Micic / Mi?i? Wie wir uns täglich die Zukunft versauen
14001. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8437-0685-8
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Raus aus der Kurzfristfalle
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-0685-8
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Pero Mi?i? studierte Wirtschaftswissenschaft und Future Studies in Deutschland und den USA und promovierte in Großbritannien. Heute ist er einer der weltweit führenden Experten für Zukunftsmanagement. Pero Mi?i? ist Autor von zahlreichen Büchern und Artikeln zum Thema Zukunft.
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Engel und Dämonen
Unter dem hauchdünnen Deckglas tobt das Leben. In dem Wassertropfen, den der Lehrer aus einer Blumenvase auf den Objektträger pipettiert hat, wuseln winzige Einzeller. Das Bild, das durch das Objektiv des Mikroskops zu sehen ist, wird über einen Beamer an die Wand des Klassenzimmers projiziert. Die Schüler sehen Pantoffeltierchen scheinbar ziellos herumrudern. Mit ihren Wimpernkränzen bewegen sie sich durch den für sie unendlichen Ozean. Manche von ihnen haben an kleinen Inseln aus verrottenden Pflanzenresten festgemacht, wo es besonders viele Bakterien gibt. Das ist ihre Nahrung. Der Lehrer will seinen Schülern etwas demonstrieren. Er träufelt ein wenig Essig dicht neben das Deckglas, so dass die Säure langsam darunterzieht und sich im Wassertropfen ausbreitet.
Die Bewegungen der Pantoffeltierchen, die zuvor noch lustig umhergetrudelt sind, bekommen nun eine eindeutige Richtung. Flucht! Weg von der ätzenden Umgebung, dorthin, wo das Wasser noch rein ist. Auch die, die einen Ort mit Nahrung im Überfluss gefunden hatten, verlassen fluchtartig das Gebiet in Richtung niedrigerer Säurekonzentration. Dort, wo die Essigkonzentration am höchsten ist, ist der Wassertropfen nur wenige Sekunden später wie leergefegt.
Man könnte sagen, dass sich Pantoffeltierchen nach dem Pain-Pleasure-Principle verhalten. Hin zur Nahrung, zur Wärme, zu angenehmen Umgebungsbedingungen – und weg von allen schädlichen Einflüssen wie Säure oder anderen Giften. Ihre Bewegung ist die Resultierende aus positiven und negativen Umgebungseinflüssen.
Das Leben kann so einfach sein!
Der innere Hedonist
Auf der Suche nach dem Ursprung des Kurzfrist-Denkens müssen wir uns zunächst darüber klar werden, was den Menschen antreibt. Welche Mechanismen sind es, die ihn sich für eine kurzfristig angenehme oder eine langfristig sinnvolle Lösung entscheiden lassen? Ist in uns ein kaum zu überwindender Drang zu kurzfristigem Handeln festgelegt? Gibt es noch andere, womöglich gegenläufige Kräfte?
Es gibt immer noch Psychologen, die das Handeln eines Menschen allein damit erklären, dass es ihm Vergnügen, Spaß und Freude bereitet und ihn vor Schmerz bewahren soll: Wir essen, um unseren Hunger zu stillen. Wir fahren ein dickes Auto, weil der Nachbar eins fährt und um uns gut zu fühlen. Wir machen Geschenke, um von einer starken Beziehung zu profitieren. Demnach ginge es nur um das Ich, das Ego. Demnach wären wir alle pure Egoisten.
Ein Arzt, der seinen Jahresurlaub in einem staubigen und stinkenden Flüchtlingslager verbringt, um Kinder zu impfen, täte dies also allein deshalb, um vor sich und seinen Kollegen gut dazustehen – und nicht, weil ihm das Schicksal völlig Fremder am Herzen liegt und er bereit ist, deswegen auf einen Teil seines Verdienstes, die wohlverdiente Erholung und auf Komfort zu verzichten. Träfe Ersteres zu, gäbe es keinen echten Altruismus, kein selbstloses Handeln.
Diese Art menschlichen Handelns und Denkens, das an der eigenen Freude ausgerichtet ist, wird Hedonismus genannt. Der Hedonist strebt nach Vergnügen und Lustgewinn. Er will Schmerz und Leid um jeden Preis vermeiden. Schon um 300 v. Chr. sagte der griechische Philosoph Epikur, dass es die Aufgabe eines Menschen sei, sein Leben möglichst voll Freude und Lust und frei von Leid zu führen. Das mache ein gutes Leben aus. Das Leben in vollen Zügen zu genießen, wie es der Hedonist tut, ist an sich nichts Schlimmes, denn dahinter steckt eine positive Absicht: »Mir soll es gutgehen«. Immerhin ist das Ziel des Hedonisten nicht, dass es einem anderen schlecht geht. Das wäre nur ein unbeabsichtigter Kollateralschaden. Er achtet nicht darauf, ob er anderen schadet. Auch nicht darauf, ob er sich selbst in der Zukunft schadet. Das ist dem Hedonisten egal. So weit blickt er nicht voraus.
Sind wir alle pure Hedonisten? Haben wir alle nur das egoistische Ziel, Schmerz zu meiden und Lust zu empfinden? Ich bezweifle das und bin damit nicht ganz allein.
Der englische Philosoph und Sozialreformer Jeremy Bentham erweiterte das Konzept des Hedonismus vom Individuum auf die Allgemeinheit. Und er dehnte den Betrachtungshorizont vom Jetzt auf die Zukunft aus. Ihm zufolge sollen wir so vielen Menschen wie möglich das größtmögliche Glück gewährleisten. Er nannte es das »greates happiness principle«9. Bentham schlug vor, die zu erwartende Freude all derer einzubeziehen, die von einer Entscheidung oder Handlung betroffen wären. Dabei sollte die voraussichtliche Dauer und Intensität der Freude und neben ihrer Wahrscheinlichkeit auch die zeitliche Entfernung der Freude bemessen werden. Er nannte es das hedonistische Kalkül. Im Grundsatz ist das sehr logisch und nachvollziehbar, im praktischen Leben leider etwas sperrig. Bentham muss man es hoch anrechnen, dass er den Hedonismus nicht in erster Linie als egoistisch verstand, sondern mit seinem Leitprinzip Ethik und Moral fördern wollte. Die »Gesamt-Freude«, das »Gesamt-Glück« oder eben der Gesamt-Nutzen sollen maximiert werden. Utilitarismus nennen das die Philosophen.
Jahrzehntelang ging die Wirtschaftstheorie vom Homo oeconomicus aus. Der Mensch habe nichts anderes als Nutzen- und Gewinnmaximierung im Sinn. Er wäge Einsatz und Ertrag stets rational ab, um ein für ihn optimales Ergebnis zu erzielen. Dieses Verhalten wurde jedem Menschen unterstellt, obwohl im Alltag erlebbar ist, dass der Mensch eben nicht auf ein »Ich will mehr haben« reduzierbar ist und bei seinen Entscheidungen keineswegs rein rational vorgeht. Ganz im Gegenteil. Die Mathematiker Reinhard Selten und John Nash sowie der Wirtschaftswissenschaftler John Harsanyi widerlegten diese Grundannahme der traditionellen Mikroökonomie und deckten die Irrationalität unseres Entscheidens und Handelns im wirtschaftlichen Alltag auf.10 Die Auswirkung ihrer Forschungsergebnisse auf das Verständnis wirtschaftlicher Zusammenhänge war so groß, dass sie 1994 den Nobelpreis für ihre Arbeiten erhielten.
Dass Menschen bei ökonomischen Entscheidungen nicht nur auf Gewinnmaximierung aus sind, zeigt das bekannte Ultimatum-Spiel. Entwickelt wurde es von Werner Güth, damals Ökonomieprofessor am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Wirtschaftssystemen in Jena, und seinen Mitarbeitern.11 Eine von zwei Versuchspersonen bekommt 100 Euro mit der Auflage, das Geld mit der zweiten Person zu teilen. Versuchsperson Nummer eins entscheidet, welchen Betrag sie abgibt. Das kann ein Euro sein oder auch die gesamte Summe. Der Reiz an der Sache ist, dass Versuchsteilnehmer Nummer zwei ein Veto einlegen kann. Wenn er meint, sein Partner würde ihm zu wenig überlassen, kann er den Deal platzen lassen. Dann gehen beide leer aus. Wäre der Mensch nur auf seinen eigenen Vorteil aus – ein Homo oeconomicus –, dann würde jeder Proband dem anderen nur einen lausigen Euro anbieten. Nummer zwei wäre einverstanden, denn ein Euro ist immer noch mehr als kein Euro. Das Experiment bewies aber, dass Menschen eben nicht allein nach wirtschaftlichem Kalkül handeln. Das Gefühl für Fairness stieß die These vom rein rational handelnden Menschen um, und zwar auf beiden Seiten: Nur jeder zehnte Geber hatte die Stirn, nur zehn Euro oder weniger anzubieten. Im Durchschnitt wollten die Geber 67 Euro für sich selbst behalten. Und mehr als die Hälfte derer, denen weniger als 20 Euro angeboten wurden, lehnte die Offerte ab, um den Geizhals zu bestrafen, obwohl sie dann gar nichts bekamen. Eigentlich irrational. Wir zielen mit unseren Entscheidungen also nicht egoistisch und rational gesteuert primär auf Nutzenoptimierung ab. Vielmehr ist unser Verhalten emotional beeinflusst und sozial motiviert. Es geht uns auch um Fairness und Vertrauen.
Den puren Homo oeconomicus gibt es also nicht, ebenso wenig den reinen egoistischen Hedonisten. Wir sind wesentlich vielschichtiger und komplizierter als Pantoffeltierchen. Die Frage ist, wie dieser Wirrwarr aus rational und emotional, egoistisch und altruistisch, Freude und Leid zu entschlüsseln ist. Einfache Erklärungsmuster für unser Verhalten wie etwa rationale Nutzenmaximierung oder größtmögliche Freude greifen zu kurz, wie wir gesehen haben. Was aber treibt uns dann bei Entscheidungen im Hier und Jetzt wirklich an und wie hängt das mit unserer Kurzfrist-Orientierung zusammen?
Zwei Seelen in jedem Kopf
Es gibt nicht den Hedonisten. Aber der Hedonist steckt in jedem von uns. Und er hat einen kräftigen Gegenspieler.
In jedem von uns gibt es zwei Pole, zwei innere Stimmen. Bei jeder Entscheidung kämpfen sie miteinander um unsere Aufmerksamkeit. Man könnte sie Engel und Dämon nennen.12
Der Engel in uns denkt langfristig; zeigt in die Zukunft. Er weiß um die zukünftige Belohnung für die Mäßigung oder Mühe, zu der wir heute imstande sind. Der Engel in uns weist uns den oft dornigeren Weg. Den Weg, der riskant ist, weil ja niemand genau weiß, wie die Zukunft wird. Der Engel versteht natürlich, dass es uns jetzt im Moment besser gehen würde, wenn wir das Lustprinzip walten ließen. Aber er macht uns klar, dass es in der Summe keinen Gewinn für uns bedeuten würde. Denn der Engel hat sehr genau im Blick, welche Auswirkungen das kurzfristig orientierte Handeln auf uns und andere hätte und welchen Schaden es anrichten würde, gäben wir immer dem Lustprinzip nach.
Abbildung 1: Zwei Seelen im Kopf: Dämon und Engel
Dieser Teil von uns weiß um das Licht, das in der Ferne strahlend hell leuchtet. Hören wir auf den Engel in uns, nehmen wir...