Millhauser Edwin Mullhouse
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-903061-37-8
Verlag: Septime Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Leben und Tod eines amerikanischen Schriftstellers, 1943-1954, von Jeffrey Cartwright
E-Book, Deutsch, 472 Seiten
ISBN: 978-3-903061-37-8
Verlag: Septime Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
'Edwin Abraham Mullhouse, dessen tragischer Tod um 01:06 Uhr des 1. August 1954 Amerika seines talentiertesten Schriftstellers beraubte, wurde um 01:06 Uhr am 1. August 1943 im schattigen Städtchen Newfield, Connecticut, geboren.'
Dies ist der Beginn der fiktiven Biografie des Schriftstellers Edwin Mullhouse, der im Alter von zwei Jahren Shakespeare rezitiert und mit zehn seinen von Kritikern hochgelobten Roman verfasst. Mit elf Jahren kommt Edwin auf mysteriöse Weise ums Leben. Jeder Schritt seines kurzen Lebens wurde von Jeffrey Cartwright, selbst ein Kind und Erzähler der Geschichte, dokumentiert. Mit dem Ziel einer perfekten Biografie beschreibt Jeffrey akribisch, fast voyeuristisch, die einzelnen Entwicklungsphasen seines besten Freundes - von den ersten Sprech- Steh- und Gehversuchen über die unglückliche Liebesromanze mit Rose Dorn bis hin zu Edwins Meisterwerk Cartoons.
Im Grunde sind Edwin und Jeffrey zwei ganz normale Jungs, die ihre Kindheit in den 40ern und 50ern verbringen, ständig umgeben vom Wandel der Zeit - den Zuckerstangen, den Jahrmarktautomaten, Jeffreys Chemiebau-kasten oder den Geschichten von Charles Dickens, die ihnen Mr. Mullhouse abends vorliest. Wären da nicht noch der in sich gekehrte Edward Penn, der Comics sammelt, schreibt und Edwins Faszination dafür erweckt, oder Arnold Hasselstrom, ein ungehorsamer Junge, der Edwin die Reize des Verbotenen näherbringt ...
Steven Millhauser geboren 1943, verbrachte seine Kindheit in New York und Connecticut. Er studierte bis 1965 an der Columbia University. Von 1968 bis 1971 studierte er an der Brown University mit dem Ziel einer Promotion über die Literatur des Mittelalters und der Renaissance. 1971 brach er dieses Studium ab und wandte sich der Schriftstellerei zu.
Steven Millhauser erhielt für Edwin Mullhouse unter anderem 1975 den französischen 'Prix Médicis Étranger', es folgten 1990 der World Fantasy Award und 1997 der Pulitzerpreis für seinen Roman Martin Dressler. Millhauser ist Mitglied der American Academy of Arts and Sciences.
Autoren/Hrsg.
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1 Edwin Abraham Mullhouse, dessen tragischer Tod um 01:06 Uhr des 1. August 1954 Amerika seines talentiertesten Schriftstellers beraubte, wurde um 01:06 Uhr am 1. August 1943 im schattigen Städtchen Newfield, Connecticut, geboren. Sein Vater, Dr. Abraham Mullhouse, war nach einer langen Lehrtätigkeit für Englisch am City College of New York im September 1942 als Assistenzprofessor nach Newfield gewechselt, wo er im Juli desselben Jahres mit seiner Frau Helen, geborene Rosoff, in ein bescheidenes zweistöckiges Haus gezogen war. Im März 1947 wurde ihr zweites Kind, Karen, geboren; und so weiter. Ungefähr an dieser Stelle hätte Edwin das Buch weggeworfen oder er hätte, milder gestimmt, mit dem Anflug eines Stirnrunzelns von den Seiten aufgeblickt und gesagt: »Das einzige, was mich nicht interessiert, sind Fakten. Notier dir das, Jeffrey.« Mein Name ist Jeffrey Cartwright. »Wenn ich an meine Jugend denke«, schrieb er (in einem Brief, den er nicht mit Datum versah, der jedoch von mir mit 26. April 1954 datiert wurde), »denke ich an Comics und Cartoons, Kreide und Kaubonbons, Clowns und Kaleidoskope.« Die Clowns sind eine Lüge, Zirkusse hatten ihn immer gelangweilt. Und Kaleidoskope bedeuteten ihm nie so viel wie Puzzles mit Bildern oder M&M’s oder Bubblegumautomaten. Doch der Grundaussage dieser Bemerkung darf man, im Gegensatz zu ihren alliterierenden Buchstaben, mit Sicherheit Glauben schenken. Edwin spielte immerzu. Kein Anlass war zu gering, um nicht als Vorwand für ein neues Geschenk zu dienen. Seine Eltern schienen ein immerwährendes Weihnachtsfest zu feiern. Edwin war mit seinen Spielen schnell durch. Er vertiefte sich tage- oder wochenlang fieberhaft in sie und wandte sich dann plötzlich für immer von ihnen ab. Aber er konnte es nie ertragen, etwas wegzuwerfen, sodass sein geliebtes Zimmer nach und nach einem Museum glich. In gewisser Weise hörte Edwin niemals auf zu spielen - er ging einfach von Monopoly zur Literatur über. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er im Schneidersitz auf dem gestreiften Bett vor dem Doppelfenster sitzt, die Spitze seiner Zunge zeigt sich in seinem Mundwinkel, während er sich über ein Stück Pauspapier beugt, das er über einem seiner Lieblingscomics ausgebreitet hat. Drei Meter von ihm entfernt, auf der fensterlosen Seite des Zimmers, sitzt die kleine Karen Mullhouse in roten Kordhosen und einem gelben T-Shirt auf einem anderen Bett und sieht mit einem View-Master, den sie an ihre Augen drückt, zum Deckenlicht hoch. Zwischen ihnen, an einem wackeligen grünen Klapptisch, auf dem der leere Rahmen eines Puzzles neben einem Haufen knubbeliger Teile liegt, sitze ich selbst. Plötzlich ist da ein blendend heller Blitz. Karen kreischt und lässt den View-Master fallen. Ich blicke hoch, erschrocken, Mr. Mullhouse im Türrahmen stehen zu sehen, der blinzelnd und grinsend von seiner zweiäugigen Spiegelreflexkamera mit dem silbernen Blitzaufsatz aufblickt. Einzig Edwin bleibt, wie er war, in verbissener Konzentration über sein Pauspapier gebeugt. Er weiß, sobald die heiße blaue Birne abgekühlt ist, wird sein Vater sie ihm bringen, damit er seine Fingernägel in die warmen weißen Glasbeulen bohren kann. Gehen wir weiter zum Sommer 1953. Edwin, mit Augengläsern, sitzt mit überkreuzten Beinen auf dem gestreiften Bett vor dem Doppelfenster und beugt sich über ein blaues Prüfungsheft. Auf der anderen Seite des Zimmers sitzt Karen Mullhouse, in Jeans und einem von Edwins alten Cowboyhemden mit wilden Mustangs darauf, auf der Kante des zweiten Bettes vor einem wackeligen grünen Klapptisch und schiebt eine weiße Murmel im Zickzack über ein Brett voller Löcher. Ich sitze wie zuvor auf einem alten Klappstuhl und wünschte, sie könnte statt Halma Schach spielen. Wieder der Blitz. »Ach, Papa!«, ruft Karen. Ich breche in Gelächter aus. »Pssst«, sagt Edwin. Hinter mir, auf dem obersten Brett eines der beiden grauen Bücherregale, die an beiden Seiten des einzelnen Fensters stehen, sieht man Monopoly, Cluedo, Camelot, Sorry, Fang den Hut, Eile mit Weile, Mensch ärgere dich nicht. 2 Und dennoch hatte er selbstverständlich immer geschrieben. In drei schwarzen Einbänden, die für die dreifache Ausfertigung der Dissertation ihres Mannes gedacht gewesen waren, hob Mrs. Mullhouse jeden Schnipsel von Edwins Texten auf, den sie in die Finger bekommen konnte, von seinen ersten Experimenten mit Druckschrift (A wie Apfl) bis zu seiner letzten, hastig hingekritzelten Nachricht. Sie sammelte alles von Anfang an, bevor sie irgendeine Ahnung hatte, dass Edwin in dieser Hinsicht eine besondere Begabung besaß. Sie hob auch seine Zeichnungen mit Wachsmalstiften auf, seine Pastellskizzen, seine Schulzeugnisse, seine Babyschühchen, sogar die alten Notenbücher von Schaum. Die Übungen aus der ersten Klasse auf gelblichem, blau liniertem Papier sind höchst interessant. Es wäre absurd, vorzugeben, man sähe den zukünftigen Autor von Cartoons in den frühen Wortreihen (tipp, topp, tapp, flipp, flopp, flapp, tick, tock, tack), und dennoch, wer Edwins Werk genau studiert hat, kommt nicht umhin, diese Vorläufer der späteren Wortspiele zu bemerken. Und es ist wahr, dass Edwin immer schon von seinen eigenen Texten fasziniert war. Ich schätze, es musste ihm ein Bewusstsein seiner eigenen Einzigartigkeit vermittelt haben, seine krakelig geschriebene Familienzeitung (mit seinen ersten Erzählungen) und seine sorgfältig abgetippten Gedichte im Alter von neun Jahren zu einem ansehnlichen Buch gebunden vorzufinden. Zweifellos hatte Mrs. Mullhouse genau diese Wirkung im Sinn gehabt. Sie zog ein kleines Wunderkind groß, Gott hab sie selig, und sie würde es ihn nie vergessen lassen. Lange bevor Edwin begann, mit seiner eigenen Kamera Fotos von sich selbst zu machen, verlor er sich in der Durchsicht seiner frühen Manuskripte. Spätestens in der dritten Klasse hatte er das ausgeprägte Empfinden, Jugendwerke geschaffen zu haben. Als Edwin in die vierte Klasse kam, versuchte ein Freund der Familie, einen Verlag für die Rose Dorn Gedichte zu begeistern. Die Unternehmung schlug fehl. Was für ein Glück für Edwin. 3 Im Sommer 1953 fuhr ich mit Edwin nach White Beach. Es war ein strahlender Tag. Der hohe Highway, der sich auf breiten Betonpfeilern, die aus der Ferne schmal und zerbrechlich wirkten, als könnte ein Steinwurf sie zerschmettern, über uns erstreckte, schien sich aus der Dunkelheit ins Licht zu erheben. Hoch dort oben, in all dem Blau, schienen sogar die schwarz geränderten Fabrikschlote, die hoch über uns aufragten, für den Himmel unentbehrlich zu sein. Das blinkende Warnlicht, das schattige Dach des Highways, der plötzlich auftauchende gelbe Klecks eines Verbotsschilds, gebräunte Ellenbogen, die aus den Fenstern ragten, ein ferner Helikopter, das Tempo und das Chrom - Edwin nahm all das auf, ich wusste es. Und dennoch, als ich mich umdrehte, um ihn anzusehen, ließ ein eigensinniger, boshafter Zug an ihm, den sein Vater einmal die übliche, geheuchelte Abgebrühtheit des amerikanischen Schriftstellers nannte, ihn sagen: »Sind wir endlich da? Ich habe schreckliche Kopfschmerzen. Pass auf die Straße auf, Jeffrey.« Als wir unter dem Highway hindurch auf den dampfenden Asphalt fuhren, überkam mich eine unkontrollierbare Aufregung. Seit er im Herbst 1952 seinen unsterblichen Roman begonnen hatte, hatte sich Edwin von der Welt zurückgezogen, aus Angst, so nehme ich an, seine Fiktion durch die Realität zu entstellen. Sein plötzlicher Umschwung schien eine neue Ära zu markieren. Doch ich wollte die Reinheit meiner Beobachtungen nicht durch direktes Nachfragen verderben. Im Sommer 1953 hatte ich Edwin meine Pläne für seine Biografie noch nicht enthüllt und so konnte ich ihm die Wichtigkeit seiner Reaktionen nicht erklären. Er war einer jener ahnungslosen Menschen, die von einer versteckten Kamera gefilmt werden: Im richtigen Moment würde ich ihm alles enthüllen, seine Augenbrauen würden sich heben, sein Mund würde sich öffnen, er würde dem unsichtbaren Publikum ein nervöses Lächeln schenken und in einem Zwiespalt aus entzückter Verlegenheit den Blick abwenden. Inzwischen warf ich ihm verstohlen begierige Blicke zu, doch er versteckte alles hinter einer absurden, aufgesetzten Miene. Als wir eine uns vertraute Reklametafel erreichten, bog ich rechts ab, in Richtung der fernen Holzbrücke, die das Festland mit der Insel White Beach verband. Bald wichen die alten, einstöckigen Häuser mit ihren klapprigen Außentreppen unbebauten Grundstücken und lang gestreckten, niedrigen Fabriken hinter Drahtzäunen, als wäre die Stadt auf dem Weg zum Wasser gestorben. Als unsere Räder vom Asphalt auf ratterndes Holz rollten, mischte sich der Geruch von Salzwasser mit dem vertrauten Geräusch des an die Pfähle klatschenden Wassers. Auf schmalen Fußwegen zu beiden Seiten der Brücke standen und saßen große Kinder und kleine alte Männer mit ihren Angeln, während auf einem einzelnen Pfahl, der weiter draußen im Wasser stand, so als hätte jemand eine Idee gehabt, es sich schließlich aber anders überlegt, eine weiß-graue Seemöwe dahockte, als säße sie für eine Postkarte Modell. »Sieh nur!«, rief ich, »dieselbe, die du Neunundvierzig gemalt hast!« »Wirklich?«, fragte Edwin und sah mit plötzlich erwachtem Interesse hinüber. Eine bemerkenswerte Tatsache in Bezug auf meinen Freund war seine verblüffende Unfähigkeit, die Scherze anderer zu verstehen. Die offensichtlichsten Späße ließen ihn oft verwundert und verunsichert zurück und es graute ihm immer davor, wenn ein Witz erzählt wurde, denn er wusste nie, wann er lachen sollte....