E-Book, Deutsch, Band 4, 384 Seiten
Reihe: Merle-Zyklus
Meyer Serafin. Das Kalte Feuer
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7336-5203-6
Verlag: Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Merle-Zyklus 4
E-Book, Deutsch, Band 4, 384 Seiten
Reihe: Merle-Zyklus
ISBN: 978-3-7336-5203-6
Verlag: Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kai Meyer, geboren 1969, ist einer der wichtigsten deutschen Phantastik-Autoren. Er hat über fünfzig Romane veröffentlicht, Übersetzungen erscheinen in dreißig Sprachen. Seine Geschichten wurden als Film, Hörspiel und Graphic Novel adaptiert und mit Preisen im In- und Ausland ausgezeichnet.
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1
Bei Neumond, in der Nacht der leeren Kanäle, wartete Serafin in seinem Versteck am Ufer, bis die Patrouille der Stadtgarde vorbeimarschiert war. Erst als die Schritte der Soldaten nicht mehr zwischen den Häusern widerhallten, huschte er hinaus auf die schmale Steinbrücke, verknotete das schwarze Seil am Geländer und begann seinen Abstieg in den ausgetrockneten Kanal.
Der schlammige Boden lag gut drei Meter unter ihm. Serafin hätte springen können, aber das Risiko, mit dem Aufprall die Gardisten zu alarmieren, war zu groß. Falls sie zurückkehrten und ihn bemerkten, würden sie ohne Vorwarnung das Feuer eröffnen. Auf das Plündern der leeren Kanäle stand seit Jahren die Todesstrafe.
Seine goldene Katze Cagliostra schwebte aus dem Nachthimmel herab auf das Brückengeländer, legte ihre gefiederten Schwingen an und blickte Serafin mit glühenden Augen an.
, erklang ihre Stimme in seinem Kopf.
»Wie viele sind es?«, flüsterte er. Damit Cagliostra ihn verstand, hätte es ausgereicht, die Frage zu denken, doch dabei vermischten sich die Worte oft mit anderen Dingen. Er hatte die Hoffnung nicht aufgegeben, dass klare Ansagen die Katze eines Tages dazu bringen könnten, ihm wenigstens gelegentlich zu gehorchen.
»Kannst du sie ablenken?«
»Komm schon, Cagliostra.«
Mit wenigen Schwingenschlägen flog sie ans Kanalufer, ließ sich geschmeidig auf der Steinkante nieder und leckte sich die Vorderpfote.
Er seufzte. »Was verlangst du?«
»Wir haben nur zwei. Mama ist krank, sie kann nicht –«
»Das ist Erpressung.«
»Lieber lass ich mich erschießen.«
Vordergründig lenkte sie ihre Aufmerksamkeit von der rechten auf die linke Pfote, doch ihre grünen Augen blickten immer wieder wachsam zur Brücke und zur Gassenmündung hinüber. Irgendwo in der Ferne peitschten Schüsse.
»Eine Woche«, wisperte er aus dem Kanal zu ihr hinauf.
Schlagartig verlor sie das Interesse an ihrer Körperpflege, breitete die Schwingen aus und stieß sich ab. In einer sanften Kurve segelte sie über Serafin hinweg, stieg steil nach oben und bog in die Gasse.
, wiederholte sie.
, dachte er.
Hier unten im Kanal war es nahezu stockfinster. Serafin tastete sich ein Stück weit nach Süden vor, der Einmündung in den Canal Grande entgegen. Seine Stiefel versanken bis zu den Knöcheln im Morast, bei jedem Schritt bestand die Gefahr, dass sie stecken blieben. Wenn sich sein Rucksack in den nächsten ein, zwei Stunden mit Fundstücken füllte, würde er noch tiefer einsinken. Um in dem stinkenden Schlick überhaupt etwas zu finden, musste Serafin allerdings seine Lampe anzünden, und das war nur möglich, solange keine Gardisten in der Nähe waren. Lichtschein inmitten der Finsternis war noch immer die beste Zielscheibe.
In den Canal Grande, Venedigs breiteste Wasserstraße, zog es die meisten Schlammsammler. Er war tiefer als die übrigen Kanäle und übersät mit Unrat und Wrackteilen, die Deckung vor den Kugeln vom Ufer boten. Andererseits hielten sich am Canal Grande die meisten Soldaten auf, und ihre Schüsse bellten die ganze Nacht hindurch.
Einmal im Monat, wenn sich der Neumond hinter dem Horizont verbarg, verschwand mit seinem Licht auch das Wasser aus Venedigs Kanälen. Ein paar Stunden lang wurden die Schneisen zwischen den Häusern und Palästen zu Straßen aus schwarzem Morast und gaben preis, was auf ihrem Grund lag: Berge von Abfällen, aber auch die Überreste versunkener Boote und Gondeln; verlorene Kleinode, die über Bord gegangen waren; fortgeworfene Schmuckstücke enttäuschter Liebender; und immer wieder Knochen, manche uralt, andere von erschossenen Schlammsammlern.
Nicht die Gezeiten waren der Grund für die leeren Kanäle. Anders als bei Ebbe zog sich das Wasser bei Neumond nicht allmählich zurück. Vielmehr löste es sich von einem Augenblick zum nächsten buchstäblich in Luft auf. An den Rändern der Stadt, wo Venedigs Kanäle in die offene Lagune mündeten, stand das Wasser dann wie abgeschnitten als wabernde Wand am Ende der tiefen Schneisen.
Niemand kannte den Grund für dieses Phänomen, obwohl sich Generationen von Gelehrten die Köpfe darüber zerbrochen hatten. Berechnungen waren angestellt, magische Traktate konsultiert, Beobachtungen vorgenommen und Bücher darüber geschrieben worden – ohne überzeugendes Ergebnis.
Keiner konnte vorhersagen, wie lange das Wasser verschwunden blieb. Mal nur zwei Stunden, mal die halbe Nacht. Derweil wagten sich Dutzende Schlammsammler hinab in die sumpfigen Kanäle, um nach Gegenständen von Wert zu suchen. Legenden rankten sich um Bootsladungen aus Gold und Edelsteinen, um kostbare Gläser und wertvolle Waffen, die einst im Labyrinth der venezianischen Kanäle versunken waren. Meist jedoch fanden Sammler wie Serafin nur billigen Tand, mit viel Glück ein paar Münzen. Selten reichte die Ausbeute, um bis zum nächsten Neumond davon leben zu können.
Doch anders als die übrigen Schlammsammler hatte Serafin es nicht allein auf versunkene Schätze abgesehen.
, sagte Cagliostra.
Serafin sah kurz auf, bemerkte über sich das vertraute Flattern in der Dunkelheit und hob die kleine Glaslaterne von dem Haken an seinem Gürtel.
, sagte die Katze.
»Natürlich.« Er schmunzelte verstohlen. »Sie sind vorher abgebogen, oder?«
Cagliostra hatte zwei makellose Reihen menschlicher Zähne. Wenn ihre katzige Zungenspitze darüber hinwegglitt, sah das in der Tat beunruhigend aus.
»Ich mach jetzt die Lampe an«, flüsterte er. »Bleib in der Luft und halt die Augen offen.«
Das Gefieder an ihren Flügeln raschelte, als sie die Richtung wechselte. Serafin hoffte, dass sie sich nicht von Ungeziefer ablenken ließ. Sie sei nicht mehr in dem Alter, in dem man jedem Wollknäuel hinterherjage, hatte sie einmal erbost erklärt. Angeblich war sie hundertundsieben Jahre alt.
Mit links hob er die Laterne vor sein Gesicht, hielt die rechte Hand neben das Glas und schnippte mit den Fingern. Der Docht glühte kurz auf und fing Feuer. Fahler, gelber Schein fiel über Serafins Züge. Vor ein paar Jahren hatte er herausgefunden, dass sein Fingerschnippen Kerzen und Laternen entzünden konnte. Eines seiner nützlicheren Talente, fand er, obwohl er gelegentlich Albträume davon hatte: Dann sah er sich beim Schlammsammeln hilflos von Hunderten Flammen umgeben, und aus allen Richtungen prasselten die Schüsse der Gardisten auf ihn ein.
, meldete Cagliostra aus der Dunkelheit über ihm.
»Los geht’s.«
Ein paar Minuten lang stapfte er durch den Morast und schwenkte die Laterne knapp über dem Boden. Abgesehen von ein paar toten Fischen war die Schlammfläche leer. Rechts und links gab es bald keinen Gehweg mehr, die hohen Fassaden der Häuser wuchsen unmittelbar aus dem Kanal empor. Ohne das Wasser waren die engstehenden Pfahlreihen zu sehen, auf denen ein Fundament aus Backsteinen und istrischem Marmor ruhte. Darauf wiederum waren die Gebäude errichtet worden; die übliche Bauweise auf den Inseln der Lagune.
Falls jemand hinter ihm auf der Brücke auftauchte, gäbe es für Serafin nur noch die Flucht nach vorn. Keine fünfzig Meter entfernt lag die Mündung des Canal Grande.
Stimmen wehten heran.
»Woher kommen die?«
Er öffnete den Glaskäfig und löschte die Flamme. Sofort verschlang ihn die Finsternis.
, dachte er.
Jetzt meinte er, die Katze schemenhaft über der Einmündung flattern zu sehen, gleich darauf hörte er wieder das hektische Schlagen ihrer Flügel. Cagliostra war nicht besonders geschickt darin, wie ein Greifvogel in der Luft zu verharren. Einzig aus Sturheit versuchte sie es trotzdem immer wieder.
»Mist.«
Offizielle Schlammsammler arbeiteten für den Stadtrat und die Glasbrennergilde, wurden von den Gardisten nicht behelligt und hatten die Erlaubnis, jedem illegalen Sammler die Kehle durchzuschneiden. Nur verurteilte Mörder erklärten sich bereit, für die Gilde in die leeren Kanäle zu steigen; es gehe ihnen nicht ums Sammeln, hieß es, sondern einzig darum, ungestraft ihre Grausamkeit auszuleben. Schauermärchen, höhnten manche, aber Serafin hatte schon aus der Ferne mitangesehen, wie andere Schlammsammler den Offiziellen in die Hände gefallen waren. Auch davon träumte er bisweilen, vor allem in den Nächten unmittelbar vor Neumond.
»Wie viele?«, fragte er.
»Nicht...