Messner Das lange Echo
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-903005-60-0
Verlag: Edition Atelier
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 184 Seiten
ISBN: 978-3-903005-60-0
Verlag: Edition Atelier
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein österreichisch-ungarischer Offizier im Ersten Weltkrieg, seit 1916 im besetzten Belgrad stationiert, erlebt in bitterer Verzweiflung den Zusammenbruch seines Reiches. Hundert Jahre später sitzen die Direktorin des Wiener Heeresgeschichtlichen Museums und ihre Assistentin einander im Streitgespräch über Moral und Mitleid, Verbrechen und Verantwortung gegenüber.
1983 in Klagenfurt geboren, aufgewachsen in Ljubljana und Salzburg, Studium der Komparatistik und Kulturwissenschaften in Wien und Aix-en-Provence. Abgeschlossene Dissertation zu südslawischer Literatur, Literatursoziologie und interkulturellem literarischen Transfer. Mitarbeit beim wissenschaftlichen Internetprojekt Kakanien Revisited (www.kakanien.ac.at). Mitbegründerin der Kulturplattform www.textfeldsuedost.com, übersetzt aus dem Slowenischen und dem Kroatischen/Serbischen. Lehrtätigkeit an Universitäten in Wien, Berlin, Klagenfurt und Innsbruck. Lebt derzeit in Marseille und unterrichtet am Institut für Germanistik an der Universität Aix/Marseille.
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Ein österreichisch-ungarischer Offizier im Ersten Weltkrieg, seit 1916 im besetzten Belgrad stationiert, erlebt in bitterer Verzweiflung den Zusammenbruch seines Reiches. Hundert Jahre später sitzen die Direktorin des Wiener Heeresgeschichtlichen Museums und ihre Assistentin einander im Streitgespräch über Moral und Mitleid, Verbrechen und Verantwortung gegenüber.
Ein Roman über sinn- und schamlos vergeudetes und zerstörtes Leben, über ein finsteres Kapitel der österreichischen Geschichte und über die Sehnsucht nach Aussöhnung.
wir
Der Offizier Milan Nemec war in der Stadt, um im Rücken der Front für Ruhe und Ordnung zu sorgen, um zu helfen, die Landesressourcen bestmöglich auszunutzen und um die Kommunikationslinien, die immer unüberschaubarer wurden, am Laufen, sei es auch am Irrlaufen, zu halten. Glücklich machte das einen Mann nicht. Seit Kinos und Schwimmbäder extra für Offiziere eingerichtet worden waren, war alles etwas leichter auszuhalten. Aber nein, glücklich, das konnte man nicht behaupten, dass er das war, der Nemec. Warum er jedoch in diesem Ausmaß überreagierte an jenem Herbsttag, bleibt bis heute zu einem gewissen Grad unerklärlich. Es scheint sehr wahrscheinlich, dass es der trommelnde Einsatz des Wortes Wir gewesen war, der ihn irritiert hatte, oder, noch wahrscheinlicher, das ebenso schlagende Wort Palatschinken, weil ihm sofort der Geruch von verbranntem Fett in die Nase stieg, wenn er dieses Schreckenswort hörte. Wir, meinte dieser Besuch etwa, wir haben unsre militärische Niederlage ja bloß eing’steckt, weil wir den Frieden geprobt haben, in den letzten Jahrzehnten. Unsre Armee: ein depperter Lipizzaner, der nur für Paraden taugt, unsere Truppen, die man erst niederpeitschen muss, damit sie lernen, was Galopp ist. Das konnte ja wohl kein Erfolg werden, nicht wahr, wenn wir die Herrn Soldaten schlafend an die Front transportieren müssen, anstatt dass sie selbst dahinfinden, auf ihren zwei Beinen. Diese Soldaten, die wir erst von ihrem weißen Kaffee und ihrem Guglhupf entwöhnen mussten, bis sie kapiert haben, was das heißt, Krieg. Und als wir sie aus allen Teilen unseres Reiches zusammenmobilisieren mussten, von ihren Feldern holen, mitten aus der Ernte: Was wir ihnen da nicht alles mitgegeben haben auf die schöne Reise: neues Schuhwerk und sauberes G’wand, Brotsäcke, Tornister, Taschenlampen und Kompasse. Wie für eine Abenteuerexpedition, eine kleine Entdeckungsreise ausgerüstet haben wir sie, samt ihren Backhenderln und dem Paprikasch und den Palatschinken, lauter Herren, die vor dem Krieg nichts waren und nichts gehabt haben, und dann auf einmal, im Krieg, haben sie Zahnbürsterl im Sackerl. Wer weiß, ob die überhaupt schon jemals ein Zahnbürsterl in der Hand gehabt haben vor dem Krieg. Na, da haben sie sich dann ang’schaut, die Herren Soldaten, wie’s aus war mit den Henderln und den Palatschinken und dem Tabak und den Zahnbürsterln. Da war die Moral am Anfang noch hoch, bei der Truppe, aber die Moral, die ist gleich mit bergab, mit der Verpflegung. Weil als sie im Dreck gelandet sind und die Decke feucht und plötzlich, Überraschung, die Sackerln alle leer war’n im Krieg – aus mit den Palatschinken, mitten im Schlamm und im Graben –, da sind sie aufg’wacht, die Herrschaften. Natürlich hat er sie überrascht, der Krieg, der sie ihr Leben hat kosten können, der schon ihre Kameraden das Leben gekostet hat. Und dann, als sie das verstanden haben, unsere Soldaten, die vor dem Krieg nichts waren und nichts gehabt haben, und erst recht, nachdem sie zurückgejagt wurden vom Feind, nur zum Teil zurückgejagt, der andere Teil war im Graben geblieben, da war die Überraschung groß. [Hüsteln] Ja, zugegeben, auch unsre Überraschung war recht groß, so haben wir den nicht vorberechnet, den Feldzug. [Abermaliges Hüsteln] Aber dafür war dann die Vorbereitung für den zweiten Feldzug umso besser, und da war’s dann vorbei mit sauberen Sackerln voll mit Zahnbürsteln, darum geht’s. Ein Krieg ist keine Hochzeit, zu der man mit sauberen Zähnen hingeht. Dann aber haben wir den Feldzug, den zweiten, gewonnen, von dem wir nicht gedacht hätten, dass er nötig sein würde, bei diesem blöden Feind. Bloß, das kommt eben davon, wenn wir die Soldaten mit Würschteln und Palatschinken in so einen Feldzug schicken. Aber! Beim zweiten Ins-Feld-Ziehen, da war klar: Nichts ist’s mehr mit Palatschinken an der Front. [Schlag auf den Tisch, zufriedenes Zurücklehnen] So haben wir endlich unsre und die Ehre unsres Kaisers wiederhergestellt, und nur darauf kommt’s an, ob man das kann. Der Milan Nemec war in seinen nicht sehr begeisterten Gedanken gefangen. Er murmelte unvorsichtigerweise vor sich hin, anstatt zu schweigen, wie er immer geschwiegen hatte, wenn es sein musste. Sein Murmeln blieb jedoch unverständlich für sein Gegenüber. Es waren ganz unwirkliche Gedanken, die ihn gefangen hielten, in etwa solche: Ja, aber. Das ist ja ein seltsames Gesicht. Was schaut mich dieses nach Seife riechende Gesicht so an und schaut dabei so blöd aus? War das Gesicht da denn überhaupt an der Front? Hat es denn auch den Dreck nicht mehr aus den Stiefeln gekriegt? Welche Ehre? Ja, welche Ehre denn bitte wiederhergestellt? Gesiegt! hätten wir doch niemals! Ohne die Preußen und diese seltsamen Balkanpreußen dazu. Das kommt jetzt davon, diese Balkanpreußen teilen sich das ohnehin zu kleine Gebiet mit uns, das ganze östliche Land und das mazedonische daneben mussten wir abtreten an sie. Schaut denn so überhaupt ein echtes Gesicht aus oder ist es nur eine eingecremte, ölig glänzende Maske, die mich da so blöd anschaut? Ob der wohl glaubt, dass diese ganze Einseiferei und Eincremerei ihm einen himmlischen Wohlgeruch verpasst, der ihm dann, sollte er doch mal krepieren, was im Krieg ja schneller passieren kann, als man glaubt, die Unverweslichkeit garantiert? Deshalb das ganze verfluchte Fett und Öl in seinem Gesicht, während er von unseren großen Eroberungen spricht? Wo uns doch nur Belgrad bleibt, dieses Loch, das nur dazu da ist, den lausigen Rest der westlichen und südlichen Landesteile zu verwalten und Etappenaufgaben zu erledigen, die eine Demütigung sind für unsere Offiziere und Soldaten. Ja, welche Ehre denn bitte, bei so einem ganzen und großen Schlamassel? Du dummes Gesicht; da möchte ich bloß wegschauen, mich bloß wegdrehen von dir, bei so viel Seife und Creme und öligem Grinsen. Hinter diesem unhörbaren Murmeln war ein noch ungehörigeres Denken zu erahnen, eines, das den Milan Nemec seit einigen Tagen nicht mehr verlassen wollte. Ein zweifelndes, verzweifeltes Denken, das mit dem Galgen zu tun hatte, an dem er vor wenigen Tagen vorbeispaziert war. Dabei war er schon an vielen Gehängten vorbeispaziert, nicht nur in Belgrad, auch in den nördlichen und nordwestlichen Sümpfen dieses Landes. Keine dieser Gestalten hatte einen Platz in seinen Erinnerungen beansprucht, keiner dieser Toten wollte ihm im Gedächtnis hängen bleiben. Das blieben nur kleine schwarze Fragezeichen, ganz unauffällige, die sich in den scheinbar endlosen Weideflächen wie überflüssige Vogelscheuchen ausmachten. In seinen seichten Erinnerungen an die Maisfelder und kleinen Dörfer, durch die er mit den Truppen gezogen war, waren diese Vogelscheuchen untergegangen, ganz wie die kleinen Dörfer selbst, die sich so tief in diese Maisfelder hineinduckten, als wollten sie sich vor den herannahenden Truppen verstecken. Da war wohl nach ihrem Abzug das eine oder andere struppige Dorf inmitten der wüsten, weiten Landschaft gewesen, im Dorf ein paar verkohlte Scheunen und Hütten, davor ein paar Bäume mit Gehängten, manchmal noch ein Feuer, ein Rauch, der aufstieg, durch die Baumkrone, und dann übers Land zog. Ein Land, das eine Zeit lang ganz bissig und verkohlt wirkte, bis sich all das legte, bis sie endlich vorbeigezogen waren und alles Gesehene in beißendem Nebel verschwand, wie nie da gewesen. Dinge, vor denen ihm grauste, als er sie sah und hörte, die er aber in nicht deutbare Traumbilder hatte zerrinnen lassen. Was sie niederbrannten, konnte wieder aufgebaut werden. Als es später um die Landesressourcen ging, die sie ausnutzen mussten, sah alles ganz anders aus, da trauerten sie um jedes tote Feld, das ihre Truppen hinterlassen hatten, das schon. Die Galgen und das Hängen in den Bäumen jedoch … nur kleine schwarze Fragezeichen in einer fremden Gegend, einer unfreundlichen. Nichts, woran tagsüber zu denken Zeit blieb, wenn man, wie der Milan Nemec, mit Verwaltungsaufgaben beschäftigt war, nichts, woran in hundert Jahren zu denken Zeit bliebe. Genauso undeutlich waren ihm die späteren Belgrader Galgen in Erinnerung, die so häufig seinen Weg versperrt hatten. Sehr verschwommen war zum Beispiel – in Grauschattierungen wie eine alte Fotografie – eine kleine Darstellung in seinem Kopf haften geblieben: ein Mann in der Mitte, an einem Strick, Schaulustige drumherum positioniert, ein Offizier verliest das Urteil, ein zweiter hält mehrere Schlingen in der Hand, daneben der Priester wie eine lustige Erscheinung in einer Komödie, hinter ihm der Henker, rechts zwei neugierige Sanitäter, schau, wie lustig, alle starren sie dich an, starren aber eigentlich den Fotografierenden an, der sich ihnen gegenüber aufgestellt hat und hinter dem du stehst, sodass alle scheinbar dich anvisieren, während sie für die Kamera posieren. Der da am Strick hängt, das merkst du beim Vorbeigehen, wird nicht wirklich hingerichtet, hier wird geprobt. Du verstehst: Diese Szene bietet sich dir nur dar, weil dringend neue Henker ausgebildet werden müssen. Man kam zu diesem Zeitpunkt, in dieser Anfangszeit der Besatzung, mit der großen Anzahl an Todesurteilen schon nicht mehr hinterher, und da musste die Militärverwaltung...