E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Mingels Dieses entsetzliche Glück
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-641-24451-4
Verlag: Penguin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-641-24451-4
Verlag: Penguin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Hollyhock, eine Kleinstadt irgendwo in Virginia, ist die Heimat von fünfzehn Menschen, deren Leben miteinander verbunden sind: Robert und Amy, die vereinbart haben, dass sie beide mit anderen schlafen dürfen, was Robert gar nicht will. Aiko, die glücklich sein könnte mit Alex, denn er strahlt eine Zuversicht aus, die sie von ihrem Bruder Kenji kennt. Doch das Glück will sich nicht einstellen. Dan, dessen Ehe in die Brüche ging und der ahnt, dass auch die seiner Schwester Amy auf der Kippe steht ... Mit großer Wärme und heiterer Melancholie erzählt Annette Mingels von Menschen auf der Durchreise in ihrem eigenen Leben. »Das Buch ist psychologisch ganz fein gestrickt. (…) Sehr unterhaltend zu lesen.« Elke Heidenreich, WDR
- Über unsere Neigung, einander misszuverstehen, und das schwierig-schöne Miteinander, das Leben heißt
- Für Leserinnen und Leser von Alice Munro, Elizabeth Strout und Peter Stamm
- »Annette Mingels ist eine Meisterin des Episodenromans. ›Dieses entsetzliche Glück‹ erzählt von der Melancholie der Mittelklasse und ist ihr bestes Buch.« Ursula März, DIE ZEIT
Autoren/Hrsg.
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1
RETTER
Ziemlich genau vor einem Jahr hatten Robert und Amy eine Vereinbarung getroffen: sie durften beide mit anderen schlafen. Das Problem war nur, dass Robert das gar nicht wollte.
Vielleicht war es auch so, dass niemand mit schlafen wollte, dachte er jetzt, als er den Zug bestieg, um die einstündige Heimfahrt anzutreten. Aber dann fiel ihm wieder die Praktikantin aus der Anzeigenabteilung ein, die einige Wochen lang Interesse signalisiert hatte. Das erste Mal war es ihm am Weihnachtsfest der Firma aufgefallen, und vielleicht wäre damals sogar etwas passiert, hätte er ihre Blicke, Komplimente und ihr Lachen, sobald er auch nur ansatzweise geistreich war, nicht als übertriebene Höflichkeit gedeutet. Die Vorstellung, dass er mit ihr hätte schlafen können, war berauschend. Gleichzeitig wusste er, dass er es nicht getan hätte. Das Mädchen war gerade mal drei Jahre älter als seine eigene Tochter, er dagegen fünfzig, und er sah keinen Tag jünger aus. Jedem war nur ein bestimmtes Maß an Selbstverleugnung gegeben, und seines war nicht besonders groß.
Sie hätten bestimmt, dachte er, als er die zweite Klasse in Richtung erster durchschritt, ein anderes Projekt finden können. Eine Weltreise vielleicht. Ein Umzug. Irgendein gemeinsames Hobby. Aber als sich Amys Adoptionspläne zerschlagen hatten – um genau zu sein, hatte Robert dies durch seinen Rückzieher getan –, schien ihr das einzige Mittel zur Rettung ihrer Ehe fremdzugehen.
Er hatte es eine ganze Zeit lang nicht gemerkt, und genau das, sagte Amy später, war bezeichnend. Tatsächlich war er darauf gekommen, weil sie neue Ohrringe trug, winzige farblose Diamanten, die man zwischen ihren dunklen Haaren nur sehen konnte, wenn das Licht sich in ihnen verfing. Sie hatte sofort gestanden, dass sie sie von Liam bekommen hatte, der mit ihr in der Stadtverwaltung arbeitete und dem Robert ein paar Mal dort begegnet war. »Warum sollte er dir Ohrringe schenken?«, fragte Robert verwirrt. Amy sah ihn nur gelangweilt an. Immerhin: es war keine große Liebe zwischen den beiden entbrannt. Es war einfach so, dass es sich als angenehmer Zeitvertreib erwiesen hatte, mit Liam zu schlafen und ihn auf diese Art ganz neu kennenzulernen. Glaubte man Amy, verbarg sich hinter dem harmlosen Aussehen Liams – seinem schwarzen Haar, das er immer mit zu viel Gel nach hinten kämmte, seiner dunklen Hornbrille, dem grau werdenden Bart und der behäbigen Figur eines ehemaligen Ringers – ein durchaus interessanter Mann. »Er ist fürsorglich«, sagte sie, »und er hat Humor.« »Dann soll er dir einen Kaffee und einen Witz servieren«, sagte Robert, und Amy erwiderte spitz: »Das tut er auch. Nach dem Sex.« Robert war sich nicht sicher, was schlimmer war: betrogen zu werden oder verspottet.
Es hatte einige unschöne Szenen gegeben. Sie hatten sich angeschrien, wie sie es nur in der allerersten Zeit ihrer Beziehung getan hatten. Als sie einander nach Tagen des Streitens und Schmollens versicherten, dass sie sich immer noch liebten, schien das Schlimmste überstanden. An diesem Tag gingen sie zusammen ins Bett, und Robert verdrängte die Bilder, die sich in seinem Kopf zusammenballten. Amy in den Armen von Liam, er über ihr, sie auf ihm. Wahrscheinlich erging es Amy ähnlich. Nachdem sie sich voneinander gelöst hatten, schien für einen Moment alles möglich, und als Amy in die Stille hinein sagte, dass sie trotzdem noch mit Liam schlafen wolle – mit Liam oder vielleicht auch einem anderen –, war Robert für einen Moment so erschöpft und befriedigt, dass er, tu das, sagte: »Dann tu das.«
Die eigentlichen Verhandlungen begannen am nächsten Tag, als sie sich – wie früher zu einer ihrer Familienkonferenzen – am Küchentisch zusammensetzten und auf einem Blatt Papier die neuen Regeln und Pflichten festlegten. »Was machen wir jetzt mit dem Zettel?«, fragte Robert. »Sollen wir ihn an die Küchenwand hängen, wie früher die von Anna?« Zu seiner Erleichterung fing Amy an zu lachen. Dann lachten sie beide, und als sie damit fertig waren, schliefen sie noch einmal miteinander.
Das Problem an ihrer Vereinbarung war seither, dass sie einseitig ausgeführt wurde. Offenbar war es so, dass sich Amy mühelos Gelegenheiten boten, und Robert war ihr heimlich dankbar, dass sie immerhin die ersten zwanzig Jahre ihrer Ehe auf so vieles verzichtet hatte. Trotzdem schmerzte es, sie bei einem anderen zu wissen. Eine ihrer Regeln war Diskretion – sowohl nach außen als auch im Umgang miteinander, und so wusste er zwar, wenn sie zu einem anderen Mann ging, aber mehr als seinen Vornamen verriet sie ihm nicht. In letzter Zeit war es ohnehin nur Liam gewesen.
Er hatte sich angewöhnt, sich mit Sport abzulenken. In Hollyhock hatte ein neues Sportstudio aufgemacht, und es war ihm wie ein Wink des Schicksals erschienen, als ihm eine junge, blond gelockte Frau einen Flyer in die Hand drückte, der einen kostenlosen Probemonat anpries. Als einer der ersten Kunden fand er sich in dem riesigen, von Spiegeln und blank polierten Maschinen funkelnden Raum ein, und als einer der Ersten meldete er sich für ein ganzes Jahr an. Dreimal die Woche mühte er sich nun an den Maschinen ab, und das Bild, das sich ihm bot, wenn er sich dabei in den Spiegeln beobachtete, wurde von Woche zu Woche erträglicher.
Vor dem Zugfenster zog die flache Landschaft Virginias vorbei, Wiesen, Wälder und Felder wechselten einander ab. Zwischen den Wipfeln der Bäume ragte der Wasserturm von Albemarle auf, dessen ovaler Speicher Robert immer an ein Ufo erinnerte. Das Korn war grün und kaum kniehoch, es würde noch Wochen brauchen, um zu reifen. Als Kind hatte er manchmal mit seinen Brüdern zwischen den Ähren gespielt, stets auf der Hut vor den Bauern, die wütend wurden, wenn sie die Eindringlinge entdeckten.
Auf der Sitzbank gegenüber hatte eine junge Frau mit drei kleinen Kindern Platz genommen. In ihrem Schoß lag ein Buch, aus dem sie den Kindern vorlas. Das Jüngste bohrte selbstvergessen in der Nase, die Augen auf die Bilder im Buch gerichtet. Das Älteste, ein dünnes, etwa zehnjähriges Mädchen mit wirren blonden Haaren und hellblauen Augen, sah manchmal zu Robert hin, als gelte es, ihn im Blick zu behalten. Die Mutter konnte höchstens Ende zwanzig sein, und Robert fragte sich, wie sie so früh so viele Kinder hatte bekommen können. Es musste einfach so geschehen sein, dachte er, ohne viel Aufhebens, dem Gesetz der Fortpflanzung gehorchend. Weil man sich liebte, weil es alle so machten, weil sich nichts Besseres bot. Bevor Amy schwanger wurde, hatten sie eine ganze Reihe von Gesprächen geführt, in denen sie die Vor- und Nachteile gegeneinander abwogen, und die, kaum war Anna geboren, absurd schienen. Trotzdem war es bei dem einen Kind geblieben – es hatte sich keine weitere Schwangerschaft ergeben, und sie hatten sich nicht ernsthaft darum bemüht. Erst als Anna zum College gegangen war, hatten sie noch einmal über Kinder gesprochen, aber da war es zu spät gewesen.
Vom vorderen Teil des Waggons näherte sich der Schaffner, der die Tickets kontrollierte. Robert hielt ihm seine Monatskarte hin, und der Schaffner nickte kurz. Dann wandte er sich der jungen Mutter zu, die begonnen hatte, in ihrer Tasche zu wühlen. Das Buch hatte sie vor sich auf den Tisch gelegt, die Kinder saßen und standen um sie herum und beobachteten interessiert ihre zunehmend nervöse Suche. Der Schaffner wandte den Blick nicht von ihr ab. Es war, als schauten sie alle einem Schauspiel zu, als führe die junge Frau hier etwas auf, von dem jeder bereits das Ende kannte, und die einzige Frage war, wie gut ihr die Vorstellung gelingen würde.
»Keine Panik«, sagte der Schaffner nun mit einer überraschend tiefen Stimme. »Ich komm dann noch mal zurück.«
Die Frau nickte und hielt sich die Hand vor den Mund, als müsse sie sich daran hindern aufzuschluchzen. Das kleinste der drei Kinder drängte sich an ihr Bein, und als die Mutter es mit einer unwilligen Bewegung wegschob, legte das größere Mädchen ihm beide Hände auf die Schultern. Keines der Kinder sagte ein Wort. Auf alle hatte sich eine unheimliche Stille gesenkt, in der das raschelnde Geräusch, mit dem die Frau ihre Tasche durchwühlte, ungebührlich laut schien.
Als der Schaffner zurückkam, hatte die Frau schon länger aufgehört zu suchen. Sie hatte sich das kleinste der Kinder auf den Schoß gezogen und ihren Kopf an seinen Rücken gelehnt, als wollte sie sich dahinter verstecken.
»Meine Geldbörse ist nicht da«, sagte sie tonlos, als der Schaffner neben ihr stand. »Ich weiß nicht, ob sie gestohlen wurde oder ob ich sie verloren habe – aber sie ist nicht da, und in der Geldbörse waren die Tickets.«
»Wohin fahren Sie?«, fragte der Schaffner. Er konnte nicht viel älter als sie sein, hatte aber ein breites, biederes Gesicht, das wahrscheinlich nie wirklich jugendlich ausgesehen hatte. »Nach Hollyhock?«
»Ja.« Die Frau nickte, und Robert hatte das Gefühl, dass sie zu jedem Ort ja gesagt hätte.
»Und wie alt sind die Kleinen?«
Offensichtlich versuchte der Schaffner, Ordnung in das Geschehen zu bringen, und Robert bewunderte ihn insgeheim für seine Redlichkeit.
»Vier«, sagte die Mutter und deutete auf das kleine Mädchen. »Sechs.« Sie legte die Hand auf die Schulter des Jungen, der grimmig auf den Boden schaute. »Und meine Älteste ist neun.«
Sie sah ernst und unglücklich aus und vermied es sorgsam, Robert oder einen anderen der Passagiere anzusehen. Auch den Schaffner lächelte sie nicht an, und doch schien es, als begebe sie sich vertrauensvoll in seine Obhut.
Nein, dachte Robert, nicht vertrauensvoll. Eher resigniert.
Der...




