E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Meuser Maschas Geheimnis
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-03848-756-2
Verlag: Fontis
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-03848-756-2
Verlag: Fontis
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die romantische Erzählung um die unmögliche Liebe der Mascha, einer vornehmen jungen Vineterin, weckt das mittelalterliche Vineta wieder auf: die Stadt der Händler und Seefahrer, der Gaukler und Narren, der Astronomen und Geometer, der Machthaber und der Intriganten.
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2. Der Muscheltraum
Von Ramin her leuchteten die letzten Reste niedergebrannter Feuer herüber; die Fischer hatten sie die Nacht über nicht ausgehen lassen. Das Land brach an dieser Stelle schroff zum Meer hin ab und bildete eine Art schützenden Überhang. Mit Hilfe von hölzernem Strandgut richtete sich Mascha an dieser vom Wind abgekehrten, trockenen Stelle einen Platz her, an dem sie sich geborgen fühlte und die aus dem Meer aufsteigende Sonne erwarten konnte. Mascha nahm die Muschel in beide Hände und hielt sie an ihr rechtes Ohr. Es ist nicht sicher, ob sie hören wollte – gewiss wollte sie hören – oder ob das Gehörte sie einfach überfiel. Warum nimmt man eine Muschel und hält sie ans Ohr? Weil es die Alten sagen und sie es wiederum von den Alten haben, dass man aus den Windungen einer Muschel das Schicksal heraushören könne, wenn es nur der richtige Ort und die richtige Stunde ist? Man hält sie an das Ohr, weil man wissen will und etwas glauben möchte in der Nacht des Menschen, in der Nacht seiner endlosen Ungewissheiten. Man hört und spannt die Sinne an, spannt sie über den Horizont und die Begreiflichkeit hinweg, horcht in die Ewigkeit hinaus. Das Sehen stößt ja dumpf an die Dinge und Geschehnisse. Könnte nicht das Hören ihr Geheimnis verraten? Die Sehnsucht führte die Muschel an Maschas Ohr. Denn sicher ist, dass man sich keinen sehnsüchtigeren Menschen vorstellen kann, als es Mascha an diesem Morgen war, am einsamen Ort, vor dem weiten Meer. Und Mascha hörte: einen feinen Hauch zunächst, unter den sich von außen her das Geräusch der heranrollenden Wogen mischte; dann ein Rauschen, von dem nicht zu sagen war, ob es aus den Tiefen des Meeres oder aus dem Inneren der Muschel kam; dann (als sie mit feinerem Ohr in das Rauschen hineinhörte) war ihr, als wohne in seinem Inneren ein ozeanisch tiefes Murmeln. Ein Summen vielleicht, kaum hörbar, so fern, dann anwachsend im Bauch der Erde und immer stärker werdend, ein urhaftes Dröhnen auf einem einzigen, nach unten offenen, klaftertief ins Dunkel der Fluten sich verlierenden Ton. Und wie der Ton sich in den gewaltigen Wassern wölbte und nicht aufhörte zu sein, da war es Mascha, als sei in dem einen Urton eine Entfaltung in die Breite zu vernehmen. Ihr war, als erhöben sich in unergründlichen Tiefen verankerte Säulen, deren unsichtbar aus dem Schweigen herauftönende Schemen sich, aus der Unendlichkeit auftauchend, fortwölbten und Meere und Kontinente zusammenhielten. Mascha hörte sich immer tiefer hinein in die Abgründe, in ein Jenseits aller Untiefen, hörte das dumpfe Grollen unterirdischer Feuer, hörte sie wie verhangen und gedämpft durch einen Mantel aus zäher Kälte, hörte dies alles, bedeckt durch das fortwährende Gurgeln und Schmatzen gärenden Schlammes, hörte schaudernd sein gebärendes, verzehrendes Glucksen und Schlürfen, als dürfe man nicht versinken in das, woher man kommt. Mascha erschrak und wandte ihr Ohr von den Gründen ab, hin zu den oberen Welten, wo sie ins Blaue sich lichtende Wasser zu vernehmen meinte. Und Mascha sah zwischen den Säulen der Erde Fische schwimmen, hörte das Flittern leichter Schwärme und ihr silbriges Glänzen, hörte, wie sie schwammen über versunkene Gärten, Gärten aus Musik, die da aus Tinte und Aquamarin auftauchten und auf zum Licht strebten. Glockenklang platzender Knospen erfüllte sie und ein Harfenduft aus lauter Rosen, kunstvolle Figuren tanzender Gräser, Triller aus Akelei und Rittersporn. Durch Bäume fiel das Smaragd hingetupfter Lichter. Schatten tönten warm wie dunkler Samt alter Gamben. Quellen flüsterten ihren Silberklang und mischten sich mit dem Pizzikato von Tautropfen, die das Moos benetzten. Mascha verwob ihr Gehör in das goldtiefe Grün fortschwärmender Fische, ließ sich einspinnen und mitziehen, folgte ihnen in atemloser Spannung über verzauberte Auen hinweg, über Teppiche aus reinem Klang, durch schattige Wälder und klaffende Grüfte. Weiter, immer weiter! Wie erschrak sie aber, als sich plötzlich im Gewabere lichtenden Dunstes ein finsteres Massiv erhob, eine Felsenwand – nein, etwas von Menschenhand Gemauertes, aus groben Quadern titanisch Aufgetürmtes, ein menschlichen Hirnen entsprungenes Gebilde. Näher und näher kam das trutzige Monument, zeigte Ecken und Kanten, Erker und Vorsprünge, Tore, Türme, Zinnen und Giebel. Eine hoch gebaute, herrliche Stadt ragte vor ihren Augen auf. Die Stadt ruhte tot, schön und ungeheuerlich im Meer. Wehende Algen hatten sich an die Mauern geheftet. Märkte und Straßen zitterten in gläserner Stille. An Häuserwänden robbten Krebse. Aale zuckten durch dämmrige Nischen. In den nassen Himmel stießen sinnlose Finger, Türme, die erstorbene Glocken bargen. Fische schwammen durch die toten Augen der Fenster und über bemooste Pflasterwege hinweg. Die Tür zu Godins Haus, die Mascha vor Stunden hinter sich geschlossen hatte, hing in den Angeln und bewegte sich leicht im strömenden Zug der Wasser. Mascha erstarrte. Sie schaute Vineta, das untergegangene Vineta. Knochig hallte es aus der toten Stadt zu ihr herüber. In den überwölbten Straßen und hohlen Räumen kam ein Trappeln auf, verstärkte sich zu markigen Schritten einer Menge, die einem bestimmten Gesetz zu folgen schien. Vom Burgberg herunter wallte es, als käme da gleich eine finstere Prozession, gar ein Pestzug um die Ecke. Und wirklich zeigten sich bald verschwommene düstere Wesen, schemenhafte Gestalten, Tänzer in finsterer Munterkeit, skeletthafte, spitzhütige Springteufel, die sich ekstatischen Gebärden hingaben. Sie mehrten sich, kamen näher und mischten sich mit dem, was in der Luft lag: Gemecker, Lachen, gekrähte Jubelrufe, fahle Hochgesänge. Und waren es nicht Pferde, Schimmel, die da tänzelnd aus dem Dunst auftauchten und einen mächtigen Wagen hinter sich herzogen? Eine über und über mit fahlen Rosen geschmückte Hochzeitskutsche tauchte auf; ein gespenstischer Spitzhut auf dem Bock lenkte sie. Das Gefährt näherte sich in großer Geschwindigkeit, fuhr direkt auf Mascha zu. Mascha schrie auf vor Angst – Angst, überfahren oder gepackt zu werden von den wilden Schemen. Doch schon war der Spuk vorüber, und Mascha blieb zurück mit dem, was sie gesehen hatte. Aus dem Fenster der Kutsche grinste die Braut, grinste Petrona, ihre Schwester. Mascha fröstelte. Ihre Hände schlossen sich fester um die Muschel und ihr betäubendes Rauschen. Obwohl ihr wilde Schmerzen durch das Ohr schossen, war sie unfähig, die Muschel abzusetzen. Sie musste sich tiefer in das Geschaute einhören. Da waren sie wieder: die Stimmen. Die Stimmen, die sie bedrängt und an den Rand des Wahns getrieben hatten, damals, als ihr die Mutter weggerissen wurde, als der warme Klang ihrer Stimme für immer verstummte und die Geborgenheit der frühen Jahre in nichts zerfiel. Da waren sie wieder: die fortgewünschten, übertäubten, weggelegten Stimmen. «Mascha, Mascha», rief es. «Ja, ich bin es, ich bin hier», flüsterte Mascha, indem sie die Muschel an den Mund hielt, um in die Unendlichkeit hineinzurufen. «Hier, hier …» Aber nichts antwortete. Es wurden nur immer mehr Stimmen rund um die versunkene Stadt. Sie riefen andere Namen, riefen durcheinander, schwollen an zu einem verzweifelten Chor. Sterbestimmen, Totenstimmen, Stimmen der klagend Zurückgebliebenen. Es war, als versammelten sich draußen vor den Toren der Stadt die Stimmen aller vom Tod Ergriffenen und in Bann Geschlagenen. Im Schoß der Fluten vereinigten sich die Stimmen ertrinkender Seeleute und die Stimmen ihrer Frauen und Kinder zu einem einzigen stummen Schrei, der sank und sank und sank, während von oben sich immer neue Schreie dazugesellten – sich dazugesellten und immerfort geschluckt wurden vom Hungerschlund der Tiefe. Und das Schöne sank mit. Die Blumen sanken mit geneigten Köpfen. Die Vögel sanken mit zerfetzten Flügeln. Die Glocken schmolzen und sanken. Die Geigen sprangen und sanken. Mascha fühlte sich mit unwiderstehlicher Gewalt in die Tiefe gelockt, konnte sich dem Sog nach unten nicht entziehen, schwamm mit, sank mit, sang mit, im heißen Schwarm der Schreie, die in die Kälte, die ins Feuer sanken. Denn in der Tiefe war Feuer, ein vulkanisch brennendes Rasen, eine alles zermalmende Glutwoge, ein Inferno, das Menschen und Dinge erfasste und zerbrach. Unten, am Boden, brüllte der Scheiterhaufen zertretener Geigen. Die Geigen brannten, aber sie verbrannten nicht. Es war, als ließe sich die Seele der Instrumente nicht hinraffen von der Sturmwut der Zerstörung. Es war, als könnte ein Hauch von a gegen die Feuerwand ansingen, als würde sich im Kern der Vernichtung ein Funke von e dazugetrauen, als würden a und e eine zarte Glaskugel bilden, in die sich ein zitterndes cis flüchten konnte. Es war, als stünden diese drei in großer Ruhe mitten im Nichts. Und wie sich Mascha ebenfalls in den gläsernen Raum begab, da zerbrach ihr heiserer Schrei und verwandelte sich in etwas Neues. Ihre Stimme schmiegte sich an die zerbrechlichen Wände von a und e und cis, ließ sich nieder auf dem Grund unzerstörbarer Blumenblätter, rührte an verwegene Vogelstimmen und erstarkte am unverhofften Ton einer einsamen Glocke. Die Stimmen von Menschen gesellten sich dazu, Stimmen, die Namen riefen, doch ohne Schrecken und Angst, als sei ihnen die Nähe der im Tod Entrissenen gewiss. «Mutter, Mutter», rief Mascha. Die Mutter antwortete nicht. Aber ein Kinderlied antwortete ihr, fünf Töne nur, ein längst vergessenes, seltsam vertrautes Kinderlied. Ein Kinderlied, vielleicht am Bett gesungen oder...