E-Book, Deutsch, Band 3, 304 Seiten
Reihe: Merle-Zyklus
Meyer Merle. Das Gläserne Wort
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7336-5202-9
Verlag: Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Merle-Zyklus 3
E-Book, Deutsch, Band 3, 304 Seiten
Reihe: Merle-Zyklus
ISBN: 978-3-7336-5202-9
Verlag: Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kai Meyer, geboren 1969, ist einer der wichtigsten deutschen Phantastik-Autoren. Er hat über fünfzig Romane veröffentlicht, Übersetzungen erscheinen in dreißig Sprachen. Seine Geschichten wurden als Film, Hörspiel und Graphic Novel adaptiert und mit Preisen im In- und Ausland ausgezeichnet.
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Eis und Tränen
Die Pyramide erhob sich aus hohem Schnee.
Um sie herum erstreckte sich die ägyptische Wüste, begraben unter dem Mantel einer neuen Eiszeit. Ihre Sandhügel waren steif gefroren, ihre Dünen zu Verwehungen aus Schnee aufgetürmt. Die Glutgeister von einst tanzten als Eiskristalle über die Ebene, kreisende Windhosen, die sich ein paarmal um sich selbst drehten und kraftlos wieder zusammensanken.
Merle kauerte im Schnee, auf einer der oberen Stufen der Pyramide. Junipas Kopf ruhte in ihrem Schoß. Das Mädchen mit den Spiegelaugen hatte die Lider geschlossen, zuckend, als kämpfte dahinter ein Paar Käfer darum, ins Freie zu gelangen. Eiskristalle hatten sich in Junipas Wimpern und Brauen verfangen und ließen beides noch heller erscheinen. Mit ihrer weißen Haut und dem glatten, hellblonden Haar wirkte sie wie eine Puppe aus Porzellan: zerbrechlich und ein wenig traurig, als wäre sie in Gedanken stets bei einem tragischen Verlust in der Vergangenheit.
Merle fror erbärmlich, ihre Glieder schlotterten, ihre Finger bebten, und jeder Atemzug fühlte sich an, als saugte sie geraspelte Glassplitter in ihre Lunge. Ihr Kopf tat weh, aber sie wusste nicht, ob es an der Kälte lag oder an dem, was sie während ihrer Flucht aus der Hölle durchgemacht hatte.
Eine Flucht, die sie geradewegs hierhergeführt hatte. Nach Ägypten. In die Wüste.
Zum ersten Mal seit der letzten Eiszeit waren Sand und Dünen unter einer meterhohen Schicht aus Schnee begraben.
Junipa murmelte etwas, ihre Stirn legte sich in Falten, aber noch immer schlug sie ihre Spiegelaugen nicht auf. Sie war nicht mehr sie selbst, seit man ihr in der Hölle anstelle ihres Herzens ein Bruchstück des Steinernen Lichts eingepflanzt hatte. Zuletzt hatte Junipa versucht, Merle an ihre Gegner auszuliefern. Das Steinerne Licht, jene unbegreifliche Macht im Zentrum der Hölle, hielt sie fest in seinem Bann.
Noch war das Mädchen bewusstlos, aber wenn es erwachte … Merle mochte nicht daran denken. Sie hatte einmal mit ihrer Freundin gekämpft, und sie würde es nicht wieder tun. Sie war mit ihren Kräften am Ende. Sie wollte nicht mehr kämpfen, nicht gegen Junipa, nicht gegen die Lilim unten in der Hölle, auch nicht gegen die Schergen des Ägyptischen Imperiums hier oben. Merles Mut und ihre Entschlossenheit waren aufgezehrt, und sie wollte nur noch schlafen. Sich zurücklehnen, sich ausruhen und abwarten, bis die Frostwinde sie in eisigen Schlummer wiegten.
»Nein!«
Die Fließende Königin riss Merle aus ihrem Dämmerzustand. Die Stimme in ihrem Kopf war ihr vertraut und zugleich unendlich fremd. So fremd wie das Wesen selbst, das sich in ihr eingenistet hatte und sie seither begleitete, jeden ihrer Gedanken, jeden ihrer Schritte.
Merle schüttelte sich und mobilisierte ihre letzten Reserven. Sie musste überleben!
Rasch hob sie den Kopf und blickte zum Himmel empor. Dort oben tobte ein erbitterter Kampf. Ihr Begleiter Vermithrax, der geflügelte Löwe aus Stein, focht eine waghalsige Luftschlacht mit einer Sonnenbarke des Ägyptischen Imperiums. Der schwarze Obsidian seines Körpers glühte seit Vermithrax’ Bad im Steinernen Licht, als hätte man ihn aus Lava gegossen. Nun zog der Löwe leuchtende Spuren am Himmel wie eine Sternschnuppe.
Merle beobachtete, wie Vermithrax die trudelnde Sonnenbarke rammte, sich an dem sichelförmigen Gefährt festklammerte und auf der Oberseite sitzen blieb. Seine Schwingen legten sich rechts und links um den Rumpf, der etwa dreimal so lang war wie eine venezianische Gondel. Unter dem Tonnengewicht des Löwen verlor das Gefährt rapide an Höhe, raste auf den Boden zu, auf die Pyramide – und auf Merle und Junipa!
Merle erwachte endgültig aus ihrer Starre. Es war, als hätte die Kälte einen Panzer aus Eis um sie gelegt, den sie jetzt mit einem einzigen Ruck sprengte. Sie federte hoch, packte die bewusstlose Junipa unter den Armen und zerrte sie mit sich durch den Schnee.
Sie befanden sich im oberen Drittel der Pyramide. Falls der Aufschlag der Sonnenbarke das Gestein zertrümmerte, hatten sie keine Chance. Eine Lawine aus Felsblöcken würde sie mit sich in den Hohlraum im Inneren des Bauwerks reißen.
Vermithrax blickte auf und sah, wohin der taumelnde Flug die Barke führte. Der Luftwiderstand erzeugte einen scharfen Knall, als er seine Schwingen auseinanderriss und versuchte, den Absturz der Barke umzulenken. Aber das Gefährt war zu schwer, als dass er allein es hätte auffangen können. Es behielt seinen steilen Kurs in die Tiefe bei, geradewegs auf die Flanke der Stufenpyramide zu.
Vermithrax brüllte Merles Namen, aber sie nahm sich nicht die Zeit, aufzusehen. Rückwärts zerrte sie Junipa die steinerne Stufe entlang. Bei jedem Schritt musste sie ihre Füße mühsam aus dem Tiefschnee ziehen, und ständig drohte sie zu stolpern. Ihr war klar, dass sie nicht mehr aufstehen würde, wenn sie einmal gestürzt war. Ihre Kraftreserven waren so gut wie aufgebraucht. Ein schrilles Heulen drang an Merles Ohren, als die Sonnenbarke näher kam: eine Pfeilspitze, mit der das Schicksal auf sie zielte; es gab kaum noch Zweifel, dass sie ins Schwarze treffen würde.
»Junipa«, brachte sie keuchend hervor, »du musst mir helfen …«
Aber Junipa bewegte sich nicht. Nur hinter ihren geschlossenen Lidern zuckte und rumorte es. Wäre dieses Lebenszeichen nicht gewesen, Merle hätte gemeint, eine Tote durch den Schnee zu ziehen: Junipas Brust hob und senkte sich nicht, und da war kein Herz mehr, das schlug. Nur Stein.
»Merle!«, brüllte Vermithrax erneut. »Bleib stehen!«
Sie hörte ihn, reagierte aber nicht, machte zwei weitere Schritte, ehe die Worte zu ihr durchdrangen.
Stehen bleiben? Was, zum Teufel –
Sie blickte zurück, sah die Barke – so nah! –, sah auf dem Rumpf Vermithrax mit ausgebreiteten Schwingen, die im Gegenwind nach hinten umzuschlagen drohten, und erkannte, was der Löwe bereits einen Augenblick vor ihr bemerkt hatte.
Die Sonnenbarke trudelte stärker, wich von ihrer ursprünglichen Sturzbahn ab und raste jetzt auf die gegenüberliegende Kante der Pyramidenflanke zu, dorthin, wo Merle sich und Junipa hatte in Sicherheit bringen wollen.
Es war zwecklos, umzudrehen. Stattdessen ließ Merle Junipa los, warf sich über sie und barg ihr Gesicht unter ihren Armen. So erwartete sie den Aufprall.
Er ließ auf sich warten – zwei Sekunden, drei Sekunden –, doch als er kam, war es, als hätte man einen mächtigen Gong gleich neben Merles Ohren geschlagen. Der Boden vibrierte mit solcher Heftigkeit, dass sie sicher war, die Pyramide würde einstürzen.
Das Gestein wurde ein zweites Mal erschüttert, als Vermithrax neben ihnen aufkam, mehr Sturz als Landung, beide Mädchen mit seinen Pranken vom Boden riss und in die Luft hob. Trotz der Glut, in der er erstrahlte, war sein Körper kühl.
Seine Vorsichtsmaßnahme erwies sich als unnötig. Die Pyramide hielt stand. Lediglich Schneeschollen brachen von den Kanten und schlitterten ein, zwei Stufen tiefer, zerstoben zu blitzenden Kristallwolken und hüllten die Schräge für einen Moment in einen Nebel aus Eis. Erst nachdem er sich gesetzt hatte, sah Merle, was aus der Barke geworden war.
Die Goldsichel lag auf einer der oberen Stufen, nur ein Stück über der Stelle, an der noch vor Sekunden Merle und Junipa gekauert hatten. Das Gefährt war seitlich aufgekommen, eng an der Wand der nächsthöheren Stufe. Aus der Luft konnte Merle nur einen geringen Schaden erkennen, ein Loch an der Oberseite, das Vermithrax in den Rumpf gerissen hatte.
»Setz uns wieder ab, bitte«, sagte Merle zu dem Löwen, atemlos zwar, aber zugleich so erleichtert, dass neue Kraft sie durchströmte.
»Zu gefährlich.« Der Raubtieratem des Löwen bildete in der eiskalten Luft weiße Dunstwolken.
»Komm schon. Willst du nicht wissen, was in der Barke ist?«
»Ganz bestimmt nicht!«
»Mumienkrieger«, meldete sich die Fließende Königin in Merles Kopf zu Wort, unhörbar für die beiden anderen. »Ein ganzer Trupp davon. Und ein Priester, der die Barke mit seiner Magie in der Luft gehalten hat.«
Merle warf einen Blick zu Junipa hinüber, die an Vermithrax’ zweiter Vorderpranke baumelte. Ihre Lippen bewegten sich.
»Junipa?«
»Was ist?«, fragte Vermithrax.
»Ich glaube, sie wacht auf.«
»Mal wieder genau zum richtigen Zeitpunkt«, meckerte die Königin.
Merle ignorierte die Stimme in ihrem Inneren. Ganz gleich, was das für sie alle bedeuten mochte oder ob sie dadurch eine Sorge mehr haben würden, sie war froh, dass Junipa zu sich kam. Schließlich war sie selbst es gewesen, die Junipa bewusstlos geschlagen hatte, und der Gedanke schmerzte. Aber ihre Freundin hatte ihr keine Wahl gelassen.
»Falls sie noch deine Freundin ist.« Es war nicht das erste Mal, dass die Fließende Königin ihre Gedanken las; es war längst zur schlechten Angewohnheit geworden.
»Natürlich ist sie das!«
»Du hast sie gesehen. Und gehört, was sie zu dir gesagt hat. So benimmt sich keine Freundin.«
»Das ist das Steinerne Licht. Junipa kann nichts dafür.«
»Das ändert wenig daran, dass sie womöglich versuchen wird, dir weh zu tun.«
Merle erwiderte nichts. Sie schwebten gut zehn Meter über der nächsten Pyramidenstufe. Allmählich begann Vermithrax’ fester Griff zu schmerzen.
»Lass uns runter«, bat sie ihn noch einmal.
»Zumindest scheint die Pyramide stabil zu sein«, sagte der Löwe.
»Heißt das, wir sehen uns die Barke an?«
»Das hab ich nicht gesagt.«
»Aber da unten rührt sich...




