Miller Jacobs wundersame Wiederkehr
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-10-402761-6
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 432 Seiten
ISBN: 978-3-10-402761-6
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Rebecca Miller war Malerin und Schauspielerin, bevor sie Schriftstellerin und Regisseurin wurde. Für ihre Verfilmung der Short Stories aus ihrem ersten Buch erhielt sie den Grand Jury Prize des Sundance-Filmfestivals. Es folgten die Filme ?Angela? und ?The Ballad of Jack and Rose?. Auf Deutsch erschienen ihre Short Stories unter dem Titel ?Als sie seine Schuhe sah, wusste sie, dass sie ihren Mann verlassen würde?. Zuletzt erschien ihr Roman ?Pippa Lee?. Reinhild Böhnke wurde 1944 in Bautzen geboren und ist als literarische Übersetzerin in Leipzig tätig. Sie ist Mitbegründerin des sächsischen Übersetzervereins. Seit 1998 überträgt sie die Werke J. M. Coetzees ins Deutsche, weiter hat sie u. a. Werke von Margaret Atwood, Nuruddin Farah, D.H. Lawrence und Mark Twain ins Deutsche übertragen.
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Der zuverlässige, ehrliche Leslie Senzatimore stand an der Schwelle des neuen Tags auf dem Rechteck seines frischgemähten Rasens, stellte die Füße weit auseinander und richtete einen glänzenden Bogen Pisse direkt über den verblassenden Mond. Der Himmelskörper schimmerte, eingefangen von Leslies dampfendem Lasso und vielleicht sogar für sich beansprucht von einem Mann, der mit vierundvierzig allen Grund zur Zufriedenheit hatte.
Im Gegensatz zu den meisten Anwohnern dieser baumgesäumten Straße auf Long Island war Leslie der schuldenfreie Eigentümer seines Hauses; ein Heim im Ranch-Stil mit Zwischengeschoss, das zur Zeit vollgestopft war mit drei schlafenden Kindern, einem Au-Pair-Mädchen, einer tollen Frau, zwei Katzen, einer Schwiegertochter und einem alten Cockerspaniel. Ein Oldtimer-Motorboot, Totem der wohlverdienten Familienfreizeit, glänzte unter einer Plane; vier Autos verschiedener Größe und Preisklasse, vom Ford Explorer seiner Frau mit überall herumliegendem Spielzeug bis zum staubigen slowakischen Mittelklassewagen seines Stiefsohns, zeugten vom geschäftigen, arbeitsreichen Leben der Bewohner. Ein kleineres Haus an der Seite gehörte auch Leslie und beherbergte seine Schwiegereltern, richtige Schluckspechte und die größten Quasselstrippen aus einer Schar Abhängiger, die Leslie sein Erwachsenenleben hindurch wie ein vergnügter Sisyphos auf den Rücken genommen hatte. Leslie war ein echter Held seit dem Tag, als er mit dreizehn Jahren die Kätzchen vom Dachboden der Bobiks gerettet hatte, damals 1981.
An jenem Tag kam Mrs Bobik schnaufend in die Küche der Senzatimores und ließ sich auf den Sessel am Fenster fallen, ihr geblümtes Hauskleid hatte dunkle Schweißflecke zwischen enormen Hängebrüsten, das blasse Fleisch unter ihren Armen sah aus wie die Haut eines gerupften Huhns. Diese Handlung erregte sofort die ernsthafte Aufmerksamkeit aller fünf Senzatimore-Kinder, die in diesem Augenblick am Küchentisch sitzend Cornflakes aßen, weil dieser dick gepolsterte Sessel ihrem Vater gehört hatte – ihr Vater hatte sich vor kurzem erhängt – und sich keiner auf diesen Sessel setzte. Evelyn Senzatimore unterdrückte jedoch den Drang, die Frau aus dem Haus zu scheuchen, und wartete stoisch darauf, dass Mrs Bobik ihre Sorgen ablud, wie sie es fast jeden Tag getan hatte, seit Mr Bobik vor sieben Jahren verschwunden war und sie kinderlos und verwirrt zurückgelassen hatte. Er war ein hoffnungsloser Alkoholiker und zuletzt vor einem Woolworth in Las Vegas herumtorkelnd gesehen worden, von einem hiesigen Paar auf Hochzeitsreise, die ihn als ihren früheren Schulbusfahrer erkannt hatten. Dieser unglückliche Augenzeugenbericht konnte Mrs Bobiks Nerven nicht beruhigen; danach verlor die Frau so ziemlich allen Bezug zu dem, was die meisten von uns Realität nennen würden. Als sie in das Haus der Senzatimores stürmte und schrie, dass sich in der Zwischendecke ihres Schlafzimmers Katzen befänden, hatte ihre Behauptung daher mitleidige Blicke aus sechs Augenpaaren zur Folge.
»Sie haben die ganze Nacht miaut«, stöhnte sie.
Leslies Mutter seufzte und sah Leslie an, als wolle sie sagen: . Das tat Mrs Senzatimore dieser Tage oft, immer wenn ihr die Anforderungen des Lebens zu viel wurden. Leslie war der Älteste, und sie wusste, dass ihr Angewiesensein auf ihren Sohn ihm schmeichelte, dass er sich vielleicht sogar danach sehnte. Es war gewissermaßen ein winziger Ausgleich für den Verlust eines milden Vaters, der im Lauf der letzten paar Jahre allmählich aus der Familie verschwunden war. Charlie Senzatimore, ein nicht diagnostizierter Depressiver, wurde immer mehr zur Null, sprach immer weniger, bis er sich am Ende entschloss, zum echten Gespenst zu werden, statt gespensterhaft im Sessel zu sitzen und die Lokalzeitung zu lesen. Es war nicht so, dass seine Kinder ihn nicht vermissten; sie konnten nur gar nichts benennen, was sie vermissten, da sie praktisch keine Beziehung zu dem Mann gehabt hatten, außer der, die ihre Mutter für sie geschaffen hatte. »Dein Vater wird wütend sein«, drohte sie oft, obwohl sie doch wussten, Charlie würde nur traurig den Kopf schütteln oder aus dem Haus marschieren und die Tür hinter sich zuwerfen, weiter nichts. »Dein Vater ist so stolz!«, rief sie aus, als das schlanke Püppchen, das neben ihr im Stühlchen saß, ein schiefes Lächeln versuchte. Die arme Evelyn Senzatimore. Jeden Tag aufs Neue musste sie ein lebendiges Bild eines Vaters und Ehemanns malen, der nicht ganz da war. Doch als er wirklich fort war, als sie ihn leblos im Schuppen baumeln sah, wurde sie von der Stärke und dem Ausmaß ihrer Trauer überrascht. Um wen trauerte sie – um das Geschöpf ihrer Phantasie oder um den Schatten, mit dem sie ihr Leben geteilt hatte? Wie auch immer, nun hatte sie niemanden mehr, den sie täglich erfinden musste; sie war sich selbst überlassen, ihren Kindern und der Realität ihres Lebens. Sie vermisste ihn unsagbar. Am Ende, im Tod, war Charlie für sie lebendig geworden. Evelyn fühlte sich plötzlich sehr verletzlich, und deshalb wandte sie sich Leslie, ihrem stabilen Sohn, zu.
Es überraschte also niemanden, als Leslie, mit kurzärmligem Kragenhemd und Khakihosen für die Schule gekleidet, mit einem kräftigen Körper, der schon Muskeln entwickelte, und rotbraunen Haaren (»Sind denn die Wikinger bis Sizilien gekommen?«, fragten die Leute seine Mutter oft und vergaßen dabei, dass sie Irin war), die er zur Seite geklatscht hatte, aufstand und sagte: »Ich schaue mir das mal an, Mrs Bobik.«
»Guter Junge«, sagte seine Mutter. »Nimm deine Bücher mit. Du kannst gleich von dort zur Schule gehen.«
Der Geruch im Bobik-Haus verschlug einem den Atem. Es war hier nicht schmutzig – Mrs Bobik war eine penibel saubere Frau –, es roch eher irgendwie muffig, und Leslie dachte, das müsse der Mief der Einsamkeit sein. Das Haus stank danach. Das erschreckte ihn und widerte ihn an. Im Nachhinein halte ich es für möglich, dass der erwachsene Leslie sein ganzes Leben als Schutz vor diesem Geruch gestaltete.
Er folgte Mrs Bobik die enge Treppe hinauf, wobei er versuchte, nicht auf ihr gewaltiges Hinterteil zu starren, das sich unter ihrem Hauskleid mühsam bewegte, dann ging es den vollgestellten Korridor entlang, vorbei an geschlossenen Türen, die unbenutzte Zimmer von ungeborenen Kindern verbargen, bis zum winzigen Elternschlafzimmer, einer wahren Kathedrale der religiösen Ikonographie. Die Jungfrau Maria nahm den Hauptplatz in Mrs Bobiks Katholizismus ein und überließ Jesus an einem Miniaturkreuz zwischen zwei Fenstern sich selbst. Farbenprächtig überm Bett, gerahmt auf dem Nachttischchen, als Statue auf der Frisierkommode – überall nur Maria.
»Hörst du sie?«, fragte Mrs Bobik dringlich, vom Treppensteigen noch so außer Atem, dass ihr Riesenbusen wogte, die kurzen Beine weit gespreizt wie eine Bulldogge. Sie war kleiner als Leslie, und ihre vorquellenden wässrig-blauen Augen waren mit einem Ausdruck der fragenden Ergebung auf ihn gerichtet. Mit so etwas wie Entsetzen wurde ihm allmählich klar, dass das jetzt der endgültige Test für Mrs Bobiks geistige Gesundheit war. Wenn er diese Katzen nicht hörte, war sie offiziell übergeschnappt, wofür sie alle schon hielten. Er fühlte sich plötzlich mit einer beunruhigenden Autorität ausgestattet, als sei er der Arzt, der ihr gleich verkünden würde, ob ihr Krebs operiert werden könne. Ihr Kaffeeatem drang in Übelkeit erregenden Wellen zu ihm. Das Blut hämmerte ihm in den Ohren, während ihn Verlegenheit und Verwirrung überkamen. Er schaute sich im Raum um, wie nach einem Fluchtweg. Was sollte er sagen, wenn er die Katzen nicht hörte? Sollte er lügen? Und wenn er log und keine Katzen da waren, was dann? Sollte er etwa eine streunende Katze aufstöbern und sie in ihren Wandschrank setzen und sie dort herausholen, dann würde sie vielleicht aufhören, Katzen zu hören? Kam er schon zu spät zur Schule? Seine Gedanken drangen so vielfältig und schnell auf ihn ein, dass er zu lauschen vergaß, aber als sein umherschweifender Blick auf Mrs Bobiks traf, brachte ihn ihr flehender Ausdruck zu seiner Aufgabe zurück. Er vernahm das Bellen eines Hundes draußen, das Rufen von Kindern auf dem Schulweg, einen Vogel, der stur dieselbe monotone Tonfolge wieder und wieder hören ließ. Und dann schwebte wie das Weinen eines Babys in der Ferne ein Lautfetzen durch den Raum, kaum hörbar. Das war eine Katze. Erleichterung erfasste Leslie. »Ich höre es!«, sagte er freudig.
»Wirklich?«, rief Mrs Bobik und rang die plumpen Hände.
»Ja – es ist –« Sein Blick wanderte im Zimmer umher und versuchte den Laut zu verfolgen. Wo er nun das eine Miauen gehört hatte, konnte er noch mehr hören. Es gab mehr als eine Katze. Sie hatte recht! Aber woher kam der Laut? Er schien in der Zimmermitte aus der Luft zu dringen. Leslie öffnete den Wandschrank, schaute unters Bett, unter die Frisierkommode. Keine Katzen. Dann stieg er auf einen Stuhl und presste ein Glas an die niedrige Decke, wie er es im Fernsehen bei Columbo gesehen hatte. Wie ein unheimliches Geheimnis entfaltete sich der Laut in sein Ohr hinein; das klägliche Miauen von geschwächten Katzen.
»Haben Sie einen Dachboden?«, fragte er.
»Nein, wofür brauche ich einen Dachboden? Da ist nur ein ganz niedriger Raum unterm Dach, den habe ich gerade abdichten lassen. An der Hausseite war dort nämlich ein morsches Brett.«
»Wann war das?«
»Vor drei Tagen«, sagte sie.
»Ich glaube, Sie haben diese Katzen eingesperrt«,...