E-Book, Deutsch, 288 Seiten, Format (B × H): 130 mm x 205 mm, Gewicht: 400 g
Mischkulnig Beau Rivage: eine Rückkehr
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7011-8387-6
Verlag: Leykam
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 288 Seiten, Format (B × H): 130 mm x 205 mm, Gewicht: 400 g
ISBN: 978-3-7011-8387-6
Verlag: Leykam
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der Völkerrechtler Karl Ofracek kehrt von einem Einsatz aus Afghanistan nach Genf zurück. Die Ankunft gerät zur Heimsuchung. Ein kraftvoller, vielschichtiger Roman über die Suche nach dem eigenen Platz in einer brüchigen Welt.
Hotel Beau Rivage, schönes Ufer: Hier landet Karl nach seiner Rückkehr und soll seinen Bericht für das Internationale Rote Kreuz ablegen. Er war ein Jahr lang in Afghanistan, hat Einsätze und abgeschobene Menschen betreut. Jetzt ist er selbst der Rückkehrer – und fühlt sich fremd. Seine Frau hat ihn nicht vom Flughafen abgeholt, seine minderjährige Tochter ist in Nöten und ein zwielichtiger Bekannter seines Vaters will ihn in dubiose Geschäfte verwickeln.
Karl, der einst als Weltverbesserer loszog, ist mit einer Realität konfrontiert, in der das Gute keinen Platz zu haben scheint. Globale und private Zwänge vermengen sich. Was wäre »die beste aller Welten« für Karl? Lydia Mischkulnig erzählt von den leisen, unerhörten Momenten, in denen das Leben auseinanderbricht und sich neu formt. Ein kraftvoller, vielschichtiger, spannender Roman über Familie, Liebe und die Suche nach dem »eigenen« Platz in einer brüchigen Welt.
Autoren/Hrsg.
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01
• Die Route kostete ihn so viel Zeit wie die Erzählung über die Menschheit. Zunächst war die Schweiz noch weit weg. Karl Ofracek wartete in Kabul auf die Messung seiner Temperatur, eine Vorsichtsmaßnahme, die grotesk war. Jederzeit könnte ein Anschlag sein Schicksal besiegeln. Nach Jahren der Pandemie waren die Maßnahmen gegen Corona in Europa längst eingestellt. Hier aber wurde Fieber gemessen. Ein Irrwitz. Ofracek funktionierte, blieb bei der Sache. Sein Augenmerk war auf eine besondere Fracht gerichtet. Die Zeit im eigenen Körper stand still, die Anspannung drohte ihn zu zerreißen. Er reagierte vegetativ und sorgte für Widerspruch. Sensationen wie plötzliches Fieber, das auf den Druck antwortete, traten auf. Ofracek erlebte das Schweißbad wie in Zeitlupe. Passagiere, Diplomaten und Angestellte im Dienst aus aller Herren- und Frauenländer standen vor dem Gate in der Warteschlange. Ihre Disziplin im allgemeinen Chaos erschien paradox. Vor ein paar Jahren waren die Massen ausgerastet, Menschen waren niedergetrampelt worden oder hingen im Stacheldraht. Sie brüllten, sie starben, man stieg über sie hinweg, um zum Gate durchzubrechen. Und die kruden neuen Machthaber sorgten heute für Fiebermesser. In der Halle stand ein Wasserspender für die Fluggäste des diplomatischen Corps zur Verfügung. Ofracek scherte aus und steuerte darauf zu. Er drückte den Knopf, beugte sich hinunter und stülpte die Lippen über den aufschießenden Wasserstrahl. Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Ein schmächtiger Mann in einer weit geschnittenen, kragenlosen Kurta putzte danach beflissen mit Desinfektionsmittel den Druckknopf, die Austrittstelle des Wasserstrahls und das Becken. Ofracek steckte ihm seine letzte Münze zu. Die Kiste wurde durch die Halle gerollt und bahnte den Weg für eine Frau, deren Schleier, ein Hidschab, verrutscht war. Sie trug ihre Papiere wie Gebetstafeln vor sich her. Die Kiste war groß und länglich, schlingerte und hopste über die Schwelle der Schiebetür. Ofracek vernahm ein Geräusch, als ob die Kiste rülpste. Da wurde die Frau hektisch und hastete ihr hinterher. Der Schleier enthüllte ihren Haaransatz. Sie zupfte den Stoff zurecht, aber ein Wächter drehte sich schon in ihre Richtung. Ofraceks Haare waren zurückgeklatscht, ein Gespinst aus melierten Strähnen, gebändigt mit Wachs. Den Bart hatte er seit Wochen stehen lassen, nun überwucherte er sein Gesicht. Ofracek taxierte den Talib, der die Frau ins Auge gefasst hatte. Dieser schulterte jetzt seine Kalaschnikow und wechselte ein paar Worte mit den anderen Wächtern. Die Frau sah verstohlen hin. Der Wächter stob auf sie zu. In seinem Patronengurt glänzte die Munition. Das Gesicht wirkte streng und stumpf. Die anderen blickten starr geradeaus, schablonierte Larven mit ausgeschnittenen Löchern für die verengte Perspektive. Wehe! Jede falsche Bewegung wurde registriert. Dann flitzten die Augen hin und her, bis sie die Beute fokussiert hatten. Die Kiste glitt durch das Gate und sprang von dort über die Schwelle hinaus ins Sonnenlicht. Als die Frau nachsetzte, verstellte ihr der Wächter den Weg. Die Parallelaktion war bisher gut verlaufen. Die anhaltenden Wirren auch nach dem Abzug der Besatzungsmacht hatten geholfen, die tatsächliche Absicht zu verbergen. Die idealen Umstände konnte man sich aber nicht aussuchen. Die Kiste stand in der prallen Sonne. Niemand kümmerte sich um das Frachtgut. Auf dem Rollfeld wartete schon das Flugzeug der türkischen Airline. Nun brachte der Wächter seine Kalaschnikow in Anschlag, ein anderer zog die Peitsche aus der Gürtelschlaufe und kam näher. Die Frau wehrte sich gegen die Bedrohung in einer der Landessprachen, streckte ihnen Papiere hin und kreischte, dass sie das Land verlassen durfte. Sie sei österreichische Staatsbürgerin. Der Wächter holte mit der Peitsche aus, einem dicken Gummilappen. Das Gekreische der Frau mischte sich mit der Ungeduld der Schlange stehenden Passagiere, die berechtigt waren auszureisen. Der Tumult schwoll an und alle Wächter legten die Hände an die Waffen. Die Peitsche verharrte an ihrem Zenit. Ofracek schubste die Frau zur Seite, stellte sich breitbeinig vor den Peitsche schwingenden Talib, fuchtelte mit dem Dienstpass vor seiner Nase. Karl Ofracek, Führungskraft, Delegierter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz. Die Brosche, der IKRK-Badge, steckte an seinem Parka. Ofraceks Körpergröße schien den Mann eher einzuschüchtern als die Autorität seines Amtes. Ein Vernunftmensch in Gestalt eines alten weißen Mannes mit markantem Gesicht im Auftrag der Weltverbesserung hielt hier stand und strotzte vor Überzeugung. Immer wieder hatte er sich gewundert, dass seine Haltung, für die Schwachen zu kämpfen, aus den Poren seines Körpers zu dringen schien, ihn mit einer Aura versah, als trüge er die unsichtbare Rüstung einer Schutzmacht. Er fühlte sich nicht unverwundbar, er war sich selbst in diesem Augenblick egal, seine Mission war wichtig: die Überführung oder auch Entführung, wie er es nannte, und Rückholung einer Zwangsbraut als Akt der Zivilcourage. Die Rettung einer fünfzehnjährigen Österreicherin mit afghanischen Wurzeln. Die Wächter spürten diese unerbittliche Entschlossenheit und weil der Aufruhr im Flughafengebäude nicht mehr aufzuhalten war und sich auch auf das Flugfeld ausweiten konnte, wichen sie zurück, klaubten nur mehr in den Papieren der Frau herum und versuchten zu lesen. Sie konnten es nicht, aber taten so, als prüften sie die Identität. Der Augenblick ihrer Scham war zu nützen. Karl Ofracek forderte die Papiere zurück und trieb die Frau aus dem Gate. Sie warf sich mit Klagerufen auf die Kiste und er folgte unbehelligt. Ein paar Leute in Overalls der türkischen Airline traten heran und rollten die Kiste zum Flugzeug. Ofracek packte die Frau und drückte sie tröstend an die Brust. Sie duckte sich in seinen Schutz, dann liefen sie über das Flugfeld. Ein klappriger Bus fuhr ihnen hinterher. Sie waren schneller, stürmten die Gangway hoch und betraten in dem Moment türkisches Hoheitsgebiet. Stewardessen erwarteten sie schon. Die Kiste wurde am Fuß der Gangway abgeladen. Ein Durcheinander von Gepäckträgern war inszeniert, sodass niemand vom Terminal aus sehen konnte, dass der Deckel der Kiste geöffnet wurde und ein schlankes, in weiße Tücher gehülltes Mädchen heraussprang, die Gangway hinauffegte. Die Tür wurde geschlossen und die Kiste zum Schein übertrieben umständlich in den Bauch der Maschine verfrachtet. Der Abflug funktionierte reibungslos, die Stimme des Towers krachte im Cockpit. Die Piloten waren unaufgeregt, für sie herrschte Routine. Die Verzweiflung der Zurückgelassenen vor dem Flughafen war nicht mehr vernehmbar. Aber das Gerangel war vorstellbar, die panischen Menschen, die damals das Land mit den Besatzern hatten verlassen wollen, wie sie die Security überrannt hatten, vorbeipreschten auf das Flugfeld. Wären die Fenster im Flieger geöffnet gewesen, hätte man den Wahnsinn noch heute riechen können. Es stank nach Eisen, Kot und Kerosin, bis in den hoffnungslosen Himmel über dem Land und in den sich abschottenden Westen hinein, wo die Sonne unterzugehen begann, um anderntags blutrot im Osten wieder aufzugehen. Die Frau mit dem verrutschten Schleier schaute sich an Bord nach Karl um. Sie stieß erleichtert einen Seufzer aus. Damit dankte sie ihm und er ihr mit einem Blick und einem Nicken. Sie nahm den Schleier ab. Karl legte den Sicherheitsgurt an. Er vernahm die verängstigten Laute der Zwangsbraut, sah ihr Gesicht, blass und feucht vom Angstschweiß. Sie wimmerte und lechzte nach Wasser. Eine Stewardess brachte ihr eine Flasche Wasser, die junge Frau hatte keine Kraft, sie zu öffnen. Die Stewardess setzte sich zu ihr, öffnete den Verschluss. Die andere setzte die Flasche an und trank gierig, verschluckte sich, prustete los. Wie eine Prinzessin durfte sie in der ersten Klasse sitzen und Wasser aus einem goldenen Becher trinken. Diese Behandlung hätte auch Karls Tochter gefallen. Das Flugzeug stieg in die Lüfte, und Karl kamen die letzten anderthalb Jahre in dem fremden Land wie eine Ewigkeit vor. Seine Mission war jetzt erledigt. Die Genugtuung würde er spüren, sobald er festen Boden unter den Füßen hätte. Er streckte die Beine aus, entspannte sich. Er blickte hinunter auf die Stadt, wissend, dass er nie mehr wiederkommen würde. Er segnete das schöne Land, die Menschen, ihren Kampf gegen die Einsamkeit, die Korruption und die rohe Gewalt. Er bewunderte den Ernst des Gebets, das Durchhalten der Frauen. Die herbe Landschaft schrumpfte zu einem Relief. Gebirge und Wüste und fruchtbare Gebiete quollen ineinander und wirkten weich wie aus Teig. Karl Ofracek knetete diese Masse in Gedanken und wandte sich seiner Rückkehr zu. Die Reise über Istanbul und die Ankunft in Zürich verliefen wie erwartet. Auffällig war, dass viele Passanten Notiz von ihm nahmen, als könnte man ihm das überstandene Abenteuer ansehen. Er trat durch die...