Mischkulnig | Die Paradiesmaschine | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 200 Seiten

Mischkulnig Die Paradiesmaschine

Erzählungen
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-7099-3742-6
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Erzählungen

E-Book, Deutsch, 200 Seiten

ISBN: 978-3-7099-3742-6
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



UNBESTECHLICHE BEOBACHTERIN UND SPRACHMÄCHTIGE AUTORIN
Ein Besuch bei der Kosmetikerin, der zum mythischen Ereignis wird; eine Heuschrecke, die erstaunlich der Kreatur Mensch ähnelt; ein Ausflug ins Wiener Umland, der einen unheilvollen Verlauf nimmt; ein Kuss auf dem mondänen Kärntner Landgut, der empört; und eine Handschrift, die dem größten Liebhaber aller Zeiten gehört - in ihren Erzählungen fächert Lydia Mischkulnig alle Facetten des Mensch-Seins auf. Unbestechlich in ihren Beobachtungen lotet sie die Machtverhältnisse zwischen Mann und Frau aus, die Grenzen zwischen Vertrautem und Fremdem, das Gefälle zwischen Stadt und Land.

ERZÄHLUNGEN, DIE UNTER DIE HAUT GEHEN
Längst gilt Lydia Mischkulnig als eine der spannendsten und unkonventionellsten Stimmen in der österreichischen Literatur. Mit ihren neuen Erzählungen geht sie unter die Haut - sie ist witzig und abseitig, tiefschürfend und klug, feinnervig und aufrüttelnd, und immer: sprachgewaltig. Zum Teil autobiographisch gefärbt, führen uns ihre Texte von Kärnten über Wien und Venedig bis ins japanische Nagoya, wo die Autorin einige Zeit lebte: Geschichten, die sich tief eingraben und einen nicht mehr loslassen.

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Kloster Neu Burg
Der Rasenmäher stotterte. Ich schlüpfte aus den Zockeln und zog die Turnschuhe an, setzte mich aufs Fahrrad und fuhr zur Tankstelle, um Sprit zu besorgen. Der Hügel war schon überwunden. Ich trat noch einmal mit vollem Gewicht in die Pedale, rollte um die Kurve, als ein Mann und eine Frau mir plötzlich im Wege standen. Die Frau hatte einen Plan in der Hand, aber der Mann fragte mich nach dem Weg. Die beiden wollten durch den Wald zum Sender, der auf dem Plateau unseres Hausberges steht, um von dort durch die Weingärten weiter in die Bundeshauptstadt einzuwandern. Mir fiel auf, dass jeder einen Rucksack trug. Einer der beiden Rucksäcke war rot und ich weiß nicht mehr, ob es der des Mannes war. Ich hielt mein Rad an und wies ihnen den Weg über die Felder, die von Büschen umrandet waren. Dort stieg die Erhebung an und der Mischwald bedeckte die Hänge mit grünen Schatten. Auf dem Plateau ragte der Sender aus dem bauschenden Laub und stach in den Himmel mit Wolken. Es hatte zu nieseln begonnen. Die Schalen der Parabolantennen klebten am Sender wie Saugnäpfe. Die Frau bewegte den Blick auf mich zu und fixierte mich. Sie hatte klare Augen, eine scharf umrandete Iris gegen das Weiß. Vielleicht war sie keine Frau, dachte ich plötzlich, vielleicht war sie ein Ingenieur, der mich mit einem Instrument vermaß. So ertappte ich mich dabei, dass ich einen Blick als männlich ansah, der nicht gütig, sondern prüfend auf mir lag. Umgekehrt prüfte ich ja zurück, nicht gütig, weil die Prüfung erst ergibt, ob Güte angebracht ist. Die Skepsis dieser Frau durchdrang mich und ich erhob sie zur beurteilenden Instanz, gegen die ich mich zu bewehren hatte. Hätte sie mich mit trüben Augen erfasst, wäre sie vielleicht als mütterlich durchgegangen. Als Krankenschwester sicher nicht, weil ich ja gesund gewesen war. Täter und Opfer, so seh ich das, lassen sich schwer identifizieren, weil sie ein System bilden, in dem ich stecke. Der Mann sandte freundliche Signale. Er rückte die Mundwinkel ins Lächeln. Er bewegte die Lippen. Er sprach. Ich konnte ihn nicht hören. Meine Ohren waren verschlagen. Zudem hatte ich den Eindruck, dass er mich nicht mochte, weil ich mich lieber mit der Frau unterhalten hätte. Er schnitt ein Gesicht und stieß einen verächtlichen Ton aus, was mich unangenehm berührte. Ich bewahrte die Fassung, um auf mein und ihr Gemüt positiv zu wirken, und dachte plötzlich, ohne es zu wollen oder die Gedanken steuern zu können, an Wundpolster. Er formulierte und ich kapierte, dass er nach einem sicheren Weg fragte. Ich lächelte, erleichtert, weil nun meine Ohren wieder funktionierten, oder doch nur aus einem Ehrgefühl heraus, da ich seinen strengen Ton auch einzuordnen wusste, ohne ihm blind folgen zu müssen. Die Worte separierten sich in meinem Ohr zu aufeinanderprallenden Sinneinheiten, überschwemmten die Knöchelchen mit Knistern, zerbröselten die Hügel, den Sender, das Gras. Ich beschrieb die Geröllhalde, über die der sichere Weg führte, durch die Wüste, die, mit Plastik verdreckt, ein Wasserloch bot. Ich brachte ihn zum Lachen vielleicht wegen der Wüste, die mir einfiel und trocken über die Lippen kam. Er suchte einen sicheren Weg und nicht den kürzesten, wiederholte er, was ich dem Rauschen der Luft entnahm. Er sprach etwas abgehackt, oder stotterte mein Gehör, als ich nur mehr Bahnhof verstand, dorthin also, zum Bahnhof. Die Frau trug Turnschuhe. Praktisch alles an ihr war Importware. Ihr Körper war es und seiner auch. Beide Personen waren gleich alt. Seine grauen Schläfen glänzten, als würde er an diesen Stellen silbern. Er hatte große Hände und brauchte eine Brille. Er hielt sie in der Hand und setzte sie auf, um auf den Plan zu schauen, den die Frau festhielt. Es war mir erst jetzt aufgefallen, so gewöhnt war ich schon daran, dass die Frau ein Kopftuch trug, das ihr Haar vollkommen abdeckte und nur das Gesicht freiließ. Dass ich eines Tages so daran gewöhnt war, dass mir ein Kopftuch gar nicht mehr auffiel, war schon bemerkenswert. Ich finde Kopftücher meistens übersehenswert. Mir fallen sonst nicht mal Nonnen auf, diese Religionsbräute par excellence. Sie gehören auch einem Harem an. Ihre Uniform ist Ausdruck höchster Geziemtheit, jeder Rausch wird bezwungen, der Exzess geregelt, erfolgt im Schlucken der Hostien. Die Ordnungshüterin trägt die Reizwäsche des Schattens, sie läuft auf Gottes Erdboden herum, versprochen, solange sie an den Aufschub der heiligen Nacht glaubt. Die Kopftuchträgerin hier vor mir trägt die gleiche Maske. Sie ist ein Zeichen, das der Mann setzt. Sie ist die Trägerin eines Geheimnisses, denn was denkt sie jetzt? Nonnen kleiden sich nach christlicher Ordnung und stehen im Schatten der prächtig gewandeten Priester. Als ich dieses Spiel begriff, war es leicht mit dem Kirchenaustritt und der Entfernung aller Kopftücher. Nun stand diese Verschleierte vor mir, die dem Mann gehörte, der seine Brille auf den Nasenrücken sinken ließ und sich dem Walde zudrehte. Er steckte die Daumen unter die Gurte seines Rucksackes. Mein Blick tastete seinen Handrücken ab und kletterte über den Gurt hoch, die Kragenkante des T-Shirts entlang und blieb an seinem Gesicht hängen. Er trug keinen Schmuck, aber ein Streifen Licht, eine Art weiße Spur, sie lief quer über seine Stirn, strahlte auf und erlosch. Ich stierte gleich wieder auf seine Pfoten, als wäre etwas Ungewöhnliches auch daran zu sichten. Ich schüttelte den Kopf und konzentrierte mich auf die realen Umstände, dass es sich um Hände und nicht um Pfoten handelte. An den Händen war nichts Auffälliges zu entdecken, oder doch? War das nicht eine weiße Spur, die ich sah? Hatte er seinen Ehering von seiner gebräunten Hand abgenommen? Vielleicht weil er fremdging mit der Dame? Wie passte das mit dem Kopftuch zusammen? Die Turnschuhe waren weiß und mir schien, die beiden standen nicht wirklich auf dem Boden, sondern schwebten über der Erde. Der Mann legte den Kopf schief und ich wiederholte die Wegbeschreibung. Der Graben, der Hohlweg, der Sender, es gebe andere Wege, aber die seien matschig. Wolken türmten sich zu blaugrauem Tüll. Es wurde kühl und während ich den Weg noch einmal zeigte, in die Mulde hinein, auf den Hügel zu, den Kurven nach und in eine Kehre, fragte der Mann, ob der Weg durch den Graben gefährlich sei. Ich hob mein Spielbein und setzte den Fuß auf das Pedal, und verneinte die Frage. Dann zeigte ich auf die Uhr und meinte, mich nach Hause verfügen zu müssen. Ehrlich gesagt war ich verwirrt, weil dieser Mann mich lange und scharf ansah, als läse er von meinen Augen ab, dass ich log. Sie können gleich nach Hause fahren, sagte er. Im Rasenmäher wird genug Benzin sein. Wie bitte? Hörte ich recht? Woher wusste er, dass ich zur Tankstelle fahren wollte, woher wusste er vom Rasenmäher, und vom Rasen? Ich musste mich verhört haben. Er legte seiner Frau den Arm um die Schulter und zeigte auf den Wald. Dort ist der rechte Weg?, fragte er. Sicher, sagte ich. Gehe hin, sagte er. Ich musste ein Lachen unterdrücken, wollte ihn nicht provozieren. Es hatte hier einmal eine Irrenanstalt gegeben. Ich war ein wenig perplex über seinen weihevollen Ton und stand noch eine Weile auf der Straße. Ich sah dem Paar nach und als er am Waldrand seine Hand nach den Büschen streckte, reiften die Himbeeren im selben Augenblicke, dass mir der Mund offen blieb. Ob die Füße in den Turnschuhen den Boden berührten, das konnte ich nicht sehen, aber mir schien, sie schwebten wirklich. Ich fuhr zur Tankstelle, zapfte Benzin und fuhr mit dem Kanister nach Hause. Hätte ich seinen Worten Glauben geschenkt, hätte ich mir den Weg zur Tankstelle und den Benzinkauf ersparen können. Niemals wieder, so sagte nun eine Stimme in mir, wirst du diesen Rasenmäher mit Benzin füllen müssen. Du kannst Rasenmähen bis in alle Ewigkeit und wirst kein Benzin mehr benötigen. Doch praktisch fand ich diesen Gedanken nicht, denn eigentlich wäre es klüger gewesen, das Gras nicht mehr wachsen zu lassen. Ich mähte also mein Rasenstück und wartete ab. Es regnete, es schien die Sonne, alles im richtigen Wechsel. Wochen später rumpelte ich über den Weg, in die Mulde, über den Hügel, in den Hohlweg. Die Büsche, die Zweige, das Laub. Das Paar war längst über alle Berge. Aber mir war, als sähe ich das rote Ding durch das Geäst. Der Boden war weich und feucht vom Tau. Der Rucksack lag verheddert im Gesträuch. Ich lehnte mich noch an den Stamm der Buche und nahm einen Stock vom Boden. Sollte ich stochern und die Schlaufe aus der Verschlingung lösen? Minutenlang stand ich da und überlegte, den Rucksack zu schnappen. Und wieder Wochen später geschah Folgendes. Das Gras war seit dem letzten Mähen nicht gewachsen und der Rasenmäher blieb mit Benzin gefüllt. Ich beschloss, nun zur Stelle zurückzufahren, wo ich den Rucksack liegen gelassen hatte. Ich hatte ihn kaum zwischen den Fingern, da zerflossen die Fasern und legten sich auf die Kuppen. Als ich meine Brille aufsetzend die Augen scharfstellte, sah ich, dass der Rucksack nur Papier enthielt. Ich kenne viele Pläne unserer Gegend auswendig wie die Schaltkreise der Stromanlagen in den umliegenden Häusern, die Parzellen und den Grundstückskataster, die Baupläne, die ich als Baumeister zeichnete. Aber noch nie sah ich eine Art Schatzkarte, die zu mir, auf mein Grundstück führte. Ich hatte nichts mit diesem Mann und dieser Frau zu tun und doch war mein Haus von den Punkten umzingelt und mit einem Kreuz gekennzeichnet. Ich schwieg, aber ziemlich beunruhigt. Alles okay?, fragte die Stimme in mir. Mein Herz raste. Es ist Jahre her, dass ich diese Zeichnung mitgenommen hatte. Damals waren die Kinder noch klein und...


Lydia Mischkulnig, geboren in Klagenfurt, lebt und arbeitet meist in Wien. Mehrfach ausgezeichnet, u.?a. Bertelsmann-Literaturpreis beim Ingeborg-Bachmann-Preis (1996), manuskripte-Preis (2002) und Elias-Canetti-Stipendium der Stadt Wien (2007). Bei Haymon erschienen: "Hollywood im Winter". Roman (1996, HAYMONtb 2012), "Macht euch keine Sorgen". Neun Heimsuchungen (2009) sowie die Romane "Schwestern der Angst" (2010) und "Vom Gebrauch der Wünsche" (2014), zuletzt der Erzählband "Die Paradiesmaschine" (2016).



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