E-Book, Deutsch, 181 Seiten
Messina Eine Blume ohne Blüte
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-7518-8029-9
Verlag: Friedenauer Presse
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 181 Seiten
ISBN: 978-3-7518-8029-9
Verlag: Friedenauer Presse
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Franca wächst nach dem Tod ihrer Mutter bei einer Tante nahe Florenz auf. Der Vater, ein Beamter, sorgt großzügig für ihr Auskommen, die Ausübung eines Berufs verbietet er ihr. Franca und ihre Freundinnen versuchen, ihr Recht auf Glück durchzusetzen, suchen mondäne Ablenkung, flirten, tanzen, spielen Tennis und entwerfen einen eigenen Verhaltenskodex - immer über die Männer lachen, vor allem über ihre Liebeserklärungen. Es sind erste Emanzipationsversuche, eingekleidet in die modischen Attribute der Zeit. Dann aber verliebt sich Franca in den jungen Sizilianer Stefano, und aus spielerischer Revolte wird Ernst. Als ihr Vater ein Jahr später auf die Insel versetzt wird, folgt sie ihm, ohne zu zögern. Dort aber muss sie erkennen, dass auch Stefanos Denken und Fühlen von überkommenen Vorstellungen geprägt ist. Enttäuscht kehrt Franca zu ihrer Tante in die Toskana zurück, wo ihr so turbulent begonnenes Leben in Bewegungslosigkeit endet. Maria Messina, eine der wichtigsten weiblichen Stimmen der italienischen Literatur, schildert mit subtilem psychologischen Einfühlungsvermögen das Zusammentreffen von Archaik und Moderne im Italien der Zwanzigerjahre und schafft damit ein frühes literarisches Zeugnis des Feminismus: »Franca«, so beschreibt Messina ihre Protagonistin, »ist die Schwester im Geiste aller jungen Frauen von heute.«
Maria Messina, 1887 in Palermo geboren, schrieb zahlreiche Romane und Erzählungen. Das sizilianische Leben, zumeist eingetaucht in die Melancholie einer öden Provinz, bleibt lebenslang der Hintergrund ihres Schreibens, auch wenn sie Sizilien bereits 1911 verließ und nie wieder zurückkehrte. Sie starb 1944 in Pestoia. Ihr Werk wurde zu ihren Lebzeiten hochgeschätzt, u. a. von Giovanni Verga, und in den Achtzigerjahren von Leonardo Sciascia wiederentdeckt.
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I
STEFANO reichte es. Nach seiner Ankunft am Samstagabend hatte er im Internat erfahren müssen, dass man ihn aufgrund neu festgesetzter Besuchszeiten erst am Donnerstag vorlassen würde. Vier zum Fenster hinausgeworfene Tage, und das, wo zu Hause hundert Angelegenheiten dringend nach ihm verlangten. Da waren zuallererst die alten Lobarbas, die – wegen des Unglücks mit ihren beiden Kindern, die bei einem Erdrutsch unter Steinen begraben worden waren – unbedingt pro Monat eine bescheidene Summe erhalten mussten, eine Art Leibrente, damit sie am Ende nicht doch noch vor Gericht gingen. Bestimmt kommen sie am Freitag, dachte er bei sich. Dann aber ist nur Papà da, um sie zu empfangen, und er ahnt ja nicht einmal, wie sehr sich die Zeiten geändert haben. Außerdem waren da die gestohlenen Rinder, die Mandarinen, die verfrachtet werden mussten, die Reise nach Palermo Ende des Monats … »Die Zeit reicht eben nie«, entfuhr es ihm ungehalten. Sicher, es gibt noch Antonio …, dachte er weiter. Ein Schatten der Eifersucht wanderte über seine Stirn, aber im Nu heiterte sich seine Miene wieder auf, und er strahlte beinahe vor Stolz. Niemand schloss einen Vertrag ab, ohne zuvor Stefanos Meinung einzuholen, hatte dieser doch nicht nur ein Studium der Rechtswissenschaft absolviert, sondern – und dies fiel ungleich stärker ins Gewicht – handelte auch stets im Sinne seines Vaters. Nun allerdings trottete er mit dem Kopf voran, als trüge er seine Gedanken huckepack. Als er beim Überqueren von Straßenbahnschienen stolperte und Gefahr lief, zerquetscht zu werden, gefangen zwischen einer Schwelle und einem Auto, da schickte er einige wenig freundliche Ausdrücke an die Adresse seiner Tante Fifì, verwünschte er ihre Laune, Ninetta ausgerechnet in Florenz ins Internat gesteckt zu haben – als gäbe es auf Sizilien nicht auch welche. In einem November hatte Tante Fifì ihre einzige Tochter dorthin gebracht und sich dann, wieder zu Hause, an ihn gewandt. »Tu mir die Liebe, mein Herz«, wiederholte sie ein ums andere Mal unter Tränenströmen. »Ich verlange nur einen einzigen Besuch. Wenn mein seliger Mann noch unter uns weilte, würde ich dich bestimmt nicht behelligen. Doch wenn du mir die Bitte abschlägst, wer wird dann bei meinem Kind einmal nach dem Rechten sehen, Stefanuccio? Es ziemt sich schließlich nicht, wenn da oben ständig nur eine arme Frau auftaucht. Ein Mann flößt ja ganz anderen Respekt ein. Wahrlich, bitter ist es, schwach und allein dazustehen.« Donna Lucia wiederum passte es ganz und gar nicht, dass ihr Sohn sich aufs Festland begab, schließlich war er ein ernster Junge, seiner Giovannina treu, als wäre er bereits ihr Ehemann. Das eine und einzige Abenteuer in Palermo hatte auf ihn die gleiche Wirkung gehabt wie ein Wasserbad auf funkelnagelneuen Wollstoff: Danach war die überschüssige Farbe ein für alle Mal ausgewaschen. Allerdings konnte er auf dem Festland an jeder Ecke in einen Hinterhalt geraten … Da es sich nun aber um ihre Schwester handelte, eine betuchte und großzügige Frau, beschwor auch sie ihn. »Es ist doch keine große Sache, mein Junge«, hielt sie ihm immer wieder vor. »Deine Tante ist eine gute Frau, die wir nicht mit einem Nein abspeisen können.« Und so trat Stefano die Reise an, sobald er meinte, man könne ihn auf dem Lande vorübergehend entbehren. Er suchte auf der Karte jene Einrichtung, in der Ninetta in heiterer Gefangenschaft lebte, fand sich im Besucherraum ein, beschloss, sich von seiner freundlichen Seite zu zeigen und geduldig eine lange Liste mannigfaltiger Besorgungen sowie vertraulicher Mitteilungen aufzunehmen, die der jungen Internatsschülerin einfielen und die sie in einem Atemzug abspulte. Drei Besuche in zwei Jahren. Stets traf er am Samstagabend ein, um gleich am Dienstag wieder aufzubrechen und somit bloss keine Zeit zu vergeuden. Seine gedankenlose Cousine hätte ihn wissen lassen müssen, dass neue Besuchszeiten galten! Was sollte er jetzt mit diesem Sonntagabend anfangen, der sich noch länger hinziehen, der ihm noch bitterer aufstoßen würde als die bisherigen? Er starrte hinüber zu den Tischen eines Cafés, an dem man so gedrängt saß, dass nirgends ein freies Plätzchen für ihn blieb. Daraufhin verlangsamte er seinen Schritt, beäugte die Plakate eines Lichtspieltheaters, welche Die Perle der Wüste anpriesen, ein spannendes Drama voller Leidenschaft. Angewidert hastete er davon. Eine rote Straßenbahn brauste an ihm vorbei, und auch sie zierte eine Werbung für ein Fest unter freiem Himmel – ein Fest, das ihn nicht reizte, an einem Ort, den er nicht kannte. Seine Gedanken wanderten zu einem Sessel im Theater. Ohne die Lippen zu bewegen, stimmte er eine Melodie an, die seine schlechte Laune ein wenig linderte. Eine ganze Kette von Gedanken rief ihm schließlich die Musiklehrerin aus Ninettas Internat in Erinnerung. Eine hochgewachsene, hagere Frau mit intelligentem Gesicht und weißem Haar. »Besuchen Sie mich«, hatte sie ihn voller Nachdruck aufgefordert, »wenn Sie das nächste Mal in Florenz sind!« Eine gewisse Derrò … oder Darrò … Akkurat und vorausschauend wie er war, hatte er die Adresse doch gewiss ins Notizbuch eingetragen, und von diesem trennte er sich nie. In der Tat, da war sie. Und Signora Delroi empfing ihn mit offenen Armen. »Was für eine Überraschung! Was für eine wirklich außerordentliche Überraschung!«, brachte sie immer wieder hervor, während sie den dampfenden Tee in die Tassen eingoss. Stefano bereute es bereits, in dieses Haus gekommen zu sein, in dem er nie zuvor gewesen war, und fragte sich unablässig, warum sich die Delroi derart beglückt zeigte, einen Mann willkommen zu heißen, der weder ein Freund noch ein Verwandter war. Er ließ den Blick schweifen und nahm leicht angewidert die hellen, viel zu zarten Möbel zur Kenntnis, die zahllosen Kissen, die Unmengen an Nippes und die winzigen Spitzentüchlein. Selbst Maria Luisa fand seit einiger Zeit Gefallen daran, diese kleinen Tüchlein in runder, länglicher oder dreieckiger Form anzufertigen, die keinem Zweck dienten und vermutlich niemals irgendeine Anwendung finden würden. »Ich habe schon geglaubt, Sie hätten mich vergessen!«, fuhr Signora Delroi fort. »Sie sind gestern Abend eingetroffen? Mit Sicherheit bleiben Sie nun doch ein paar Wochen bei uns. Nicht? Sie wollen auf der Stelle wieder Reißaus nehmen? Das kann Ihr Ernst nicht sein! Ich vergöttere alle Sizilianer, aber Sie sind mir ein wahrer Brummbär! O ja, ein Brummbär! Aber halt … Hätten Sie gern etwas Milch? Nicht? Dann vielleicht einen Rum? Ein Schlückchen nur. Bestens. Und zwei Törtchen. Was für ein Glück, dass Sie mich nicht vergessen haben! Ich habe schon gedacht: Wenn Signor Mentesana erst einmal wieder unter den Seinen ist, wird er seine überalterte Freundin bestimmt vergessen. Oder wollen Sie behaupten, ich sei gar nicht alt?« Stefano hob den Kopf und taxierte sie mit der unverblümten, schamlosen Neugier eines kleinen Jungen: Dichtes, weißes Haar, das eine Perücke zu sein schien, ein langer, runzliger Hals von der gleichen Farbe wie der haselnussbraune Seidenkragen, dazu knotige Hände – alles an der Delroi gab Antwort auf die überraschende Frage. Er suchte nach einem Kompliment, das nicht allzu abgeschmackt klang. Doch seine Gastgeberin erwartete von ihm gar keine Erwiderung. »Eine Zigarette?«, fragte sie nun. »Ah! Die müssen Sie probieren! Ich rolle sie selbst, dafür verwende ich einen außergewöhnlichen, besonders aromatischem Tabak, den mir mein Bruder von seinen Reisen mitbringt. Er, also mein Bruder, ist Admiral. Eine blendende Laufbahn! Sie glauben vermutlich, meine Freunde würden mich um meinethalben besuchen? Weit gefehlt! Sie alle wollen bloß meine Zigaretten rauchen, denn die sind exquisit.« Sie klemmte sich eine Zigarette zwischen die leicht bräunlichen Finger, führte diese an die Lippen und bat um Feuer. »Sie sind also nicht das erste Mal in Florenz? Und trotzdem wollen Sie gleich wieder Reißaus nehmen? Was ist das, Sie verschmähen meine Zigaretten? Rauchen Sie denn nicht gern? O doch, das tun Sie! Aber gewiss geben Sie der Pfeife den Vorzug.« Alles in allem fiel ihm die Delroi mit ihrem Wust von Fragen, die keinerlei Antwort verlangten, aber wenig auf die Nerven – und mit Sicherheit weit weniger als Tante Fifì, die darauf bestanden hatte, ihre Tochter aufs Festland zu schicken. »Na, Sie sind mir einer! Offenbar haben Sie Ihren Kopf wer weiß wo abgegeben. Sie hören nichts, Sie sehen nichts … Ach, die jungen Herren von heute! Ob sie wollen oder nicht, sie haben keine Manieren. Ich habe Sie nach Santo Spirito gefragt, und von Ihnen kein Wort.« Doch statt sich zu entschuldigen, genoss Stefano die Entrüstung...