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E-Book, Deutsch, 440 Seiten

Meyer Lakritz


1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-7431-3176-7
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 440 Seiten

ISBN: 978-3-7431-3176-7
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Lakritz beschreibt im Milieu einer kinderreichen Arbeiterfamilie das Leben eines heranwachsenden Mädchens im Ruhrpott.

Christine Meyer wurde 1956 in Bottrop als sechstes Kind eines Arbeiterehepaares geboren. Es folgten noch zehn weitere Kinder und für Christine eine turbulente Kindheit und Jugend in der Großfamilie. Christine Meyer lebt und arbeitet in Schleswig Holstein, sie ist Grundschullehrerin und engagiert sich für sozial benachteiligte Kinder.

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Das Leben im neuen Haus
Beinahe ehrfürchtig betrachtete ich die von kräftigen aufliegenden, fast schwarzblauen Adern durchzogenen Hände meines Vaters, die gerade noch federleicht in meinen Händen lagen und im nächsten Augenblick schon wieder unruhig in der Luft imaginäre Fliegen fingen, bevor sie kraftlos auf dem zerschlissenen Bettzeug landeten. Angeschlossen an seine durchscheinenden Venen schaukelte im Takt dazu der Tropf mit Morphium in einer trüben Flüssigkeit am silbrig glänzenden Fünferhaken. Schwester Elisabeth, so konnte ich dem Namensschild entnehmen, das schräg angebracht über der Hühnerbrust baumelte, eine frühere Nachbarin aus der Siedlung, immer noch mit abgeknabberten Fingernägeln, schaute regelmäßig nach, ob die Dosierung auch reichte. „Ne Tine“ schüttelte Lissbett eifrig ihren Kopf mit altmodisch dauergewellten Locken, „Schmerzen muss heute keiner mehr haben.“ Peinlich berührt wich sie meinem Blick aus, nachdem ich ihre wieselflinken Finger beobachtete, von deren Fingernägeln in unterschiedlich großen Placken der pinkfarbene Nagellack abblätterte Ihr aufopfernder Eifer entsprang einer großzügigen Spende, die Margarethe ihr in weiser Voraussicht zusteckte, als Papa in das Krankenhaus eingeliefert wurde, in dem unsere Mutter alle sechs jüngsten Geschwister gebar und scheinbar unseren Vater immer wieder zum stolzesten unter den werdenden Vätern machte. Thomas, mein um ein paar Jahre jüngerer Bruder fasste mit seinen schwieligen, von harter Arbeit gezeichneten Händen in Vaters ausgemergeltes Gesicht und versuchte es sachte zu streicheln. „Ja, Vatter, jetz iset soweit – aber ich hab dat Gefühl, datte irgendwatt noch loswerden muss!“ Wenn Thomas von Gefühlen sprach, wurde ich sofort hellhörig, denn ich kannte niemanden, der seine Gefühle so gut verbergen konnte wie er. Unsicher lächelte Thomas mich an, wusste er doch genauso gut wie ich, dass schon einige Jahre vergangen waren, seitdem Vater nicht mehr, oder besser für uns verständlich hatte sprechen können. Seitdem Papa versunken war in seiner eigenen Welt, konnte keines seiner Kinder zu ihm vordringen, nicht einmal Ilona mit ihrer fürsorglichen Art. Und als wollte er das bestätigen, entrang sich Papas Brust ein tiefer, trauriger Seufzer. Schon so oft hatte ich solch abgrundtiefe Seufzer gehört, sie zeigten mir den ganzen Jammer, seitdem Papa im Altenheim lebte. Der Weg über seine Station glich jedes Mal einer Geißelung, wenn die alte Frau Neumann, adrett und hübsch frisiert in aufrechter Haltung in ihrem Rolli auf dem unendlich langen Flur saß und darauf wartete, dass ihre Zimmernachbarn Besuch bekamen. „Nimmse mich mit, nimm mich doch mit! Ich will nach Hause!“ Hastig versuchte ich mich aus ihrer Umklammerung zu lösen. Ihr Blick sagte mehr als tausend Worte. Verschämt sah ich zur Seite, um meine Tränen wegzublinzeln, als ich den vorwurfsvollen Blick von Sabine, Thomas ersten Liebe, ganz zufällig auffing. Wie der Zufall es wollte, waren die beiden sich nach diversen Beziehungen und Ehen wieder begegnet und der alten Verbundenheit wegen oder vielleicht auch weil es sich gerade so anbot, direkt zusammengeblieben. „Da liegt kein Segen drupp“ hätte Tante Irmi sicher gesagt, ja, wenn sie noch leben würde und nicht genau wie alle anderen Brüder Vaters schon lange verstorben wäre. Unser zäher Vater hatte es tatsächlich geschafft, als Letzter der immerhin sechs Geschwister von Bord zu gehen. Plötzlich fror ich im überheizten Krankenzimmer und fragte mich im Stillen, woran es wohl liegen mochte, dass Thomas immer wieder an derartig gefühlskalte Frauen geriet, wo er doch von uns, seinen älteren Schwestern von Anfang an gehätschelt und behütet wurde. „Schlenker mit der Kanne nicht so herum!“ Das scharf artikulierte R meiner Mutter wies sie auch noch nach über zehn Jahren des Lebens im Ruhrgebiet als Zugezogene aus Mecklenburg aus. Wir hatten es tatsächlich geschafft! Der Möbelwagen stand bis in den letzten Winkel gepackt vor unserem leider zu klein gewordenen Reihenhäuschen, unserem muckeligen Zuhause und unser Baby, mein jüngster Bruder Thomas lag im Kinderwagen. Er schlief selig und machte mit seinem Nuckel leise, schmatzende Geräusche, als Mutter mit mir an der einen Hand und dem Kinderwagen an der anderen den endlos langen Fußmarsch zu unserem neuen Haus antrat. Als kleines Stöppcken machte ich mir unentwegt Gedanken darüber, wie es denn wohl werden würde, in diesem leeren, fremden, für meine Begriffe riesengroßen Haus. Wir ließen eine gewachsene, fröhliche Nachbarschaft in Osterfeld zurück, lauter junge Familien mit jeder Menge Kindern, meinen lieb gewonnenen Freunden. Traurig dachte ich an mein erstes wunderschönes Kinderfest in unserer Straße zurück. Als Schornsteinfeger verkleidet, mächtig stolz auf die vom Vater selbst gezimmerte kleine Leiter erlebte ich einen überwältigenden Tag, wo sich wirklich alles um uns Kinder drehte. Ganz versunken in meine schönen Erinnerungen grinste ich über das ganze Gesicht, als mir einfiel, wie ich just bei diesem Fest das erste Mal Verlobung feierte. Sorgsam flochten wir Mädchen aus den Stängeln der Kleeblumen hübsche Ringe, in deren Mitte die Blüte rostrot hervorstach. Tropfen für Tropfen rann Monika lindgrüner Saft bis an die Ellenbogen und tropfte gleichmäßige Pünktchen auf ihren hellen Sommerrock. Schon jetzt konnte ich mir lebhaft Mamas Schimpftiraden vorstellen Mir nichts, dir nichts biss meine Freundin Britta die saftigen Stängel auf ein gleiches Maß, lachte extra laut, um ihre giftgrünen Zähne zu zeigen und konnte sich nicht wieder einkriegen, wenn einer von den Jungs, meistens Ulli ihr den Vogel zeigte. „Du hasse doch nich mehr alle!“ Martin, der hübscheste Junge weit und breit mit auffallend grauen Augen und dicken, kringelig ebenholzschwarzen Locken und was am allerwichtigsten war, schon ein I-Männchen, sollte nun mein Auserwählter sein. Ausschließlich Martin kam überhaupt dafür in Betracht, mein glücklicher Bräutigam zu werden. Allein, genauso schnell wie die Ringe verblühten, galt schon am nächsten Tag das vorschnelle Versprechen nicht mehr. Martin bolzte wieder flott mit den Jungs auf der Wiese und ich saß vergnügt mit den Mädels am Wiesenrand und flocht immer noch emsig, diesmal aber Kränzchen aus Gänseblümchen, die hübsch und leicht zugleich unsere Köpfe sommerlich schmückten. Es war so schön in unserer Straße, dass ich die vertrauten, kleinen Wege jetzt schon vermisste und mich nachdenklich fragte: Wie würde es wohl werden in der Stadt mit dem komischen Namen Bottrop? Meine streichholzdünnen Beine mussten diese Strecke von gut fünf Kilometern durchhalten. Verdammt und zugenäht – wie sollte ich das bloß schaffen? Selbst das Gesicht Mutters glühte in freudiger Erwartung; sie redete ununterbrochen ohne auch nur einmal tief durch zu atmen. Sprachlos sah ich sie an, sie kam mir auf unerklärliche Weise fremd vor. Sonst war es so gar nicht ihre Art, ohne Punkt und Komma auf mich einzureden. „Wenn wir erst endlich zuhause sind, bekommst du für dein tapferes Durchhalten eine Tasse leckeren Kakao!“ Ich sah in entgegengesetzter Richtung zurück, dahin, wo bis jetzt unser Zuhause lag. Aber die Aussicht auf eigens für mich gekochten Kakao, jedenfalls bildete ich mir das einen Moment lang ein, ließ mich automatisch schneller laufen und achtsamer mit der Milchkanne umgehen. Mutter lief im stets gleichen Tempo, verlässlich gleichmäßig, fast wie ein Uhrwerk und pustete ständig eine Locke, die sich immer wieder aus ihrem braun gesprenkelten Haarkamm löste, zurück aus der Stirn. Ein bisschen umständlich, wie ich es ausschließlich von Mutter kannte, zog sie, während sie weiterlief mit einer Hand den kleinen, bernsteinfarbenen Kamm mitsamt dem widerspenstigen, weizenblonden Haar zurück, um ihn dann in entgegen gesetzter Richtung stramm fest zu stecken, was gut und gern fünf Minuten lang hielt. Dann ging das gleiche Spiel von vorn los, aber Mutter bemerkte es vor lauter Aufregung nicht einmal. Allen Unkenrufen zum Trotz zogen wir als erste Familie der gesamten, recht großen Verwandtschaft Vaters in ein eigenes Haus, ausgerechnet unsere Großfamilie, die üblicher Weise so gern von oben herab belächelt wurde. Onkel Wilhelm, mit dessen beißendem Zynismus ich nichts anzufangen wusste, bewohnte zwar am Stadtrand von Düsseldorf ein kleines, ehemaliges Bauernhaus, jedoch wie Vater gern betonte, nur zur Miete. Nichts war schlimmer, als bei Onkel Wilhelm zum Klo zu müssen. Das Plumpsklo lag einige Schritte vom Haus entfernt in einem kleinen, dunklen Verschlag. Meine älteren Geschwister erzählten sich die gruseligsten Geschichten über dieses grässliche, miefende Klo. Peter, unser Großmaul beeindruckte mich am meisten mit der Geschichte über die Rattenplage, die unser nicht zimperlicher Onkel eigenhändig beseitigte. Der...



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