E-Book, Deutsch, 171 Seiten
Meyrink Lebens Weg
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-8187-5252-1
Verlag: epubli
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Meyrink - wie Sie ihn noch nie gelesen haben.
E-Book, Deutsch, 171 Seiten
ISBN: 978-3-8187-5252-1
Verlag: epubli
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Meyrink - wie Sie ihn noch nie gelesen haben. * Die Texte von Gustav Meyrink in diesem Buch wurden sorgsam überarbeitet, dadurch sind sie wesentlich angenehmer zu lesen. * Meyrink lesen heißt, abzutauchen in eine Welt voller Geheimnisse und tiefster Erkenntnisse. Dabei steht das Erleben und Genießen seiner Geschichten im Vordergrund. Es gibt Menschen, denen offenbaren sich Zusammenhänge, die anderen verborgen bleiben, Meyrink ist so ein Schauender und zugleich ein Eingeweihter. * Dieses Buch enthält zwei Romane und zwei Geschichten über die verschiedenen Lebens- und Schicksalswege; eines Alchemisten, eines Suchenden, eines Unsterblichen sowie eines blauen Mönchs und ihre Suche nach dem Sinn des Lebens. Es sind u.a. die tiefsten, eindring-lichsten und an Erkenntnis reichsten Geschichten Gustav Meyrinks. * Enthalten sind: Der Alchemist Sendivogius / Meister Leonhard / Vivo - Ich lebe! / Die giftigen Blumen des Kardinal Napellus. * Mit einer Einführung, Biografie, Kommentaren und Nachwort von Pol Devachan.
Gustav Meyrink wurde 1868 in Wien geboren und verstarb im Alter von 64 Jahren 1932 in Starnberg. * Er übersetzte Geschichten von Charles Dickens, Rudyard Kipling und Camile Flammarion. * Seine Romane stießen im 20. Jahrhundert in Rosenkreuzertum und Theosophie auf ein ganz besonderes Interesse. Bis heute hat dieses Interesse nicht nachgelassen und inspiriert und fesselt nicht nur spirituell interessierte Menschen. * Immer verspürt man bei ihm eine tiefe Sehnsucht und Suche nach dem Sinn des Lebens. Alle Äußerlichkeiten sind nur Um- oder Irrwege, zu diesem Ziel. * Meyrik hat ständig auf diesen Weg hingewiesen und ihn in seinen Romanen und Geschichten beschrieben. Er hat diesen Weg in seinem Leben beschritten und wohl auch vollendet.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Meister Leonhard
Unbeweglich sitzt Meister Leonhard in seinem gotischen Lehnstuhl und starrt mit weit offenen Augen geradeaus. Der Schein des lodernden Reisigfeuers im kleinen Herd flackert über sein Büßergewand. Der Meister sitzt regungslos, während der Feuerschein seinen langen weißen Bart, sein gefurchtes Gesicht und seine Greisenhände beleuchtet, die mit den geschnitzten Armlehnen wie verwachsen scheinen. Meister Leonhard hat seinen Blick zum Fenster gekehrt, vor dem hohe Schneehügel die ruinenhafte halb versunkene Schlosskapelle umgeben, in der er verweilt. Im Geiste aber sieht er hinter sich die kahlen, engen und schmucklosen Wände, die ärmliche Lagerstatt und das Kruzifix über der wurmstichigen Tür. Er sieht einen Wasserkrug, einen Laib selbst gebackenen Bucheckern Brot sowie das Messer mit dem gekerbten Beingriff in der Ecknische. Er hört draußen die Baumriesen unter dem Frost krachen und sieht die Eiszapfen im schneidenden Mondlicht herab funkeln von den weiß beladenen Ästen. Er erkennt seinen eigenen Schatten durch den Spitzbogen des Fensters fallen und mit den Silhouetten der Tannen auf dem glitzernden Schnee sein gespenstisches Spiel treiben, wenn das Feuer der Kienspäne im Ofen die Hälse reckt. Dann wieder sieht er seinen Schatten zusammengeschrumpft zu einer Bocksgestalt auf dem schwarzblauem Thron während die Knäufe des Lehnstuhls wie Teufelshörner mit ihren spitzen Ohren wirken. Ein altes, buckliges Weib aus dem Meiler, jenseits der Moorheide, der tief unten im Tal liegt, humpelt mühsam durch den Wald herauf. Sie zieht einen Handschlitten mit dürrem Holz. Erschreckt glotzt sie in den blendenden Schatten des Lichts und begreift nichts. Ihr Blick fällt auf den Teufelsschatten im Schnee und sie erfasst weder, dass sie vor der Kapelle steht, von der die Sage geht, dass der letzte gegen den Tod gefeite Spross eines fluchbeladenen Geschlechtes darin hause. Voller Entsetzen schlägt sie das Kreuz und hastet mit zitternden Knien zurück in den Wald. Meister Leonhard folgt ihr eine Weile im Geist auf dem Weg, den sie nimmt. Er kommt an den brandschwarzen Trümmern des Schlosses vorüber, in dem seine Jugend verschüttet liegt, aber es berührt ihn nicht mehr. Alles in ihm ist Gegenwart, klar wie ein Gebilde aus farbiger Luft. Er sieht sich als Kind unter einer jungen Birke mit bunten Kieseln spielen und sieht sich gleichzeitig als Greis vor seinem Schatten sitzen. Die Gestalt seiner Mutter taucht vor ihm auf mit ewig zuckenden Gesichtszügen; alles an ihr bebt in beständiger Unruhe. Nur die Haut ihrer Stirn ist unbeweglich und glatt wie Pergament, der gleich einer fugenlosen Elfenbeinkugel das Gefängnis eines summenden Schwarms unsteter Gedanken zu sein scheint. Er hört das ununterbrochene und die Nerven aufpeitschende Rascheln ihres schwarzen seidenen Kleides, das wie das Schwirren von Millionen Insektenflügeln die Räume des Schlosses erfüllt. Es dringt durch Boden- und Mauerritzen und raubt Mensch und Tier den Frieden. Alles steht unter dem Bann ihrer schmalen, immer befehlsbereiten Lippen und nichts und niemand wagt sich hier heimisch zu fühlen. Die Mutter kennt das Leben der Welt nur vom Hörensagen und über den Zweck des Daseins nachzuforschen, hält sie für überflüssig und nur für eine Ausrede von Faulheit. Nur durch ein von früh bis spät und zweckloses umher Rennen im Haus, ein sinnwidriges da und dort hinstellen von Gegenständen, ein fiebriges sich müde machen bis in den Schlaf hinein und ein Zermürben ihrer Umgebung, glaubt sie ihre Pflicht gegen das Leben zu erfüllen. Nie kommt ein Gedanke in ihrem Hirn zu Ende, kaum entsteht er, wird er bereits zu hastiger und zweckloser Tat. Sie ist wie der vorwärts hastende Sekundenmesser einer Uhr, der sich einbildet, dass die Welt ins Stocken gerät, wenn er nicht dreitausendsechshundert mal und das zwölfmal am Tage im Kreise herum zappelt. Die Ungeduld der Mutter und der Sekundenzeiger der Uhr zerfeilen die Zeit zu Staub. Oft mitten in der Nacht reißt die Besessenheit die Mutter aus dem Bett und sie weckt die Dienerschaft. Alle Blumentöpfe, die in unabsehbaren Reihen auf den Fenstersimsen stehen, müssen sogleich begossen werden. Sie ist sich nicht klar darüber, warum es sofort sein muss, aber es genügt, dass sie begossen werden müssen. Niemand wagt ihr zu widersprechen, jeder verstummt angesichts der Erfolglosigkeit, mit dem Schwert des Verstandes gegen ein Irrlicht ankämpfen zu wollen. Nie zieht eine Pflanze Wurzel, denn täglich setzt sie sie um. Niemals lassen sich Vögel auf dem Dach des Schlosses nieder. In Scharen durchkreuzen sie in dunklem Wandertrieb den Himmel, schwenken hierhin und dorthin, werden zu Punkten, bald breit und flach wie schwarze, flatternde Hände. Selbst in den Sonnenstrahlen liegt ein ewiges Zittern, denn immer herrscht Wind und verweht ihr Licht mit jagenden Wolken. Ständig geht ein Schwanken und Zausen von früh bis abends durch Blätter und Zweige der Bäume und niemals gelangen Früchte zur Reife. Bereits der Mai bläst alle Blüten davon. Selbst die Natur ringsum ist krank von der Unrast im Schloss. Meister Leonhard sieht sich vor seiner Rechentafel sitzen. Er ist zwölf Jahre alt und drückt die Hände fest an die Ohren, um das Schlagen der Türen und das unablässige Treppauf, Treppab der Mägde sowie das Schrillen der Stimme seiner Mutter nicht hören zu müssen. Es nützt nichts. Seine Gedanken werden zu einer Herde wimmelnder winziger Kobolde, lassen sein Blut rasen und seine Haut brennen. Er versucht es mit dem Lesen, umsonst, die Buchstaben tanzen vor seinen Blicken, wie ein nicht zu fassender Mückenschwarm. „Ob er seine Aufgabe denn immer noch nicht lesen kann?“ schreckt ihn die Stimme der Mutter auf. Sie wartet die Antwort nicht ab, ihre irren wasserblauen Augen suchen alle Ecken ab. Liegen nicht irgendwo Staub oder Spinnweben, die auch wenn nicht vorhanden abgekehrt werden müssen. Möbel werden umgestellt, hinaus und wieder herein gerückt. Schränke werden zerlegt und nachgesehen, damit sich keine Motten einnisten. Man schraubt die Tischbeine ab und wieder an, Schubladen fliegen auf und zu, man hängt die Bilder um, reißt Nägel aus den Wänden und schlägt sie daneben ein. Die Dinge geraten in Tobsucht, der Hammer fliegt vom Stiel, Leitersprossen brechen, Kalk bröckelt von der Decke. Der Maurer soll sofort kommen! Wischtücher klemmen sich ein, Nadeln fallen aus der Hand und verstecken sich in Dielenritzen, der Wachhund im Hof reißt sich los und kommt mit klirrender Kette herein. Der kleine Leonhard verbohrt sich von neuem in seinem Buch und beißt die Zähne zusammen, um einen Sinn zu erhaschen aus den schwarzen krummen Haken, die da drin hintereinander herlaufen. Er soll sich anderswo hinsetzen, der Sessel muss ausgeklopft werden. Er lehnt sich das Buch in der Hand ans Fensterbrett. Das Fensterbrett muss gewaschen und weiß gestrichen werden; warum er denn überall im Weg ist? Und ob er seine Aufgabe jetzt endlich kann? Dann fegt die ewig rastlose Furie hinaus; die Mägde müssen alles liegen und stehen lassen und rasch ihr nach und Schaufeln, Äxte und Stangen holen für den Fall, dass im Keller Ratten sind. Das Fensterbrett ist halb gestrichen, von den Stühlen fehlen die Sitze und das Zimmer gleicht einem Trümmerhaufen, während ein dumpfer grenzenloser Hass gegen die Mutter sich in das Herz des Kindes frisst. Jede Faser in ihm lechzt nach Ruhe; er sehnt die Nacht herbei, aber selbst der Schlaf bringt sie ihm nicht. Wirre Träume halbieren seine Gedanken, so dass aus einem zwei werden, die einander jagend verfolgen und doch nie erreichen. Seine Muskeln können sich nicht entspannen, der ganze Körper ist in beständiger Abwehrhaltung gegen blitzartig hereinbrechende Befehle, dieses oder jenes Sinnlose vollbringen zu müssen. Die Spiele während des Tages im Garten entspringen nicht seiner jugendlichen Lust, die Mutter ordnet sie an ohne Verständnis, wie alles, was sie tut. Jedes Spiel unterbricht sie, ein längeres Beharren bei einer Sache erscheint ihr als Stillstand, gegen den sie glaubt, ankämpfen zu müssen wie gegen den Tod. Das Kind traut sich nicht vom Schloss weg, bleibt immer in Hörweite, es gibt kein Entrinnen, ein Schritt zu weit und schon fällt ein lautes Wort aus den offenen Fenstern herab und hemmt seinen Fuß. Die kleine Sabine, ein Bauernmädchen, das unten beim Gesinde wohnt und ein Jahr jünger ist als er, sieht Leonhard nur von weitem, und gelingt es ihnen, einmal für kurze Minuten zusammen zu kommen, reden sie in hastigen abgerissenen Sätzen. Der alte Graf, Leonhards Vater, ist auf beiden Füßen lahm, er sitzt den ganzen Tag im Rollstuhl in seinem Bibliothekszimmer, stets im Begriff zu lesen; aber auch hier herrscht keine Ruhe. Stündlich wühlen die nervösen Hände der Mutter in den Büchern, stauben sie ab und schlagen sie mit den Deckeln aneinander, Merkzeichen flattern auf den Boden, Bände, die heute hier stehen, stehen morgen hoch oben auf den Borden oder sich zu Bergen türmen, wenn plötzlich die Tapeten hinter den Gestellen mit Brot oder Bürsten abgerieben werden sollen. Und ist die Gräfin für eine Zeit in den anderen Räumen des Schlosses, so steigert sich nur die Qual des geistigen Wirrwarrs durch das nagende Gefühl der Erwartung, dass sie jeden Augenblick unversehens zurückkommen kann. Abends, wenn die Kerzen brennen, schleicht sich der kleine Leonhard zu seinem Vater, um ihm Gesellschaft zu leisten. Es kommt jedoch zu keinem Gespräch; wie eine Glaswand, durch die hindurch...