E-Book, Deutsch, 318 Seiten
ISBN: 978-3-7583-3473-3
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Karina Meyer ist ein Pseudonym. Die Autorin lebt zusammen mit Partner und Katze Miss Doublechin in Basel.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Das erste Mal »Haben Sie nicht kalt?« Ich blicke auf. Vor mir steht ein Mann mittleren Alters, dichtem Schnauz und dafür umso weniger Haaren auf dem Kopf. »Danke, geht schon«, murmle ich. »Hören Sie, Sie können doch nicht hier auf der kalten Treppe sitzen.« Er scheint entrüstet, aber auch hilflos, wie er mich so von oben herab anschaut. »Doch, kann ich. Ich sitze auf einer Zeitung.« Der Mann weiss nicht, was er sagen soll, und so füge ich noch hinzu: »Mein Ex-Freund wohnt hier, im dritten Stock.« »Entschuldigen Sie, aber warum sitzen Sie denn hier vor dem Haus und gehen nicht rein?« Ich ziehe meine Pulloverärmel lang, um die Hände zu bedecken, und blicke wortlos zu Boden. Stille. Der Mann druckst herum, ich kann spüren, wie unangenehm ihm die ganze Situation ist. Umständlich nimmt er seinen Schlüsselbund aus der Jackentasche und öffnet seinen Briefkasten. Daraus entnimmt er diverse Broschüren und einige Umschläge, die er sich unter den Arm klemmt. Er steht da und zögert. »Tut mir leid, das geht mich ja nichts an. Aber kommen Sie doch bitte mit rein. Es sind sicher Minusgrade hier draussen. Sie holen sich so eine Blasenentzündung.« Wenn er wüsste, was vorgefallen ist, heute am Heiligen Abend. In ein paar Stunden ist Weihnachten. Das erste Mal schaue ich ihm gerade in seine Augen. In seiner Hand eine Aktentasche. Mephisto-Schuhe, wie sie Polizisten tragen, und eine offiziell wirkende Jacke. Er spürt, dass mein Blick daran hängen bleibt. »Ich bin Tramführer. Endlich Schichtende.« Er lächelt unsicher. Als ich nichts darauf antworte, fährt er fort: »Falls Sie mögen, biete ich Ihnen unverbindlich an, dass Sie sich bei mir aufwärmen können.« Hartnäckiger Typ. Ich brauche kein Mitleid. Es geht mir gut, und zwar so gut wie nie zuvor in meinem Leben. Der Tramführer öffnet die Türe, wartet noch einige Augenblicke. Doch ich bleibe reglos sitzen. Bevor er sie hinter sich ins Schloss fallen lässt, sagt er: »Ich wohne im 4. Läuten Sie, wenn Sie etwas brauchen.« Ich blicke zu ihm hoch und sage: »Danke.« Die Kälte kriecht mir in die Knochen. Aber erstaunt stelle ich fest, dass sie mir dennoch nichts anhaben kann, es friert mich nicht im Geringsten. Eigenartig, dieses neue, unbekannte Gefühl, das sich in den letzten zwei Stunden in mir ausgebreitet hat. Auf dem obersten Absatz der Treppe sitzend lehne ich mich nach vorne und umfasse meine Beine. Mein Ex wohnt nur ein Stockwerk unter diesem Tramführer. Wir haben uns vor Wochen getrennt. Es gibt nichts mehr zu sagen zwischen uns. Und doch sitze ich hier vor seinem Haus, weil ich sonst niemanden kenne, der in der Stadt wohnt. Ich komme vom Land. Am Licht in seinem Wohnzimmerfenster sehe ich, dass er zuhause ist. Kleiner, glitzernder Weihnachtsbaum und die vierte brennende Kerze am Adventskranz. Ich könnte bei ihm läuten, verwerfe den Gedanken jedoch gleich wieder. Dieses faszinierende Körpergefühl, ich möchte es für mich alleine auskosten. Angenehm weich fühlt es sich an. Wie in Watte gewickelt. Mitsamt meiner Seele, ruhig wie eine stille Wasseroberfläche. Meine Atemzüge ziehen sich in die Länge. Ein grossartiges Gefühl der Leichtigkeit, dieses Schweben im Nirgendwo. Ich bin nicht betrunken. Nicht bekifft. Erstaunlich klar meine Gedanken und federleicht. Entjungferte Vene, kommt es mir in den Sinn, und ich muss lächeln. Universalglück in Pulverform. Mit den Fingern befühle ich die Kratzer auf meiner Wange. Das getrocknete Blut ist fast weggerieben. Es sind wie Kratzer einer scharfen Katzenpfote. Eine Katze mit rot lackierten Krallen. Meine Mutter mit ihren perfekt manikürten Nägeln. Kratzspuren in meinem Gesicht – und das an Heiligabend. »Komm endlich runter zu uns! Wir feiern Weihnachten und du sperrst dich wieder in deinem Zimmer ein. Öffne sofort diese verdammte Türe!« Ich hörte das Schnauben meiner Mutter und schwieg. Sekunden später riss sie mit ihrem Übergewicht, ihrer ganzen Wucht, die Zimmertüre aus den Angeln. Die Verzweiflung der letzten Monate stand ihr ins Gesicht geschrieben. Sie stürmte auf mich los und kriegte mein Haar zu fassen. Ein Gerangel auf dem Bett, ich wehrte mich mit Händen und Füssen, die Mutter über mir, dann diese Kratzer, quer über meine rechte Wange und die Lippen. Blutgeschmack im Mund. In mir schrie es nur, zuviel, weg von hier! Nachdem sich die Mutter schnaufend auf die Matratze gesetzt hatte, stand ich auf, packte die Lederjacke und meine Tasche. Dann rannte ich los. Überall leuchtete es an den geschmückten Fenstern. Überall Licht und Wärme und Feiern auf die Ankunft eines Mannes, an den ich nicht mehr glauben konnte. Kein Schnee dieses Jahr. Nur ein Nieselregen, der meine Brille beschlug. Mit eingezogenem Kopf lief ich bis zum Bahnhof und nahm dort den Zug in die Grossstadt. Einige Jugendliche zogen lachend durch die Waggons und an mir vorbei. Sie kamen aus einer anderen Welt. Dieses Mal wurde eine Grenze überschritten. Die Sorgen der Eltern und meine eigene schwere Seele kollidierten wie ein Autocrash. Ich brauchte etwas zum Herunterkommen, und wenn es nur für die nächsten Wochen wäre. Etwas zum Überleben. In mir das Gefühl, als würde ich lautlos in ein langes und endloses Rohr schreien. Es musste ein Ende haben. Zwei Monate zuvor: Mit 19 Jahren habe ich das Gymnasium verlassen. Ich bin schulmüde. Wieso diese Ausbildung weiterführen, wenn ich später sowieso nicht studieren will? Also mache ich ein Praktikum in einem Spital als Pflegehelferin. Ich verrichte die niedrigsten Arbeiten, die auf einer solchen Station nötig sind: Tischchen der Patienten und Blumenvasen putzen, Betten beim Austritt eines Patienten neu beziehen, Wäsche zusammenlegen, Teekannen verteilen. Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich nie auf die Idee gekommen, mich zu einem solchen Praktikum anzumelden. Ich habe mich wieder einmal überschätzt. Langeweile. Die Zeit kriecht dahin, die äussere Leere vermischt sich mit der Leere in mir drinnen. Ich dachte, ich könnte einen Einblick erhaschen in eine neue und interessante Welt. Doch ich muss darum kämpfen, um nur einmal bei einer Arztvisite dabei sein zu dürfen. Die Arbeit ist keine Ablenkung, die Unterforderung verschlimmert meinen Gefühlszustand nur noch mehr. Knapp die Hälfte der Praktikumszeit habe ich nun schon geschafft, darunter aber auffällig viele Absenzen, die sich häufen. Schon einmal wurde ich zur Abteilungschefin kommandiert und gefragt, wieso ich so oft fehle. Starke Menstruationsschmerzen, tiefer Blutdruck mit Schwindel, einfach nur krank, das sind meine Ausreden. Ich weiss, was sie denken. Dieses Mädchen ist instabil, unzuverlässig, unmotiviert. Dabei ist mir selber nicht klar, warum ich mich so fühle. Jeder Tag scheint wie eine Wundertüte zu sein. Ich weiss nie, mit welcher Stimmung ich am Morgen aufwachen werde. Etwa mit 14 Jahren habe ich das erste Mal das Gefühl, dass etwas nicht stimmt in meinem Kopf. Es scheint, als würde mir ein Filter im Gehirn fehlen. Einer, der all das Erdrückende aufhalten kann, sodass es mir nicht mehr nahe geht. Ich bin am Leiden. Alles tut mir leid. Die Kriegsopfer auf diesem Planeten, die Soldaten, die sich gegenseitig töten, ohne dass sich etwa an der Situation ändert. All die unterernährten Kinder in den Drittweltländern. Und auch hier bei uns: Die Menschen in ihrer Einsamkeit, obwohl sie sich unter anderen befinden. Jeder gefangen in seinem Körper. Jeder Tag das gleiche traurige Schauspiel, überall auf dieser Welt. Ich halte es nicht mehr aus, die Nachrichten im Fernseher anzuschauen. Dieses Leid, ich kann und will es nicht mehr mitansehen müssen. Passiv. Ohne eine Hilfe sein zu können. Ich habe das Gefühl, dass ich zu viel sehe. Ich höre zu viel. Rieche und schmecke und denke zu viel. Und jetzt mit knapp 20 Jahren fühle ich mich uralt und müde, niedergedrückt vom Weltenschmerz. Im Spiegel erblicke ich meinen Körper, den ich höchst kritisch betrachte: Zu dünn, kleine und feste Brüste – »Sport-Möpse«, wie ein guter Freund einmal sagte, und einen leicht abstehenden Po. Angefreundet habe ich mich einzig mit meinen langen, fast schwarzen Haaren und den grünen Augen. Auch meine flatterhafte Seele scheint von der Silberschicht hinter Glas reflektiert zu werden. Meine Erwartungen habe ich hoch gesteckt. So hoch, dass sie von Anfang an zum Scheitern verurteilt sind. Doch ich halte daran fest. Sie machen mich unruhig, rastlos. Es ist das Gefühl eines Tigers, der in seinem Käfig hin und her geht. Es gibt Tage, an denen bin ich dermassen aufgedreht, dass ich nicht mehr weiss, wie ich diese immense Energie herauslassen soll. Ich komme mir vor wie ein Hund, die Nase am Boden, nervös einer Spur folgend, die er nicht kennt. Auf der Suche nach etwas, was noch ausserhalb seiner Reichweite liegt. Ein wandelnder Blitzableiter, der andere anstachelt, verrückte Dinge zu unternehmen. In diesen Momenten fühle ich mich als der...