E-Book, Deutsch, 464 Seiten
Mischke Kalte Fährte
15001. Auflage 2015
ISBN: 978-3-8270-7799-8
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, 464 Seiten
ISBN: 978-3-8270-7799-8
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Susanne Mischke wurde 1960 in Kempten geboren und lebt heute in Wertach. Sie war mehrere Jahre Präsidentin der »Sisters in Crime« und erschrieb sich mit ihren fesselnden Kriminalromanen eine große Fangemeinde. Für das Buch »Wer nicht hören will, muß fühlen« erhielt sie die »Agathe«, den Frauen-Krimi-Preis der Stadt Wiesbaden. Ihre Hannover-Krimis haben über die Grenzen Niedersachsens hinaus großen Erfolg.
Autoren/Hrsg.
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Andrej wusste, dass sie ihn beobachteten. Bemüht, nicht auf die Ritzen der Gehwegplatten zu treten, trottete er die Straße hinunter, vorbei an Garagentoren und Vorgärten, in denen weiß blühende Sträucher einen giftig-süßen Duft verströmten. Er hoffte, sein Trödeln würde sie veranlassen, nach Hause zu gehen und ihn in Ruhe zu lassen. Doch eigentlich war ihm klar, dass das nicht passieren würde.
Am Montag hatten sie sein Pausenbrot verlangt, am Dienstag hatte er ihnen drei Euro von seinem Ersparten gegeben, und gestern noch einmal fünf, die er aus dem Portemonnaie seiner Mutter genommen hatte. »Damit dir unterwegs nichts passiert, du kleiner Scheißer«, hatte Johannes gesagt. Im Grunde, das ahnte Andrej, ging es ihnen gar nicht nur ums Geld. Sie würden ihn verprügeln, das war so unausweichlich wie die Tatsache, dass ein wackeliger Zahn früher oder später herausfällt. Also konnte es ebenso gut heute passieren.
Seine Bummelei kam ihm plötzlich erbärmlich vor, zeigte sie den anderen doch nur, dass er Angst hatte. Also ging er schneller weiter, obwohl ihm dabei ganz grummelig im Magen wurde. Das alles konnte nur geschehen, weil Ivo krank war. Seit Samstag schon hatte er Fieber und war deshalb nicht in der Schule gewesen.
Sie waren in der Einfahrt zu einem Garagenhof stehen geblieben und traten von einem Fuß auf den anderen, wie Fußballspieler, die auf den Anpfiff warteten. Als Andrej schon fast an ihnen vorbeigegangen war, setzte ihm Johannes mit ein paar langen Schritten nach und überholte ihn. »Wohin denn so eilig, kleiner Scheißer?«
Andrej blieb stehen.
»He, ich rede mit dir!«
»Nach Hause«, flüsterte Andrej.
»In deine verfickte Kanakensiedlung?«
Andrej schwieg.
»Was ist mit dem Wegzoll?«
»Hab ich nicht dabei«, nuschelte Andrej.
»Er hat nichts dabei!«, wiederholte Johannes gespielt fassungslos und drehte sich mit ratlos ausgebreiteten Armen zu seinen Freunden um. Torsten und Lukas grinsten. Sie waren Brüder, hatten dieselben breiten Nasen, prallen Wangen und aufgeworfenen Oberlippen und taten immer, was Johannes sagte. Alle drei waren fast einen Kopf größer als Andrej. Wenn Ivo nur hier wäre!
»Hast du Schiss?«, fragte Johannes.
»Ja, klar, guck doch mal, wie der zittert«, sagte Lukas.
Sie umringten ihn und begannen, Andrej zwischen sich hin und her zu schubsen wie einen Ball, bis er über ein ausgestrecktes Bein stolperte und lang hinfiel. Johannes riss ihn am Arm in die Höhe. Andrejs Handballen waren aufgeschürft und brannten. Er kam gar nicht auf den Gedanken, sich zu wehren, was Johannes noch gereizter zu machen schien. Dicht vor Andrejs Gesicht zerhackte er mit ein paar Karateschlägen die Luft.
»Gleich pisst er sich in die Hosen«, kicherte Torsten.
Blitzschnell und ohne Vorwarnung fuhr Johannes’ Faust Andrej in den Magen. Der krümmte sich.
»Wie höflich er ist, er verbeugt sich«, lachte Lukas.
Andrej rang nach Luft, kämpfte mit einem Brechreiz und den aufsteigenden Tränen.
Ein silberner Smart näherte sich, wurde langsamer und hielt neben ihnen an. Silke Fosshage, die Kunstlehrerin. Sie war neu an der Schule und jung, jedenfalls jünger als die anderen Lehrerinnen. Der Unterricht entglitt ihr stets nach wenigen Minuten und endete im Chaos, aber Andrej mochte ihre sanfte Stimme und ihre großen hellbraunen Kuhaugen.
Jetzt stieg sie aus. Kam näher in ihrem bunten Flatterrock und den langen Haaren, die so rot waren wie ein Feuerwehrauto. »Was ist da los?« Sie hatte die Hände in die Seiten gestützt und musterte die kleine Gruppe argwöhnisch.
Die vier Jungs blickten die Lehrerin finster an, am finstersten Andrej. Warum fuhr sie nicht einfach weiter? Noch ein paar Minuten, dann hätte er die Sache überstanden gehabt. Wenn sie sich jetzt einmischte, würde bei der nächsten Gelegenheit alles nur noch schlimmer werden.
»Nichts«, antwortete Johannes und grinste sie unter seiner umgedrehten Baseballkappe unverschämt an.
»Andrej, steig ein, ich fahr dich nach Hause.«
Andrej schluckte. Kapierte sie denn nicht, wie lächerlich sie ihn damit machte? Und was würde seine Mutter sagen, oder gar sein Vater, wenn er von einer Lehrerin im Auto nach Hause gebracht wurde? Nie im Leben würden sie ihm glauben, dass er nichts angestellt hatte, und selbst wenn … Seine Mutter war eifrig darum bemüht, dass ihre Kinder »so wie die anderen« waren. Damit meinte sie nicht die Nachbarskinder, sondern die aus den Häusern an der Hauptstraße. Häuser, in denen nur eine Familie wohnte und vor denen kein Müll lag und kein Gerümpel. Häuser wie die von Johannes und Torsten und Lukas. Andrej und sein Bruder Ivo wurden dazu angehalten, in der Schule brav zu sein, keine Schimpfwörter zu benutzen und außerhalb der Wohnung nur deutsch zu sprechen. Auf gar keinen Fall jedoch sollten sie auffallen, weder unangenehm noch sonst irgendwie. Von einer Lehrerin nach Hause gefahren zu werden, das war Andrej klar, ohne dass er darüber nachdenken musste, war das Gegenteil von »so wie die anderen« sein.
Es gab jetzt nur noch eine Möglichkeit. Er bewegte sich ein paar Schritte auf die Lehrerin zu, tat so, als wollte er ihrer Aufforderung nachkommen, schlug dann aber einen Haken und rannte davon. Seine kurzen Beine flogen nur so über das Pflaster, der Schulranzen klopfte ihm auf den Rücken und er fragte sich, ob seine Peiniger es wagen würden, ihn vor den Augen der Lehrerin zu verfolgen. Gut möglich. Gegen Typen wie die kam die Fosshage doch eh nicht an. Wäre doch bloß der Sportlehrer vorbeigekommen! Aber Andrej hörte nur das Aufklatschen seiner eigenen Sohlen und die Dose mit den Stiften, die wild im Ranzen herumklapperte. Jetzt erst fiel ihm ein, dass es sinnvoller gewesen wäre, in die andere Richtung zu laufen, nach Hause, anstatt zurück in Richtung Schule. Aber das war nun nicht mehr zu ändern. Er rannte, bis seine Lungen brannten. Die Grundschule und die Wohnhäuser hatte er längst hinter sich gelassen, jetzt kam nur noch ein graues Bauernhaus, das ein Stück vom Weg entfernt stand. Vor dem Haus qualmte ein Feuer. Eine Frau stand daneben, sie hielt eine Axt in der Hand und blickte ihm böse nach, als er vorbeirannte. Bestimmt eine Hexe!
Allmählich ließen seine Kräfte nach, er wurde langsamer und bog in einen Feldweg ein, der sich eine Anhöhe hinaufschlängelte. Zwischen den Treckerfurchen wuchs hohes Gras. Erst als er den Waldrand erreichte, blieb er stehen. Stiche fuhren durch seinen Oberkörper, er rang hektisch nach Atem, aber die Luft erreichte seine Lungen kaum. Er stützte die Hände auf die Knie, Speichel lief aus seinem Mund. Ein paar Minuten lang verharrte er so, bis er allmählich wieder Luft bekam und das Stechen nachließ. Dann richtete er sich auf und schaute sich um. Den Weg säumten Farne, zwischen denen sich ein Stapel dicker, geschälter Baumstämme auftürmte. Andrej streifte seinen Ranzen ab und kletterte hinauf. Eine Duftwolke umfing ihn, ähnlich wie das Schaumbad, das seine Mutter hin und wieder benutzte. Oben setzte er sich hin und kniff die Augen zusammen. Weit und breit war kein Mensch zu sehen, und langsam wich die Spannung aus seinem Körper. Die Sonne schien, aber von Westen drückte eine Wolkenwand herein. Hinter dem Dorf leuchteten zwei weiße Rechtecke aus dem Dunst, wie hingestreute Würfel. Im Dorf, wo auch die Schule war, lebten die Einheimischen und in den zwei Würfeln die Fremden. Andrej und Ivo waren im Krankenhaus in Göttingen geboren worden, so wie die meisten seiner Schulkameraden, aber dennoch gehörten sie zu den Fremden. Über den Grund dafür hatte er sich noch nie den Kopf zerbrochen und jetzt war erst recht nicht der Zeitpunkt dafür.
Verdammt, er könnte längst zu Hause sein, wäre er nicht in die falsche Richtung geflohen. Saublöd von ihm. Und was jetzt? Am besten wäre es, wenn er hier wartete und später zurückging. Aber wie lange warten? Ab wann konnte er sicher sein, dass sie ihm nicht mehr auflauerten? Wenn es dunkel wurde? Aber es wurde jetzt immer erst spät dunkel. Seine Mutter würde sich Sorgen machen und wütend werden, und noch wütender wäre sein Vater. Falls der zu Hause war. Das wusste man bei ihm leider nie im Voraus. Andrej saß in der Falle. Das Dorf bestand mehr oder weniger aus der Hauptstraße, von der kurze Straßen abzweigten, wie die Rippen von einer Wirbelsäule. Schwer möglich, den Ort zu durchqueren, ohne von seinen Feinden gesehen zu werden. Und vor Andrej lag der Wald. Unweigerlich musste er an die unheimlichen Geschehnisse denken, die sich in Wäldern abspielten, und an die Wesen, die dort wohnten: Wölfe, Luchse, Wildschweine, Schlangen. Außerdem Räuber, Hexen und fiese, krüppelige Zwerge. Aber dieser Wald war nicht besonders groß, fiel Andrej ein. Wenn er am Wohnzimmerfenster stand, konnte er weit in die Landschaft schauen und der Wald bedeckte lediglich die Kuppe des Hügels, hinter dem immer die Sonne unterging. Wie eine Mütze. Wenn er diesem Weg folgte und hinter dem Wald über die Felder ging, müsste er bei den Fischweihern herauskommen, dort wo Ivo schon einmal eine Forelle mit der Hand gefangen hatte. Ab da kannte er sich aus. Das Ganze war zwar ein Riesenumweg und er käme viel später als sonst nach Hause, aber das ließ sich nun einmal nicht ändern. Er kletterte wieder hinunter, nahm seinen Ranzen und trat in den Schatten des Waldes. Augenblicklich begann er zu frösteln. Obwohl die Sonne schon recht warm war, spürte man hier, im Dämmerlicht der Bäume, sofort eine erdige Kühle, die einem die Beine hinaufkroch. Vielleicht lag tief im Wald sogar noch Schnee. Er ging schneller, bis er fast schon wieder rannte. Ihm war kalt...