E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Mills Nicht nur ein Liebesroman
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-646-92019-2
Verlag: Carlsen
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
ISBN: 978-3-646-92019-2
Verlag: Carlsen
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
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Kapitel 1
Ich brauche dringend frische Luft. Bree hat mich zu dieser Party mitgeschleppt und es ist viel zu warm hier. Alles ist viel zu eng. Ich bin schon unter normalen Umständen nicht gern bei Fremden zu Hause. Die Bilder am Kühlschrank von jemand anderem, der Nippes auf dem Kaminsims, ob die Klopapierrolle sich nach vorne oder hinten abrollen lässt … All das sind sehr persönliche Dinge. Damit überhaupt nichts zu tun zu haben und trotzdem so nah dran zu sein, fühlt sich irgendwie an wie eine Grenzüberschreitung. Bree kann ich das nicht sagen. Also höre ich mir einfach noch ein weiteres Gespräch darüber an, ob das mit Jen und Asher aus Mathe jetzt endlich »offiziell« ist (»Brauchen sie eine notarielle Beglaubigung?«, frage ich, aber niemand lacht), und gehe dann in die Küche, um durch die Hintertür zu flüchten. Leider ist der Fluchtweg versperrt. »Keine große Sache.« Der Typ, der das sagt, spricht mit lauter Stimme. Ganz offensichtlich ist es sehr wohl eine große Sache. Ein Kreis Schaulustiger hat sich um ihn versammelt – jene Art von Shakespeare-Chor, der immer auf solchen Partys auftaucht, um alles aufmerksam zu verfolgen, Urteile zu fällen und später den Massen davon zu berichten. Ich bin erst seit drei Wochen auf der Grove-County-Highschool, aber ich erkenne den Sprecher aus dem Bio-Begabten-Kurs wieder. Er heißt Mason und sitzt am Labortisch vor mir. Außerdem erkenne ich diesen Typ aus den Romanen meines Vaters. In wenigen Jahren könnte Mason der Sohn des Sheriffs sein, der die Tochter des Predigers ohrfeigt, oder der ehemalige Quarterback aus der Highschool, der fest entschlossen ist, sich für eine Zurückweisung zu rächen. Typen wie er kommen zu Dutzenden in Everett Finchs Welt vor und normalerweise sterben sie irgendwann bei einem Feuer. »Sie will nicht mit dir reden«, sagt der Junge, der Mason direkt gegenübersteht. »Und woher willst du das wissen? Durch beschissene Zwillingsmagie? Du spürst es, wenn sie angebaggert wird?« Der Junge antwortet nicht, aber in seinem Blick liegt eine lautlose Wut, mit der ich mich an Masons Stelle nicht angelegt hätte. »Wirklich, du solltest mir dankbar sein«, fährt der jedoch fort. »Ich glaube nicht, dass bei ihr schon alles verloren ist. Ich könnte ihr helfen, wieder in Ordnung zu kommen.« Mason tritt einen Schritt näher an den Jungen heran und entlockt ihm damit ein leises, aber festes: »Hör auf.« »Oder was?« Der Junge antwortet nicht. »Oder was?«, wiederholt Mason und tritt noch näher heran. In einer anderen Situation würde jetzt alle Welt denken, dass sie sich gleich küssen. Masons Lippen verziehen sich zu einem Lächeln. »Macht dich das an? Bist du auch falsch gepolt?« »Hör auf«, sagt der Junge erneut. »Na, komm, du schlägst mich doch sowieso nicht. Willst du wissen, woher ich das weiß?« Als der Junge nicht antwortet, nimmt Mason seinen Kopf zwischen beide Hände und zwingt ihn zu nicken. »Ja, Mason, das will ich wissen.« Und dann presst er mit Daumen und Zeigefinger die Wangen des Jungen zusammen. »Weil du ein total netter Typ bist, Fuller.« Bei jedem Wort drückt er zu. Der Junge rührt sich noch immer nicht und vielleicht hat Mason recht – vielleicht wird er ihn nicht schlagen. Vielleicht ist er zu anständig, um sich zu wehren. Aber ich nicht. »’tschuldigung.« Ich dränge mich zwischen den Leuten durch, die vor mir stehen. »Tut mir leid, tut mir echt leid. Ich wollte nicht stören. Aber … sag mal, Scheiße, ist das dein Ernst?« Mason sieht mich an, die Hand immer noch im Gesicht des Jungen. Sein fieses Grinsen wird von einem überraschten Ausdruck verdrängt. Ein Mädchen redet freiwillig mit ihm – und da weiß ich, wie ich ihn kriege. Also schlucke ich meine Empörung herunter und bringe so etwas wie ein Lächeln zustande, während ich die Finger locker um Masons Handgelenk lege. Eine zarte Berührung. Er lässt mich widerstandslos seine Hand wegnehmen. »Hey … diese Hände sind doch eigentlich nicht für so was geschaffen, oder?«, sage ich. Er mustert mich, während ich meine Finger mit seinen verschränke. »Diese Hände sind dazu geschaffen, jemanden zu streicheln«, fahre ich fort. »Zu liebkosen.« »Ach ja?«, sagt Mason mit einem blöden kleinen Lächeln. Sein Opfer steht einfach da und ist vergessen. »Ja«, sage ich. »Dich selbst. Vor dem Fernseher. Allein. Jeden Abend.« Mason kapiert es nicht sofort, aber aus der Menge ist ein Prusten zu hören und kaum unterdrücktes Gelächter. »Und wenn nicht, kannst du sie immer noch dazu nutzen, nach so etwas wie Intelligenz oder einem Hauch Anstand zu greifen.« Die Reaktion der Menge schwillt an wie bei den Zuschauern einer Sitcom. Mason entwindet mir seine Hand. »Was ist dein Problem?«, fragt er. »Dein Gesicht«, entgegne ich, denn das würde meine Schwester Laney sagen. »Fick dich.« Aber er hat die Kontrolle über die Anwesenden verloren. Der Chor summt bereits vor Aufregung. »Fick den ganzen Scheiß hier«, sagt er, dann grinst er mit zu vielen Zähnen. »Hast dir einen Wachhund zugelegt, was, Fuller? Betonung auf Hund.« Als würde er damit meine Gefühle verletzen. Das würde allerdings voraussetzen, dass ich überhaupt Gefühle habe. Als ich nichts erwidere, schüttelt Mason den Kopf und tritt den Rückzug an, während der Chor sich um uns schließt. Ich schaue dahin, wo der Junge gestanden hat, aber er ist bereits zur Hintertür raus. Neben mir taucht Bree auf, einen Plastikbecher in der Hand. Ihre Wangen sind gerötet und sie grinst über das ganze Gesicht. »Mann. Das war … war das was New-York-Spezifisches, oder wie? Bringt man euch da so was bei?« Ja. Hier ist dein U-Bahn-Ticket und so macht man unerträgliche Idioten öffentlich zur Schnecke. »Es war was Typ-Spezifisches«, sage ich. »Der Kerl ist einfach ein Arschloch.« Sie schüttelt den Kopf, immer noch grinsend. »Mann.« »Was denn?« »Du hast dich für Gabe Fuller eingesetzt«, sagt sie und zeigt in die Richtung, in die der Junge verschwunden ist. »Ausgerechnet für Gabe Fuller.« »Ja«, sage ich, weil ich nicht weiß, was ich sonst sagen soll. Da kommt ein Typ, an den ich mich dunkel aus meinem Literaturkurs erinnere, auf mich zu und streckt mir seine Handfläche entgegen, damit ich ihn abklatsche. »Das war der Brüller«, sagt er. Ich gebe ihm High five, aber plötzlich ist es hier wieder zu eng, es ist mir zu viel, daher entschuldige ich mich und gehe zur Tür. Draußen ist es ruhiger. Man hört nur das leise Zirpen der Grillen und das sanfte Schmatzen eines auf der Hollywoodschaukel rumknutschenden Paares. Die Ketten, mit denen die Schaukel an der Verandadecke befestigt ist, klirren leicht, als erst sie und dann er das Gewicht verlagert. Einer von beiden seufzt, ein sanftes zartes Geräusch. Ich beachte sie nicht weiter und stütze mich aufs Geländer. Die Nachtluft ist spätsommerlich schwer und feucht, aber ein paar tiefe Atemzüge tun mir trotzdem gut. Hinterm Haus gibt es einige ungezähmte Bäume und den Versuch, einen Garten anzulegen – ein Spalier mit Weinreben, ein paar dornig aussehende Sträucher. Der Boden ist eine Studie aus zerstückeltem Nord-Florida-Rasen, der zum größten Teil aus Sand besteht, und einer dicken Schicht Virginia-Eichenblättern. Die Blätter glänzen im Schein der vom Bewegungsmelder aktivierten Lampe auf der Garage. Im selben Licht zeichnen sich deutlich zwei Gestalten im hinteren Teil des Gartens ab. Ich kann sie von meinem Platz aus nicht hören. Und vom Kopf her weiß ich, dass es mich nichts angeht. Trotzdem verlasse ich die Veranda und gehe durch den Garten auf sie zu. »Ich habe dir doch gesagt, wir hätten auf keinen Fall zu einer nicht von Frank sanktionierten Party gehen sollen«, sagt das Mädchen, als ich näher komme. Ich werde teilweise vom Schatten des Spaliers verdeckt. »Warum hast du überhaupt mit ihm geredet?« »Er hat mich angesprochen. Hätte ich ihn ignorieren sollen? Wir können nicht alle einfach durch andere Menschen hindurchsehen, Gabe.« »Ja, na ja, versuchs halt mal. Sieh sie an, und anstatt sie wahrzunehmen, sieh dir an, was hinter ihnen ist. Und dann ignorier das auch.« »Eine echt gesunde Herangehensweise. Und spitzenmäßige soziale Fähigkeiten.« »Dieser beknackte Mason Pierce verdient deine sozialen Fähigkeiten nicht. Er verdient noch nicht mal die Haare aus dem Abfluss deiner Dusche.« »Wer verdient denn die Haare aus dem Abfluss meiner Dusche? Soll ich sie Tash schicken? Soll ich dir welche aufheben?« »Ich schwöre …« Das Ende seines Schwurs bleibt für immer offen, denn in diesem Moment bemerken sie mich. Irgendwie wirkt der Junge – Gabe – bei meinem Anblick noch wütender als vorher. Es ist nicht diese stille glühende Wut wie eben, eher eine nach außen gerichtete Feindseligkeit. Das Mädchen dagegen grinst breit und ihr ganzes Gesicht leuchtet auf. »Hey. Du bists.« Es ist ein so seltsamer Satz – als hätten sie mich irgendwie erwartet –, dass ich bloß nicken kann. »Ich bins.« »Das war nicht nötig«, sagt Gabe. »Danke«, ergänzt das Mädchen. »Das ist es, was er zu sagen versucht.« »Das war nicht nötig«, wiederholt er und aus irgendeinem Grund...