E-Book, Deutsch, 176 Seiten
Milzner Hypnotherapie mit Archetypen
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-17-044405-8
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Alte Bilder des Unbewussten in moderne Therapie integrieren
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
ISBN: 978-3-17-044405-8
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Welt der Archetypen, von C. G. Jung einst erschlossen, kann mit den Mitteln der Hypnotherapie zu einem Ressourcenschatz werden. Dieses Buch lotet die Möglichkeiten aus, Archetypen der Heilung in einem modernen therapeutischen Setting zu nutzen und weiterzuentwickeln. Der Autor stellt wichtige Archetypen in ihrer Dynamik und ihrer Bildlichkeit dar. Anhand einer Vielzahl von Beispielen wird praxisnah gezeigt, wie die Welt der Archetypen in Trance zugänglich gemacht und in ihren Dynamiken verstanden werden kann. Das Buch ist vor allem für therapeutisch, beratend oder seelsorgerisch Tätige geschrieben worden, wendet sich aber auch an Klientinnen und Patienten sowie an alle, die an den Heilungsprozessen aus dem Unbewussten heraus Interesse haben.
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1 Mythen, Märchen und Archetypen in der therapeutischen Praxis
1.1 Alles beginnt mit den Mythen
Am Anfang der Psychotherapie als einer eigenständigen Behandlungsform stehen keine neurophysiologischen Befunde, sondern Mythen. Ödipus und Elektra, sowie der in unserer Zeit so dominante Narziss formten die Bilderwelt der frühen Psychoanalyse. Freud sah sich selbst mit einem mythisch zumindest eingefärbten Blick in der Tradition Josefs, des Traumdeuters am Hof des Pharao. In C. G. Jung erkannte er einen dem Siegfried der Nibelungen-Sage verwandten Typus, von dem er sich gewiss auch eine Nibelungen-Treue erwartet hatte. Neben Freud und später Jung ist vor allem Otto Rank ein Pionier der Arbeit mit dem Mythischen gewesen. Mythologisches Wissen ist mehr als eine Angelegenheit spezialisierter Geisteswissenschaftlerinnen und Kulturforscher. Vielmehr ist es für jeden Menschen, der seelische Tiefendimensionen therapeutisch und selbst erfahrend erforscht ein »unverzichtbares Instrument« (Grof 2019, S. 61). Dass es nach diesem Instrument ein Bedürfnis gibt, signalisieren nicht zuletzt die Unterhaltungsindustrie und die Kinder- und Jugendliteratur. Wenn Hollywood mit »Thor« die germanische Mythologie neu bebildert und dabei sogar die Regenbogenbrücke nicht vergisst und wenn die Percy-Jackson-Bücher den griechischen Götterhimmel neu in ihre Erzählungen einweben, dann folgen sie damit auch einem Bedürfnis nach Anschluss an die Mythenwelt. Einem Anschluss, der durch populäre Bücher und Filme im Übrigen leichter zu erreichen ist als durch schwerfällige Gelehrsamkeit. Mythen sind nicht unwissenschaftlich, sondern ergänzen die Wissenschaft (Hübner 2013). Waren sie in ihrer Urform etwas, was immer alle betraf – alle Angehörigen eines Stammes, einer Religion, einer Kultur –, so wurde es in der Moderne möglich, das Mythische gleichsam zu individualisieren. Das erlaubte auch dem einzelnen Menschen, aus sich selbst einen Mythos zu machen. Das vielleicht bekannteste Beispiel hierfür gab Friedrich Nietzsche mit seinem Werk »Ecce Homo«, das er mutmaßlich bereits im Tertiär-Stadium der Syphilis verfasste (Gschwend 2000). David Feinstein und Stanley Krippner meinen, dass jegliche Wahrnehmung von Wirklichkeit mythisch sei, weil unser Bewusstsein mythisch konstruiert ist. Auch bilden wir, ob wir es wollen oder nicht, individuelle Mythologien heraus. Im Unterschied zu früheren Zeitaltern sind diese jedoch nicht mehr an das Schicksal eines Volks oder einer Dorfgemeinschaft gebunden, sondern vor allem an die Entwicklung des eigenen Selbst (Feinstein & Krippner 1995). 1.2 Der Unterschied zwischen Märchen und Mythen
Mythen bleiben. Sie bilden so etwas wie »die Grundlage der Spiritualität, der geistigen Erfahrung der Natur« (Rätsch 2019, S. 11). Dies trifft auch auf manche Märchen zu; »Frau Holle« zum Beispiel nimmt Motive der »alten Göttin« (Storl 2014) auf. Märchen sind allerdings vielgestaltiger als Mythen, sie beziehen neben spirituellen Inhalten auch soziale Spannungsfelder und Rollenkonflikte mit ein. Ein Märchen ist zunächst einmal eine Geschichte. Eine Mär ist etwas erfundenes Erzähltes. Was dies Erzählte »märchenhaft« macht, sind die Einsprengsel von Fantastischem, nicht Realistischem. Es gibt fliegende Teppiche und Wunderlampen, in Vögel verwandelte Menschen und Häuser, die ihre Gestalt verändern. Goldtaler fallen vom Himmel, daumengroße Kinder trinken aus Blütenkelchen, und eine beleidigte Fee versetzt ein ganzes Schloss in jahrhundertelangen Schlaf. Dazu kommen Bilder des magischen Schreckens: Ein Mädchen liegt, von Zwergen beweint, mit einem vergifteten Apfelstück im Hals in einem gläsernen Sarg. Tote Seeräuber erwachen des Nachts zum Leben, Teufel quälen einen tapferen Königssohn und ein abgeschlagener Pferdekopf hängt an der Wand und spricht. Märchen haben in den 80er und 90er Jahren viele psychotherapeutisch Arbeitende beschäftigt. Mit dem Stärker-Werden der Neurowissenschaften ging das Interesse an ihnen jedoch merklich zurück; die Aufmerksamkeit der therapeutischen Welt wandte sich tendenziell von unbewussten Sphären ab und dem zu, was die Hirnforschung zu ermöglichen versprach. Wenn der Psychoanalytiker Wolfdietrich Siegmund recht hatte, so ist das Verblassen der Märchenspur im allzu hellen Licht der Neurowissenschaften ein schwerer Verlust. Siegmund meinte, dass dort, wo die Märchen nicht mehr sprechen, der Lebenspfad dunkler werde (Siegmund 1984). Ich würde es anders sagen: Die Welt der Märchen nicht zu kennen bedeutet, ein Stück seelischen Bodens unter den Füßen zu verlieren. Denn Märchen vermitteln ja ein tiefes seelisches Wissen. Die berühmten Anfänge etwa »In den Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat ...« oder »In alten Zeiten, als Menschen und Tiere noch dieselbe Sprache sprachen ...« verweisen nicht so sehr auf die Fantasie einer ursprünglichen Harmonie, sondern vor allem auf eine Entfremdung von größeren Zusammenhängen. Wir wissen, dass Wünsche durchaus mitunter helfen, indem sie nämlich, ernsthaft formuliert, unbewusste Dynamiken in Gang bringen. Was die gemeinsame Sprache von Menschen und Tieren angeht, so spielt dies auf die unglückliche Trennung eines überheblichen Menschen-Bewusstseins von der umgebenden Natur an, der es selbst doch entstammt. Insofern transportieren Märchen die Kenntnis unseres Eingewoben-Seins in größere Zusammenhänge. Sie sind die Spur – oder besser, eine Spur, der wir folgen können, wenn wir dieses Eingewoben-Sein wieder erfahrbar machen wollen. Überdies vermögen Märchen dem aktuellen gesellschaftlichen Mainstream etwas entgegenzusetzen. Marie-Louise von Franz hat vor dem Hintergrund von literaturhistorischen Debatten darauf hingewiesen, dass Märchen zwar manchmal aus Motiven zusammengesetzt sind, die verschiedenen Kulturen entstammen. Doch würden sie dort, wo sie erzählt werden, immer als ein eigenständiges Ganzes erzählt. Und zwar so, dass das erzählte Märchen kompensatorisch sei zu der Bewusstseinshaltung, die im jeweiligen Land vorherrsche (von Franz 1985). In letzter Zeit ist das psychologische Interesse an Märchen neu erwacht. Dies jedoch nicht mehr so sehr unter therapeutischem oder tiefenpsychologischem Blickwinkel, sondern eher aus einer allgemein psychologischen Perspektive, die das Märchen multifunktional sieht. Es vermittelt Lernerfahrungen und illustriert wesentliche psychologische Erkenntnisse etwa aus der Motivations- oder der Sozialpsychologie (Frey 2017). Dies alles eingebettet in eine Erzählstruktur, der wir gern folgen, weil sie uns im Innersten vertraut erscheint. 1.3 Warum Archetypen keine Geschichten sind
Unter hypnotherapeutisch Arbeitenden gibt es wunderbare Storytellerinnen und Märchenerzähler, die Bilder finden und Geschichten erfinden von dem, was Immunkräfte stärkt und Symptome lindert. Manchmal hat dies etwas Märchenhaftes, manchmal sind die so gebildeten Metaphern von starker Suggestivkraft. Märchen sind, wie es der Schriftsteller und Märchenfachmann Frederik Hetmann ausgedrückt hat, einerseits Traumgesichte, andererseits Zauberspuren (Hetmann 1982). Archetypen aber sind keine Geschichten und auch keine Metaphern. Wir müssen sie von den Mythen unterscheiden, in denen sie zwar mitunter auftauchen und denen gleichfalls große Kraft innewohnt, die aber in erster Linie Erzählungen sind. Und wir müssen sie von den Märchen unterscheiden, in denen Archetypen auftauchen können, die als Erzählungen vor sozialen Hintergründen funktionieren und nicht im Sinn seelischer Energien allein gelesen werden können. Archetypen sind etwas Gefundenes, das es gibt in der Welt; keine Erfindungen, sondern Findungen. Einem guten Teil dieser Findungen bin ich in Träumen oder Trancen begegnet, wenn plötzlich etwas sich zeigte oder sprach. Was Archetypen sind, wie sie helfen und heilen, aber auch stören und krank machen können, habe ich neu bestimmt und untersucht. Archetypen sind vieles zugleich. Urbilder, Energieströme, Wesenheiten. Man kann mit ihnen kommunizieren, aber sie können einen auch überfallen. Mitunter prägen sie eine Persönlichkeit so sehr, dass diese dann wie ein Urbild des Archetypus selbst erscheint. Dann wieder springen sie plötzlich einen Menschen an und sorgen für befremdliche Veränderungen, die umso stärker irritieren, als sie sich nicht vorhersehen ließen. 1.4 Die Welt der großen Bilder
Märchen, Mythen und Archetypen können also verwechselt werden, aber man kann sie doch unterscheiden. Märchen sind Erzählungen, in denen Themen des Unbewussten mit sozialen Hintergründen und altem Naturwissen eine Melange eingehen. Mythen sind Träume der Völker,Träume der Vielen, nicht die der Einzelnen (Rank 1922). Sie sind große Erzählungen, in denen sich ein tiefes Wissen...