihr eben andichten würde. Und dennoch ist es mir unbegreiflich, weshalb sie sich nicht einmal einen Versuch leistet, eine Ausrede für die Fledderei zu erfinden. Stimmt, dachte ich. Stimmt doch, sagte LM in die Pause, in der ich stumm geblieben war und sie bloß fixiert hatte. Woher hat sie das mit dem Knochen? Einem Alleswisser vorzuwerfen, daß er nicht alles weiß, lähmt. Ich weiß, wovon ich spreche. Ich habe in vollem Bewußtsein, aus reiner Boshaftigkeit den Ehrenkodex der Restauratoren der Kapuzinergruft, niemals etwas aus den Särgen zu entfernen, verletzt und meine Vertrauensstellung dadurch ins Wanken gebracht, daß ich einen habsburgischen Wirbel gestohlen habe und nicht einmal wußte, wozu. Der Schrein...