E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Milano Nichts wird wie vorher sein
22001. Auflage 2022
ISBN: 978-3-646-93320-8
Verlag: Carlsen Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Jugendbuch ab 14: Chronik eines Anschlags - packend, berührend, atemlos erzählt
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-646-93320-8
Verlag: Carlsen Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Bevor Sera Milano mit dem Schreiben begann, hat sie Theater gespielt, Bücher verkauft, Kindern Schauspielunterricht gegeben und als Ratgeberin für Dating-Portale gearbeitet. Sie studierte Kreatives Schreiben an der St Mary's Universität und spezialisierte sich auf Geschichten für junge Menschen. Nach zwei Kinderbüchern ist »Nichts wird wie vorher sein« ihr Debüt im Jugendbuch. Sera Milano lebt in Guildford, Surrey, zusammen mit ihrem Rettungshund Moppet und der Katze Ziggy.
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EINS
AUSSAGE VON JOSEPH (JOE) MEAD, 17
Ich hab Ellie Kimber beim Tanzen zugesehen.
AUSSAGE VON VIOLET NKIRU CHIKEZIE, 16
Wir haben Ellie Kimber beim Tanzen zugesehen. Ihr Kleid war fast zu kurz, um den Namen zu verdienen, und es glitzerte wie der Schwanz einer Meerjungfrau. Auch ihre Haut glänzte, die Beine so lang, dass sie nirgends zu enden schienen. Mein kleiner Bruder zog an meiner Hand, und als ich ihn anschaute, sah ich, dass er sich genauso zur Musik bewegte wie sie. Da musste ich lächeln. Unsere Mutter neben uns schüttelte missbilligend den Kopf. Aber hingeguckt hat sie auch.
Aussage von Peaches Britten, 16
Alle sahen Ellie Kimber beim Tanzen zu. Sie war wie der hellste Silberstreif an einem verhangenen Himmel. Selbst wenn man sie hasste, konnte man einfach nicht wegsehen.
AUSSAGE VON ELLIOT (ELLIE) KIMBER, 17
Ich hab getanzt. So kann ich am besten alles vergessen. Augen zu, Kopf nach hinten. Und alles loslassen. Ich war ganz in die Musik versunken, die hin und her waberte und mal lauter, mal leiser wurde, je nachdem, wie ich den Kopf drehte. Der Bass war wie ein Herzschlag, den man mehr fühlt als hört. Ich wurde von der Menge gegen die vordere Absperrung gedrängt und landete so dicht an den Lautsprechern, dass ich die Vibration in der Luft spüren konnte.
Keine gute Idee, ich weiß. Auf das bisschen Hörvermögen, das ich noch habe, sollte ich besser aufpassen. Aber auch wenn ich auf beiden Ohren taub wäre, hätte ich da vorn gestanden. Weil die Musik den Boden beben lässt, und wenn sie dann durch die Füße hochpulsiert, fühlt es sich fast so an wie beim Laufen, nur ohne den Schmerz oder die Konzentration oder die Schuldgefühle.
..........................
JOE
Die Musik war nicht mal gut. Die Setliste beim Ambereve-Festival ist jedes Jahr gleich: Erst dürfen ein, zwei Lokalmatadore ran, damit sie mit ihren verstimmten Klampfen auch mal woanders auf der Bühne stehen als beim Talente-Abend im Queen’s Head Pub. Dann kommt – als Attraktion des Abends – Eric Stone. Ambersides einziger echter Promi. Auch wenn seine besten Zeiten schon mindestens zwanzig Jahre hinter ihm liegen.
PEACHES
Mum erinnert sich noch an die Zeit, als Eric Stone einer von den ganz Großen war. So groß wie die Beatles, nur mit einem besseren Haarschnitt, sagt sie. Sie hat ihm mal ihren BH auf die Bühne geworfen. Jetzt wohnt er im Reichenviertel oberhalb der Stadt und schaut auf unsereins herab. Ich kenne ihn nur als den alten Sack mit dem Bart, der mich angeschnauzt hat, als ich bei seinem Soundcheck gepatzt hab. Blödmann.
VIOLET
Ich würde mir seine Musik sonst nicht anhören, aber wie Ellie sich dazu bewegte, war wunderschön. Ich war fast ein bisschen neidisch, obwohl ich so was nie könnte – so vor allen tanzen. Ich würde es auch gar nicht wollen, und das nicht nur, weil meine Mutter dann aus dem Kopfschütteln gar nicht mehr rauskäme. Sie hat meinen Namen aus einem Kinderbuch, das sie zu meiner Geburt geschenkt bekam, und manchmal passt er viel zu gut zu mir: Violet, das schüchterne Veilchen. Ich mache mir nichts aus Tanzen. Ich halte mich lieber am Rand auf, wo ich andere beobachten kann, ohne selbst ins Blickfeld zu geraten. Ellie tanzt, als wäre es ihr egal, wenn die ganze Welt zuguckt. Aber warum auch nicht? Wenn sie tanzt, besteht die ganze Welt nur aus ihr. Ihr allein.
JOE
Sie bewegt sich, als ob … Keine Ahnung. Als ob sie leichter wäre als wir. Als ob sie keine Knochen hätte, die sie nach unten ziehen. Deswegen drehen sich in der Schule auch alle nach ihr um, wenn sie durch den Flur schwebt. Ich schaffe es nie, den Blick abzuwenden. Keiner schafft es; und das nicht nur wegen dieser ganzen »Model«-Geschichte. Obwohl ich sehe, dass andere Mädchen sie anstarren, als hätte sie ein Geheimnis – als könnten sie es vielleicht kopieren, wenn sie nur rausfänden, was es ist. Sie schauen sie an, als würden sie gern in ihre Haut schlüpfen und sie werden.
Und genauso hab ich sie an dem Abend auch angesehen. Angestarrt. Ich konnte nicht anders.
Sam stupste mich an, dann schob er einen Finger unter den Aufreißring meiner Dose und nahm sie mir lachend ab. »Vorsicht! Gleich fallen sie dir aus dem Kopf!«
Ich wandte ihm nicht mal den Blick zu. »Was?«
»Deine Augen, Mann.« Dann lachte er wieder, aber ich wusste, dass er ihr auch zusieht. Das haben wir alle gemacht. Sie war einfach –
VIOLET
Schön.
PEACHES
Was für eine blöde Tusse.
ELLIE
Ich wartete auf das Feuerwerk. Ambereve läuft immer nach dem gleichen Muster ab: Es gibt den ganzen Tag Stände auf der High Street und Karussells für die Kleinsten, die allerdings von angetrunkenen Teenies gekapert werden, wenn die Mitarbeiter nicht aufpassen. Es gibt heißen Apfelpunsch – mit und ohne Alkohol – in kleinen Pappbechern, kandierte Früchte und Knuspercrunch in gestreiften Papiertüten. Zuckerwatte und Liebesäpfel. Und dann kommt der Umzug.
VIOLET
Zu dem Umzug trifft sich immer ganz Amberside. In diesem Jahr sowieso.
ELLIE
Im letzten Jahr ist alles abgesagt worden, Umzug und Festival. Darum war es dieses Jahr wie eine Befreiung, wie ein kollektives Aufatmen, als wir uns versammelten, um loszuziehen. Wahrscheinlich waren genauso viele Leute dabei wie sonst auch, aber es fühlte sich voller an. Alle hingen irgendwie dichter aufeinander. Es herrschte ein so kompaktes Gedränge, dass es mir vorkam, als würden unsere Herzen im Gleichtakt schlagen. Das war schön.
PEACHES
Man soll sich draußen vor dem Rathaus eine Fackel nehmen und sie im Vorbeigehen zum Anzünden in ein Feuer halten. An diesem einen Tag im Jahr stört sich keiner daran, dass sie brennende Stöcke an angetrunkene Teenies verteilen. Obwohl es an meiner Schule einen Jungen gibt, der sich dabei mal die Haare abgefackelt hat.
JOE
Dougie hat sich mal selbst angekokelt. Das war der Hammer. Ihm ist aber nichts passiert, außer dass er bis Weihnachten keine Augenbrauen hatte.
ELLIE
Dann sind wir, wie immer, die Straße zum Hearne House hochgezogen.
PEACHES
Zum »Historischen Hearne House«, wie es auf den Plakaten heißt. Aber wir haben einen einfacheren Namen dafür.
VIOLET
Das Haus auf dem Hügel.
ELLIE
Alle sind bei dem Umzug dabei, entweder als Teilnehmer oder als Zuschauer: Schülerinnen und Schüler von der Clifton Academy und vom Sefton College, selbst diejenigen, die von sich behaupten würden, dass sie zu alt für so was sind. Eltern, die so tun, als müssten sie auf den Nachwuchs aufpassen. Kleine Kinder, die an irgendwelchen Armen zerren und darum betteln, auch mal die Fackel tragen zu dürfen.
Ich weiß noch, dass ich mich gefragt hab, wie das Ganze wohl von oben aussieht. All die kleinen Lichter in Bewegung, wie Sternschnuppen, die sich in einem dunklen See spiegeln. Kleine Kometen. Meine Eltern traf ich unterwegs eher zufällig. Und Mum meinte, so ein Freudenfeuer hätte echt was, wenn es abends noch warm genug ist, dass man dabei auch ein bisschen Haut zeigen und es genießen kann.
Dad schüttelte den Kopf und sagte mit einem Blick zu mir: »Jetzt ermuntere sie nicht auch noch.«
Ich lachte und verlor sie wieder aus den Augen, als wir über die Brücke gingen und ich zu meiner Gruppe aufschloss: Jessa, Cori, Sutton und ein paar andere um uns rum, die hofften, mithalten zu können. Der Sturm auf die Wiese fühlte sich an, als ob man eine Tür aufmacht und einen Schwall heißer Luft in einen kalten Raum lässt. Wir rannten zur Bühne.
VIOLET
An der Brücke über den Fluss bildete sich ein Rückstau. Das Haus ist ein Punkt inmitten eines sehr großen, von einer Mauer umgebenen Grundstücks, auf das man nur über diese eine Brücke kommt. Ein Stück des Flusslaufs liegt unter der Brücke, und dann fließt das Wasser auf der Innenseite der Begrenzungsmauer entlang, wie ein Burggraben, nur auf der falschen Seite. Ich hab vor Jahren mal ein Schulprojekt darüber gemacht. Die Mauern setzen zu beiden Seiten der Brücke an und ragen so hoch auf, dass sie das Haus in eine Festung verwandeln. Wobei man sich fragt, wen genau sie eigentlich draußen halten wollten.
PEACHES
Man fragt sich, wen sie drinnen festhalten wollten.
Ich hab keine Fackel getragen. Ich war ja schon seit neun Uhr morgens im Park gewesen, zusammen mit der Technik-Crew und anderen Freiwilligen vom örtlichen Laientheater. Es gibt diesen Deal, dass unsere Schultheatergruppe dreimal im Jahr Stücke auf dem Gelände aufführen darf und wir dafür mit unseren Leuten bei allen anderen Veranstaltungen dort mithelfen – also vor allem bei Hochzeiten und Tagungen und so. Ambereve ist bei Weitem das größte Event. Wir hatten Beleuchtungsbrücken aus Metall über der provisorischen Bühne aufgebaut und waren noch dabei, die letzten Checks zu machen, als die Zuschauer kamen. Auf einen Schlag war die halbe Stadt da, weswegen die Brücke zum Nadelöhr wurde. Am Ende quetschten die Leute sich quasi einzeln durch und wurden dann von Ordnern zu der Stelle geführt, wo sie ihre Fackeln aufs Begrüßungsfeuer werfen konnten.
Das Feuer soll ein Symbol für Einigkeit sein, aber ich glaub nicht, dass allzu viele darüber nachdenken, wie warm und wohlig ihnen bei diesem pyromanischen Gemeinschaftsakt ums Herz...