E-Book, Deutsch, 320 Seiten, Format (B × H): 150 mm x 220 mm
Europa und das Ende des Ersten Weltkriegs
E-Book, Deutsch, 320 Seiten, Format (B × H): 150 mm x 220 mm
ISBN: 978-3-03810-411-7
Verlag: NZZ Libro
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Militärwesen Verwaltung, Streitkräfte (Militärwesen)
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Militärgeschichte
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Weltgeschichte & Geschichte einzelner Länder und Gebietsräume Weltgeschichte
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Militärwesen Friedenssicherung, Krisenintervention
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Besondere Kriege und Kampagnen
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Das lange Ende und ein bekannter Anfang
«Von einem Krieg weiss man immer nur, wie er anfängt», meinte Charles de Gaulle einmal. Manchmal weiss man nicht einmal das. In Deutschland spezialisierte sich eine organisierte, regierungsamtlich geförderte Geschichtsschreibung darauf, den Nachweis zu führen, nicht für den Ersten Weltkrieg verantwortlich gewesen zu sein. Mit dem australischen Historiker Christopher Clark findet sie ihre bejubelte Fortsetzung. Diese Tradition reicht zurück bis zur organisierten Meinung durch das Auswärtige Amt in der Weimarer Republik. Dass sie von Staats wegen herbeigeführt wurde, macht sie nicht glaubwürdiger. Zur Erklärung des Ersten Weltkriegs könnte man mit dem grossen britischen Historiker Eric Hobsbawm die Ursachen in einem unverdauten Imperialismus orten. Das war auf höherem Niveau die deutsche Meinung, alle Staaten seien verantwortlich gewesen. Da bliebe aber noch die Frage nach der Sonderstellung des deutschen Kaiserreichs in einer liberalen Staatenwelt, dem Modell des 19. Jahrhunderts. Giuseppe Mazzini und Victor Hugo waren die beiden grossen Vorläufer. In mehr als gewisser Weise knüpft die heutige EU an diese Staatenwelt des 19. Jahrhunderts an. Sie integriert beiläufig auch das grosse Deutschland. Dass es sich die längste Zeit des 20. Jahrhunderts nicht hat integrieren lassen, sondern lieber auf seinem Gewaltweg beharrte, ist unübersehbar. Gab es womöglich eine unterschiedliche Einstellung zur Gewalt? Waren der Frankreichfeldzug und der Beschuss von Paris 1871 nicht gewissermassen symptomatisch? Während Victor Hugo mit Giuseppe Mazzini noch an ein Vereintes Europa mit Paris als Hauptstadt glaubte? Erklärungsversuche weisen gerne zurück. In den vorhergehenden Generationen die Gründe für die späteren zu suchen und zu finden, ist gern geübte Eigenart der Gewohnheit der Historiker. Erklärungsversuche bleiben mit Vorliebe am 19. Jahrhundert hängen, an seinem Historismus, seiner Angst vor der Dekadenz, seiner plakativen Schreckensvision eines untergehenden Roms, am liebsten ledergebunden und mehrbändig in üppiger Ausstattung. Dazu eine tiefe Sorge der »beati possidentes« vor einer sozialen Bedrohung. Dieses 19. Jahrhundert verlief im Blick zurück weitgehend parallel von Bordeaux bis Frankfurt a. O. Insofern gibt ein historistisch angehauchter Imperialismus zur Erklärung für den Ersten Weltkrieg nur bedingt verwertbare Motive her. Sicher auch nicht ein Viollet-le-Duc oder eine allenthalben aufschiessende Burgenromantik. Die Erklärungen zielen gerne auf den Nationalismus. Aber litten alle darunter? Jakob Buckhardt (1818–1897) hatte die Grossstaaten alle im Verdacht, zu einer Gewaltpolitik fähig zu sein, um innenpolitische Ambitionen zu befriedigen. Wie schaut es neben dem artverwandten Imperialismus mit dem Liberalismus aus? Das Rote Kreuz war sicher kein Ausweis einer militanten Tendenz. Ebenso wenig die Haager Friedensordnung. Oder andere Anläufe, das Staatensystem sicherer zu machen. In Deutschland wurde ihnen nie wirklich applaudiert. Wie Staatssekretär (Aussenminister) von Jagow dem amerikanischen Botschafter erklärte, «war Deutschlands bestes Asset in einem Krieg die Bereitschaft zu einem plötzlichen, überwältigenden Schlag».1 Genau deswegen hütete sich das Reich davor, die Bryan-Friedensverträge zu unterschreiben, die sich der amerikanische Aussenminister zur Konfliktvermeidung ausgedacht hatte. Es hätte sonst sein «bestes Asset» preisgegeben. Wenn der Spiritus Rector der deutschen Liberalen, Friedrich Naumann, meinte: «Jede substantielle Revision des Globus zum deutschen Vorteil ergibt sich wahrscheinlich durch einen Friedensvertrag nach einem erfolgreichen Krieg»,2 deutet dies mehr auf ein latentes Kriegsklima hin als auf den Ehrgeiz, den Frieden sicherer zu machen. In gewisser Weise war der Friede nicht populär. Die politische Selbstisolierung Deutschlands in Europa wurde innenpolitisch als «aufgezwungen» verkauft – und war immer nur militärisch. Die multilateralen Versuche zur Friedenssicherung wie die Bryan-Friedensverträge ignorierte Berlin nach Kräften. Das Reich sah sein Heil auch nie in derAbrüstung. Die war nun wirklich nicht populär, sondern immer nur in seiner Aufrüstung. Bezeichnenderweise wissen heute nicht einmal mehr Historiker in Deutschland, dass mit dem Reichstagsakten-Forscher Ludwig Quidde, einer der ihren mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Dass Deutschland es lieber mit dem Militarismus hielt, ist nicht besonders neu. Für diesen Sonderweg hat das Land schwer bezahlt. Und Europa ebenso. 1918 – der Weg zum Frieden beleuchtet eine kurze Etappe auf dem langen Weg Deutschlands. Das Buch zeigt, dass das Kaiserreich den westlichen Demokratien insgesamt deutlich unterlegen war. Es zeigt weiter, dass erst die demokratischen Kräfte die Energie aufbrachten, sich aus dem Bann der Autokraten zu lösen (am Hof wie im Militär) und über den Waffenstillstand vom 11. November 1918 zum Frieden zu kommen. «Revolutionen träfen nur besiegte Völker», meinte Marschall Ferdinand Foch zu Matthias Erzberger während der Waffenstillstandsverhandlungen.3 Diese Beobachtung hat etwas für sich. Siehe Russland, aber auch Deutschland oder Österreich-Ungarn. Die Demokratien nahmen Rücksicht auf die Bevölkerung; und sie hinterfragten die Leistungen der militärischen Führung. Erst die Parlamentarier wagten, an der alles kommandierenden OHL (Obersten Heeresleitung) zu zweifeln. Die Regierungen in Paris und London setzten den gemeinsamen Oberbefehl durch und nahmen im Zweifelsfall selbst auf dem Schlachtfeld ihren Einfluss wahr. Georges Clemenceau – der fliessend Englisch sprach – besuchte zur Freude der britischen Einheiten auch deren Frontabschnitte und «gerne unter Gefahr»,4 wie Kabinettschef Henri Mordacq notierte. David Lloyd George dagegen machte um Schützengräben einen weiten Bogen. Er konzentrierte sich lieber auf seine Generäle. Angefangen bei dem mit Intrigen vertrauten Field Marshal Douglas Haig (aus der gleichnamigen Whisky-Dynastie). Die Generäle vom Wert eines gemeinsamen Oberkommandos zu überzeugen war harte politische Arbeit. Der Krieg fing militärisch an und hörte politisch auf. Aber unter Philippe Pétain kamen die französischen Streitkräfte auch taktisch weiter. Einschliesslich der vorangetriebenen «Mechanisierung des Krieges» und der maximal möglichen Substituierung der Infanterie durch die Mechanik. Dazu gehörte aber auch, die schwere Artillerie mit Traktoren zu ziehen. Alles in Erwartung der amerikanischen Einheiten. Dass sie französisches Material erhielten (75-mm-Feldgeschütz, Breguet-14-Flugzeuge, Panzer und gezogene Artillerie), überstieg die Kalkulationen der torpedierfreudigen deutschen Marineleitung. Die Heeresleitung wiederum erhoffte sich dank der U-Boote ein verhandungswilliges Grossbritannien. Heer und Marine erhofften sich mehr, als die Realität hergab. Die OHL und Erich Ludendorff waren grösste Hoffer. Am Ende fing sich Italien und die Alliierten standen am Brenner. Sicher nicht zur Freude Bayerns. München musste sich in Berlin energisch wehren gegen den unbegründeten Verdacht, einen Separatfriedensvertrag auszuhandeln und vom Reich abzufallen. So hatten sich der Kaiser und sein Kronrat das Ende sicher nicht ausgemalt, als sie sich 1914 zum Krieg entschlossen. Wie auch das unzeremonielle Ende der Monarchie, die Abdankung des Kaisers und die Flucht nach Holland ausserhalb aller Überlegungen standen. Dabei war es mehr eine Flucht nach vorne gewesen. Am Anfang – vor 1914 – forderten Überrüstung, Überschuldung und Übermut ihren Tribut. Jacob Burckhardts Verdacht einer Aussenpolitik aus innenpolitischen Motiven wird davon sicher nicht widerlegt. Dass sich die Bevölkerung einwickeln liess, steht auf einem anderen Blatt. Als Winston Churchill und Charles de Gaulle von einem dreissigjährigen Krieg sprachen, steckte der Zweite Weltkrieg noch in seinen Anfängen. Er wurde das lange Schlusskapitel des 1914 ausgelösten Konflikts. 25 Jahre nach den Kriegserklärungen an Russland und Frankreich im Jahr 1914 folgte 1939 der Überfall auf Polen. Bis zur bedingungslosen Kapitulation Deutschlands sollte es schliesslich knapp 31 Jahre dauern. Diese drohende Aussicht einer bedingungslosen Kapitulation schwebte bereits 1918 über Deutschland. Die politischen Führer der USA, einflussreiche Republikaner im Senat wie Henry Cabot Lodge und weite Teile der Presse in den USA verlangten nichts anderes. Auf deutscher Seite waren im November 1918 Heeresleitung, Parlamentarier und Regierung willens zu kapitulieren. So verzweifelt war die Lage. Einzig die in letzter Sekunde signalisierte Bereitschaft der Alliierten zum ersehnten Waffenstillstand ersparte dem Reich diesen Schritt. Dass der Versailler Vertrag tel quel auf den Waffenstillstandsbedingungen aufbaute, wissen höchstens einige Spezialisten. Keine vier Wochen später begrüsste jedoch der SPD-Führer und nachmalige Reichspräsident Friedrich Ebert die paradierenden Truppen in Berlin mit seinem «Unbesiegt im Felde!» Der Feldmarschall Paul von Hindenburg fing den Ball dankbar auf und monierte vor dem Reichstag seine Dolchstosslegende. Kein Parlamentarier kam auf die Idee, dass der vormalige Generalstabschef mit dieser Erklärung nur vom eigenen Versagen ablenkte. Die Oberste Heeresleitung hatte die politische Führung ahnungslos gehalten. Das Notgeständnis des drohenden Zusammenbruchs hatte die Politiker komplett überrumpelt. Als Opfer seiner eigenen Propaganda war Deutschland in den Krieg gezogen im Glauben, neidische Nachbarn hätten sich gegen das Reich verschworen. Um aus dem Krieg mit der Überzeugung...