E-Book, Deutsch, 180 Seiten
Michalski / Preuß / Offe Transit 40
1. Auflage 2010
ISBN: 978-3-8015-0546-2
Verlag: Neue Kritik
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zeitalter der Ungewissheit
E-Book, Deutsch, 180 Seiten
ISBN: 978-3-8015-0546-2
Verlag: Neue Kritik
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der Zusammenbruch des Sowjetimperiums ließ das herrschende Narrativ des 20. Jahrhunderts, insbesondere das Bild des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit, über Nacht überholt erscheinen. 1991 traf sich in Wien am Institut für die Wissenschaften vom Menschen eine Gruppe von Historikern aus dem Westen und aus Osteuropa, um über eine europäische Geschichtsschreibung nach dem Ende der Teilung Europas nachzudenken. Daraus erwuchs das Forschungsprojekt Rethinking Post-War Europe, das von 1993 - 1998 unter der Leitung des Historikers Tony Judt am IWM verfolgt wurde. Es markiert einen Paradigmenwechsel in der Historiographie des 20. Jahrhunderts. Tony Judt starb am 6. August 2010. Dieses Heft ist seinem Gedächtnis gewidmet.
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Timothy Snyder TONY JUDT: EINE INTELLEKTUELLE REISE1 Als ich Tony Judt vor 20 Jahren zum ersten Mal begegnete, war er gerade auf dem Weg zum Zug. Anstatt wegzufahren, aß er jedoch mit zwei Studenten der Brown University in Providence zu Mittag. Behutsam gab er den beiden jungen Männern, die zwischen Journalismus und Geschichte schwankten, Karrieretipps. Ich möchte natürlich nicht behaupten, dass jeder, der jemals mit Tony gegessen hat, entweder Historiker wurde, so wie ich, oder den Pulitzer-Preis gewann, so wie Gareth Cook. Vielmehr geht es mir um den außergewöhnlich großzügigen Umgang, den Tony mit seiner Zeit pflegte – insbesondere wenn es um junge Menschen ging. Auf eine kurze Bitte um Rat erhielt man mitunter eine mehrseitige, sorgfältig ausgearbeitete Antwort. Tony schrieb Dutzende von Empfehlungsschreiben für Leute, die formal nicht einmal seine Studenten waren, und organisierte Konferenzen, auf denen jüngere mit etablierteren Wissenschaftlern zusammentrafen. In seinem Remarque Institute an der New York University war Leistung ein deutlich wichtigeres Aufnahmekriterium als Ruhm. Man kann in Tony Judt im Verlaufe seines Lebens eigentlich zwei Historiker sehen: zunächst einen aus der Arbeiterklasse stammenden Marxisten mit englisch-jüdischem Hintergrund, der seine Ausbildung in Cambridge und an der École Normale in Paris absolvierte und vier hervorragende Bücher über die französische Linke verfasst hat; später dann einen großen New Yorker Gelehrten, der neben einer fulminanten Geschichte Nachkriegseuropas auch bemerkenswert klare Studien über einige führende europäische Intellektuelle geschrieben hat, darunter Albert Camus und Leszek Kolakowski. Das Bindeglied zwischen diesen beiden Stadien war Past Imperfect, Tonys eloquente Kritik der Pariser Intellektuellen nach dem Zweiten Weltkrieg, die 1992 erschien. Auf den ersten Blick war dieses Buch eine genaue Untersuchung des Kommunismus von Jean-Paul Sartre und des politischen Narzissmus der Rive Gauche-Intellektuellen, die den Stalinismus feierten, aber die Augen vor seinen Folgen in Osteuropa verschlossen. Auf einer tieferen Ebene war das Buch die Abkehr eines französischen Marxisten von seiner eigenen Tradition. Tony hatte sein erstes Buch, La reconstruction du parti socialiste, 1921-1926, auf Französisch verfasst. Ein französischer Kritiker stellte treffend fest, dass Past Imperfect sich lese wie die Auseinandersetzung eines lebenden französischen Intellektuellen mit seinen toten Kollegen. Im Grunde war dieses Buch Tonys erster Versuch einer Geschichtsphilosophie, die den Untergang des Marxismus und der anderen großen politischen und intellektuellen Systeme des 20. Jahrhunderts überleben sollte. Als er sich von den französischen Marxisten distanzierte, widerstand er der Versuchung, den Marxismus durch eine andere Quelle intellektueller Autorität zu ersetzen. Während andere Intellektuelle seiner Generation den Marxismus gegen etwas anderes austauschten, das wie sein Gegenteil erschien – etwa den Markt – verwarf Tony den Gedanken, dass dem historischen Wandel eine einzige Erklärung zugrunde liegen könnte. Past Imperfect war möglich, weil Tony in den 1980er Jahren eine Art mentale Reise durch Osteuropa unternommen hatte – ganz entgegen dem Trend seines Berufsstandes, der ungeachtet der Umwälzungen in Osteuropa westlich orientiert blieb, und im Gegensatz zur Geschichte seiner Familie, die das Russische Reich in Richtung Westen verlassen hatte. Diese intellektuelle Reise war fruchtbarer, wenn auch weniger dramatisch als Tonys Begegnungen mit dem jüdischen Staat. Sein jugendlicher Zionismus war eine halbherzige Rebellion gegen seine Eltern, die wollten, dass er in England studierte; seine spätere Kritik an Israel war, unter anderem, auch eine Art Selbstkritik. Interessanter hingegen ist, wie er um die Mitte seines Lebens am intellektuellen Geschehen Osteuropas teilnahm, was seinen Bruch mit dem Marxismus beschleunigte und ihm eine umfassendere Sichtweise auf den Kontinent ermöglichte. Tony war 1948 geboren und gehörte somit derselben Generation an wie die rebellischen polnischen Intellektuellen, viele von ihnen ebenfalls jüdischer Abstammung, die geschlagen, eingesperrt und 1968 als Opfer einer antisemitischen Kampagne aus dem kommunistischen Polen vertrieben wurden. Einige dieser Menschen – vor allem Jan Gross, Irena Grudzinska-Gross und Barbara Torunczyk – freundeten sich in den 1980er Jahren mit ihm an, wodurch ihre Geschichte in einem entscheidenden Sinn auch zu seiner Geschichte wurde. 1968 war Tony noch Zionist und Marxist. Seine polnischen Freunde waren nie Zionisten gewesen (obwohl sie vom kommunistischen Regime als solche bezeichnet wurden), und sie hatten ihre intellektuelle Abkehr vom Marxismus deutlich vor ihm begonnen. 1968, im Alter von 20 Jahren, nahm Tony an Studentendemonstrationen in Paris, London und Cambridge teil. Nach einer Antikriegsdemonstration in Cambridge trabte er ins King’s College zurück, plauderte auf dem Weg mit einem Polizisten und hoffte, noch vor der Essensglocke den Speisesaal zu erreichen. Zwei Jahrzehnte später, mit nunmehr 40 Jahren, sah Tony, wie sehr sich diese Situation von der in Warschau unterschied, wo die Polizei Schlagstöcke einsetzte. Die Erfahrungen seiner osteuropäischen Freunde begannen, seine eigenen zu überlagern und halfen ihm, sein Verständnis von Nachkriegseuropa zu vertiefen. Angesichts der Tatsache, dass der Vater seines Vaters in Warschau zur Welt gekommen war und dass im Warschauer Ghetto auch Mitglieder der Familie Judt lebten, vermochte sich Tony vorzustellen, dass auch sein Leben so hätte verlaufen können wie das seiner Freunde. In den 1980er Jahren lehrte Tony in Oxford, ebenso wie der polnische Philosoph Leszek Kolakowski, der 1968 zur intellektuellen Inspirationsquelle für die Studenten seines Landes geworden war. Über Kolakowskis Meisterwerk, Die Hauptströmungen des Marxismus, das wie kein anderes Buch den Glauben an den Marxismus erschütterte, hat Tony 2006 im New York Review of Books einen brillanten Essay geschrieben.2 Nach dem Ende des Glaubens an umfassende Erklärungen zogen sich viele Historiker auf hochspezialisierte Gebiete zurück. Tony hingegen wählte, als er sich in den 1990er Jahren darauf vorbereitete, Postwar zu schreiben, einen schwierigeren Weg. Ähnlich wie Isaiah Berlin, ein weiterer in Oxford tätiger, einflussreicher Zeitgenosse, erkannte auch er die der Geschichte innewohnende, irreduzible Vielfalt an und versuchte, dieser Vielfalt in einer überzeugenden, in sich stimmigen und wahren Darstellung gerecht zu werden. Tony brachte nicht nur Ost- und Westeuropa zusammen, sondern auch Skandinavien und den Mittelmeerraum. Er schrieb gleichermaßen kompetent über Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Kultur. Spezialgebieten zollte er Respekt, indem er ihre immense Literatur bewältigte und sie auf elegante Weise in seiner Darstellung zusammenführte. Tony war ein Kosmopolit, und doch verbarg sich hinter den Sprachen, die er beherrschte, und seinem stupenden Wissen ein gewisses Unbehagen. Als der ehemalige Chef des DDR-Auslandsnachrichtendienstes, Markus Wolf, ihn einmal auf einer Konferenz in Berlin nicht ohne Arglist bat, eine Frage auf Deutsch zu wiederholen, kam Tony dieser Bitte mit einem für ihn untypischen Zögern nach. Nachdem ich einen Großteil der vergangenen zwei Jahre auf die Arbeit an seiner Biographie verwandt habe, glaube ich nun den ersten Satz zu kennen, den Tony je auf Deutsch gesprochen hat. Es war 1960, als er – gerade zwölf Jahre alt – und seine Eltern auf dem Weg in den Sommerurlaub eine Nacht in Deutschland verbringen mussten. Seine Familie bestand väterlicherseits aus osteuropäischen Juden, die sich in Belgien niedergelassen hatten. Viele von ihnen wurden im Holocaust ermordet. Tony selbst erhielt seinen Namen im Angedenken an Toni Avegael, eine in Auschwitz umgekommene Cousine seines Vaters. Tonys Vater brachte es nicht über sich, mit den Deutschen an der Hotelrezeption zu sprechen, weshalb er seinen Sohn anwies zu sagen: »Mein Vater will eine Dusche«. In seiner Erziehung war der Holocaust, so Tony in der Biographie, überall und nirgends, ungreifbar wie ein Dunstschleier. Dasselbe Bild trifft auf die Präsenz und die Abwesenheit des Holocaust in Tonys Geschichtsschreibung zu. Alle seine frühen Bücher über die französische Linke stellten, und sei es nur implizit, die Frage: Musste das geschehen? Hätte anstelle des Nationalsozialismus nicht auch der Sozialismus obsiegen können? Hätte nicht auch Frankreich anstelle Deutschlands die Oberhand gewinnen können? War eine aufgeklärte Politik nicht dennoch möglich? Selbst in Past Imperfect hatte Tony nur wenig über die französische Erfahrung der deutschen Besetzung und über die Verbrechen von Vichy zu sagen. In Postwar sparte er den Holocaust mehr oder weniger aus der Geschichte aus; in seiner Schlussbetrachtung kommentierte er mehr das Gedenken an den Holocaust, als dass er sich auf das Ereignis selbst konzentriert hätte. Ähnlich wie viele andere Historiker seiner Generation, schrieb auch Tony eine Zeit lang so, als glaube er, man könne die großen Themen der intellektuellen und politischen Geschichte des letzten Jahrhunderts losgelöst vom Holocaust behandeln. Zuletzt wurde ihm aber klar, dass sich der Massenmord an den europäischen Juden jeder Darstellung dieser Geschichte unabweisbar aufdrängt. Als seine tödliche Krankheit ausbrach, bereitete er sich gerade darauf vor, eine intellektuelle Geschichte des 20. Jahrhunderts zu schreiben, die dessen zentraler Tragödie Rechnung tragen sollte. Erst ganz am Ende schloss Tony den Kreis mit dem Buch, das er in der...