E-Book, Deutsch, Band 1, 416 Seiten
Reihe: Die Chroniken von Mistle End
Mirow Die Chroniken von Mistle End 1: Der Greif erwacht
20001. Auflage 2020
ISBN: 978-3-522-61098-8
Verlag: Thienemann-Esslinger
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Fantasy für Kinder ab 10, ein magisches Abenteuer in Schottland
E-Book, Deutsch, Band 1, 416 Seiten
Reihe: Die Chroniken von Mistle End
ISBN: 978-3-522-61098-8
Verlag: Thienemann-Esslinger
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Benedict Mirow wurde 1974 in München geboren. Der studierte Ethnologe und Regisseur (Max-Reinhardt Seminar, Wien) schreibt, dreht und produziert seit vielen Jahren Dokumentarfilme aus den Bereichen Musik, Kunst und Kultur und erstellt Filmportraits über Künstler wie Daniel Hope, Lang Lang oder Paulo Coelho. Er konnte mit seinen Filmen zahlreiche internationale Preise gewinnen, wie u.a. einen Diapason d'Or, einen International Classical Music Award und einen KLASSIK ECHO; am Erfolg des OSCAR® Gewinners Nirgendwo in Afrika von Caroline Link war er als Ethnologischer Berater maßgeblich beteiligt. Nach Zeiten in Afrika und Wien arbeitet Benedict Mirow nun in München. Er lebt mit seiner Frau und seiner Tochter in einer ausgebauten Scheune in den Bayerischen Highlands und schreibt Jugend-Fantasy-Romane.
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DER ZUG ANS ENDE DER WELT
Der Zug fuhr über eine Weiche, es gab einen scharfen Ruck, und sein Kopf schlug hart gegen die Fensterscheibe. Er stöhnte und rieb sich die pochende Stirn. Er war eingeschlafen und hatte schon wieder diesen Traum von dem brennenden Wald gehabt. Oder eher Albtraum. Wie vor ein paar Tagen. Er verzog das Gesicht und sah sich um. Die Gepäckablagen ihres Abteils waren bis unters Dach mit Kisten, Koffern und Taschen vollgestellt. Sie hatten schon früh die letzten Vororte Londons hinter sich gelassen, waren ein paarmal umgestiegen und befanden sich nun in diesem alten und völlig überheizten Zug nach Schottland.
Er schaute nach draußen. Schneeflocken wirbelten vor der vorbeiziehenden Hügellandschaft durch die Abenddämmerung.
Der Dauerregen Englands war irgendwann in dichtes Schneetreiben übergegangen und je weiter sie nach Norden fuhren, desto höher lag der Schnee auf den immer steiler werdenden Hängen rechts und links von der Bahnstrecke. Dabei waren sie nicht etwa auf dem Weg in die Winterferien, sondern unterwegs in ihr neues Zuhause – ein kleiner Ort hoch oben in den schottischen Highlands.
Mistle End.
»Cedrik?«
Eher End of the World.
»Cedrik!?«
Er sah auf. Dad.
Sein Vater Aengus O’Connor, den alle eigentlich immer nur O’Connor nannten, war jetzt wahrscheinlich schon zum hundertsten Mal aufgesprungen, um unruhig durch ihre Habseligkeiten zu wühlen. Er stand auf dem Sitzplatz neben ihm und sah ihn mit weit aufgerissenen Augen von oben herab an. »Cedrik, hast du auch ganz sicher die Kiste mit dem Lexikon der Fabelwesen mitgenommen!? Ich sehe sie nirgends!« Seine Stimme klang panisch.
Cedrik grinste müde. »Weil sie hinter dem Koffer steht, Dad! Du kannst sie da nicht sehen.«
Aengus O’Connor war Ende dreißig und hatte wie Cedrik braune Haare und leuchtend grüne Augen, die allerdings in seinem Fall hinter dicken Brillengläsern seltsam klein wirkten. Er war ein typischer Bücherwurm. Eine durchaus hilfreiche Eigenschaft als Wissenschaftler, Historiker und angesehener Experte für die Mythologie Großbritanniens. Als solcher war er noch vor Kurzem im »Königlichen Museum für Fabelwesen« in London angestellt gewesen.
Niemand hatte ahnen können, dass es nur wenige Tage nach Cedriks zwölftem Geburtstag schließen musste. Zu wenig Menschen interessierten sich noch für die alten Geschichten von Ungeheuern und magischen Kreaturen. Von einem Tag auf den anderen war Aengus arbeitslos.
Ihr Leben änderte sich schlagartig. Es gab wenig offene Stellen für Mythologen und da die beiden schon immer allein lebten, musste sein Vater letzten Endes eine Anstellung als Lehrer annehmen. In einem Ort, der so klein und unbedeutend zu sein schien, dass ihn Cedrik auf keiner Karte finden konnte, und wo ganz sicher kein Mensch leben wollte.
»Ein bescheuertes, kleines Dorf in den Bergen, voll schottischer Bergtrolle«, so hatte es Cedrik im Zorn genannt. Aber dann doch schweigend seinem Vater geholfen, ihre Habseligkeiten in die abgewetzten Koffer und Taschen zu packen. Er war erstaunt, als er merkte, dass sich ein kleiner Teil in ihm sogar auf die Berge freute. Und den Schnee. Viel war es ohnehin nicht, was er vermissen würde. Von seinem Freund Jack einmal abgesehen.
Die meisten Bücher hatte Aengus im Keller des Museums unterstellen können, für die wirklich wichtigen hatten sie einem benachbarten Weinhändler vier feste Holzkisten abgeschwatzt. Und am darauffolgenden Tag hatte Aengus O’Connor die Bahntickets nach Mistle End erhalten. 2. Klasse, für ihn und Cedrik. Ohne Rückfahrschein.
Sein Vater hatte sich wieder hingesetzt und schaute aus dem Fenster. »Ich wusste nicht, dass es hier so große Wälder gibt. Bäume, nichts als Bäume!«, sagte er. »Hier leben sicher Hirsche, vielleicht sogar Wölfe.«
Wölfe? Cedrik spürte, wie sein Herz schneller schlug. Er presste seine Stirn an die Scheibe und starrte auf die immer düsterer werdende Landschaft. Inzwischen waren die vorbeiziehenden Bäume im dichten Schneetreiben nur noch als schemenhafte Schatten zu erkennen. Was gab es noch in diesen unendlichen Wäldern? Er hatte das Gefühl, dass da draußen mehr auf ihn wartete, als Bäume und Schnee. Wölfe! Er lachte heiser und leckte sich über die trockenen Lippen. Je länger sie fuhren, desto aufgeregter wurde er. Es fühlte sich an wie ... Ankommen. Oder war es doch Heimweh? Er spürte ein Ziehen, eine Spannung tief in seinem Innern, die er nicht verstand. Aber die sich gut anfühlte.
Auf einmal sprach sein Vater leise weiter, so, als hätte er vergessen, dass er nicht allein im Abteil saß. Er flüsterte fast. »Vielleicht hier. Wäre ein perfekter Lebensraum.«
»Für uns?«, fragte Cedrik.
Sein Vater schreckte hoch. »Ach, nein«, sagte Aengus rasch. Er wirkte verunsichert.
Cedrik drehte sich hastig weg. Er hasste es, wenn sein Vater diesen traurigen Ausdruck in den Augen hatte. Den hatte er in den letzten Wochen viel zu oft gesehen.
Sein Vater holte Luft, wandte sich ihm zu und schenkte ihm ein vorsichtiges Lächeln, das den Kummer in seinem Blick nur unzureichend verbarg. »Du wirst sehen, das wird großartig«, sagte er mit rauer Stimme. »Wir haben ein eigenes Haus und endlich bekommst du ein Zimmer, ganz für dich allein.«
Cedrik lächelte, dann musste er schlucken und wandte sich ab. London. Die kleine Wohnung in Hackney, inmitten der Stadt, lag längst in weiter Ferne. Sein Bett unter dem Dachfenster. Die Vögel, die sich, seit er denken konnte, bei Sonnenaufgang vor seinem Fenster gesammelt hatten. Gestern noch hatten sie ihn besucht und für einen kleinen Moment fühlte er Traurigkeit in sich aufsteigen. Ich hoffe, sie finden mich in Mistle End wieder, dachte Cedrik.
Die Abteiltür wurde plötzlich aufgerissen und ein groß gewachsener Schaffner mit gezwirbeltem Schnauzbart, tadelloser Uniform und blank polierten Messingknöpfen musterte streng den Haufen Gepäckstücke, die das ganze Abteil blockierten.
»Die Fahrkarten.« Er hob arrogant eine Augenbraue. »Bitte!«
Cedrik wollte eben nach der kleinen Ledertasche mit den Reiseunterlagen greifen, als ihn sein Vater zurückhielt. »Lass! Ich mach das, Cedrik.« Er kramte nach den Tickets und reichte sie, als er sie endlich gefunden hatte, lächelnd dem Schaffner. »Hier, bitte schön!«, sagte Aengus O’Connor. »Wir fahren nach Mistle End.«
Der Schaffner zuckte zurück, achtete kaum noch auf die Tickets, sondern starrte Cedrik und seinen Vater an. Er schien nervös, auf seiner Stirn glänzten Schweißperlen. »Sie ... Hrrhmm.« Der Schaffner verschluckte sich, musste sich räuspern und klammerte sich am Türrahmen fest. »Sie können dann ... Wir sind gleich ... Hrr-hmm, entschuldigen Sie!« Die Tickets in seiner Hand zitterten. »Ich muss ... Mein Gott!«
Der Schaffner drückte Aengus hastig die Fahrkarten in die Hand und machte, ohne die beiden aus den Augen zu lassen, einen Schritt nach hinten, zurück in den Gang. Laut krachend schob er die Abteiltür hinter sich zu und stolperte davon.
Cedrik runzelte die Stirn. »Was war das denn?! Hast du gesehen, wie der uns angestarrt hat? Als hätten wir die Pest, oder so was!«
O’Connor wickelte sich bereits in seine Wintersachen. »Was hast du gesagt?« Cedrik war sofort klar, dass sein Vater wieder einmal nichts von dem mitbekommen hatte, was sich eben in ihrem Abteil abgespielt hatte. Er hatte sich seinen Schal und die heiß geliebte Mütze mit den Ohrenklappen angezogen und sagte: »Komm schon, wir müssen unsere Sachen runterräumen.«
Cedrik nickte tapfer und checkte ein letztes Mal die Empfangsbalken auf seinem Handy. Kein Netz, schon seit ein paar Stationen. Es wunderte ihn nicht, dass er noch keine Antwort von seinem Freund Jack bekommen hatte. Enttäuscht stopfte er das Telefon zurück in seine Jackentasche und begann mit seinem Vater die Gepäckstücke aus den Ablagen zu holen.
Es schepperte und die Tür wurde erneut aufgeschoben. Eine Frau, ganz in Schwarz, mit einem kleinen Hund auf dem Arm, streckte den Kopf ins Abteil. »Darf ich?«
Aengus richtete sich auf. »Bitte, natürlich«, erwiderte er freundlich. »Wir müssen ohnehin gleich aussteigen.«
Die ungewöhnlich grünen Augen der Frau blitzten hinter ihrer goldenen Brille auf.
»Soso. Sie wollen also nach ...« Sie zögerte.
»Mistle End«, ergänzte sein Vater freundlich.
Die Frau machte noch immer keine Anstalten, das Abteil zu betreten. Sie nickte, auf ihren Lippen ein schmales Lächeln. »Ein sehr besonderer Ort«, sagte sie.
Aengus warf Cedrik einen begeisterten Blick zu. Dann wandte er sich wieder an die Frau. »Ach, wie schön. Sind Sie etwa von dort?«
Die Frau lachte. Es klang künstlich. »Gott bewahre, nein. Aber ich kenne den einen oder anderen ... Bewohner.« Sie musterte Cedrik aus schmalen Augen, der Hund auf ihrem Arm knurrte.
Cedrik war verblüfft. Was hatte der Hund denn? Als er spürte, wie der Zug abbremste, wandte er sich nervös an seinen Vater. »Dad, wir müssen ...«
Sein Vater sah erschrocken aus dem Fenster. »Oh, du hast recht. Dann mal los!«
Aengus wollte eben eine Bücherkiste aus der Gepäckablage heben, als sich die Frau erstaunlich geschickt in ihr Abteil schlängelte und seinen Vater am Handgelenk packte. »Was wollen Sie dort?«, fuhr sie ihn an. »Was haben Sie vor, an diesem Ort?«
Der Hund auf ihrem Arm kläffte laut.
Sein Vater sah Frau und Hund verwirrt an, riss sich aber nicht los. »Ich bin ... ich bin Lehrer und werde dort unterrichten.«
Die Frau löste ihren Griff, fixierte ihn aber weiter misstrauisch. Der Hund bellte noch...