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E-Book, Deutsch, 144 Seiten

Messer Mensch bleiben

Wahre Geschichten aus der Altenhilfe
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8426-8498-0
Verlag: Schlütersche
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Wahre Geschichten aus der Altenhilfe

E-Book, Deutsch, 144 Seiten

ISBN: 978-3-8426-8498-0
Verlag: Schlütersche
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Mitarbeiter in der Altenpflege nehmen vom ersten Tag an am Leben anderer Menschen teil. Sie arbeiten nicht nur für alte Menschen, sie leben auch mit ihnen – und ihren ganz eigenen Geschichten. Das Miteinander von Pflegekraft und altem Menschen birgt Überraschungen: heitere Situationen, berührende Erlebnisse, sensible Erfahrungen.

Dieses Buch bietet ausgewählte Geschichten aus der Altenhilfe. Keine erfundenen Stories, sondern wirklich Erlebtes. Jede Geschichte ist so einzigartig wie die Menschen, die sie erleben. Jede Pflegebeziehung ist eine Chance zum Wachstum für beide: Pflegende und Pflegebedürftigen

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2 In fast familiären Verhältnissen
Badewasser für zwei
1983 begann ich mein Vorpraktikum auf der Pflegestation in einem typischen norddeutschen Altenheim. Damals war der Alltag im Heim noch geprägt von Fixierungen aller Art. Wichtig war vor allem, dass regelmäßig abgeführt wurde und dass die gottgleiche Stellung der Stationsleitung von allen Mitarbeitern beachtet und geschätzt wurde. Tatsächlich nähte unsere Stationshilfe – während der Arbeitszeit – Gardinen für unsere Leiterin. Im Stationszimmer. Keiner von uns fand das auch nur in irgendeiner Art und Weise anstößig. Zu meinen Aufgaben als Praktikantin gehörte es, mehrfach pro Woche Sekt zu kaufen. Dazu wurde ich in den Supermarkt schräg gegenüber geschickt. Tauchte ich dort in meinem hellblauen Kittel auf, sprachen mich regelmäßig Kunden an und wollten wissen, wo denn etwa das Waschpulver zu finden sei. Ehrlich gesagt: Ich wusste es und sagte es ihnen kurzerhand. Als Frischling hatte ich auf der Station eine Hauptaufgabe: Ich hatte zwei freundliche alte Damen, Frau Pocher und Frau Schmitt zu versorgen. Ohne jegliche Anleitung allerdings. Ehrlich gesagt brauchten mich die beiden Damen kaum, daher war es gut, dass ich meine ersten Schritte mit ihnen machen durfte. Rückblickend betrachtet, waren die Damen nicht nur sehr freundlich. Sie müssen auch sehr geduldig und tolerant gewesen sein. Schließlich ertrugen sie meine ersten Gehversuche als Pflegekraft und die waren reichlich unbeholfen. Auch wenn ich nicht viel bewirken konnte, war ich doch jeden Tag stolz darauf, die langen weißen Haare der beiden Damen in zwei Zöpfe und einen Dutt gebracht zu haben. In den folgenden Wochen fand ich mich allmählich besser zurecht und war sehr froh, in diesem Beruf Fuß zu fassen. Ich gewann allmählich den Eindruck, dass dies ein Arbeitsgebiet war, in dem ich mich wohl fühlen und etwas Gutes bewirken konnte. Trotz Sektkauf und anderer Dinge, die ein Azubi damals machen musste. Aber dann kam ein besonderer Tag. Ich sollte die beiden Damen baden. Wie üblich erhielt ich auch hierfür keine Anleitung. Es gab auch keine Kollegin, die sich an diesem Tag noch einmal mit mir zusammensetzte, um über diese Aufgabe zu sprechen. Ich hatte auch gar nicht das Bedürfnis, mit jemandem über das Baden von Bewohnern zu sprechen. Ehrlich gesagt war ich der Ansicht, der Aufgabe gewachsen zu sein. Leichten Schrittes begab ich mich also ins Badezimmer, das schräg gegenüber vom Zimmer der beiden Damen lag, und ließ das Wasser in die Wanne laufen. Die beiden waren sich schnell einig, wer als Erste baden wollte. Munter und wendig stieg Frau Pocher in die Wanne. Im Nachhinein denke ich, dass sie überhaupt nicht pflegebedürftig war, so leichtfüßig wie sie in die Wanne glitt. Frau Pocher lag also entspannt im heißen Wasser und damit hielt ich meine Arbeit einstweilen für beendet. Munter ging ich ins Zimmer zu Frau Schmitt: »Machen Sie sich doch schon mal fertig«, sagte ich fröhlich. Alles schien wie am Schnürchen zu klappen. Genauso geschickt, wie sie in die Wanne gestiegen war, stieg Frau Pocher auch wieder heraus. Ich half ihr noch beim Abtrocknen und hielt den Bademantel wärmend bereit, als Frau Schmitt schon ins Badezimmer trat. »Klappt doch gut«, dachte ich. Frau Pocher ging ins Zimmer, um sich bei einem Kaffee zu erholen. Frau Schmitt stieg derweil genauso wendig ins Badewasser wie ihre Zimmergenossin. Ein paar Minuten später saß auch sie sauber und zufrieden beim Frühstück. Ich nahm mir einen Moment Zeit, um auf dem Balkon eine Zigarette zu rauchen. »Jetzt mache ich die Badewanne sauber und dann geht’s weiter im Text«, dachte ich zufrieden. In keiner einzigen Minute dachte ich darüber nach, dass es ein absoluter Fehler war, beide Bewohnerinnen im selben Badewasser zu baden. Genauso wenig dachte ich darüber nach, ob es sinnvoll gewesen wäre, zwischendurch die Badewanne zu desinfizieren. Woher hätte ich das wissen sollen? Hierauf hatte mich die Schule nicht vorbereitet. Hygienische Maßnahmen beim Baden von Bewohnern waren nie Bestandteil des Unterrichts gewesen. Offensichtlich verließ man sich darauf, dass wir jungen Frauen schon wussten, wie das ging. Da ich selbst mit einer Schwester aufgewachsen war, kannte ich nichts anderes als das gemeinsame Bad am Samstagabend, um anschließend bei »Daktari« und dem »Laufenden Band« die von Oma geschmierten Stullen zu verspeisen. Und so, wie meine Schwester und ich einmal die Woche einträglich miteinander badeten, sah ich die beiden Bewohnerinnen auch eher als Schwestern an. In meiner Unerfahrenheit lebten sie wie zwei Schwestern in einem Zimmer. Ich war komplett arglos. Hinzusetzen möchte ich, dass keiner Bewohnerin etwas passiert ist. Kein Bakterienbefall, kein Unwohlsein. Aber das war auch in der Zeit vor ORSA-Keimen und Noro-Virus. – Und es war in einer Zeit, in der es noch keine Praxisanleitung gab. Der Milchbecher
Marie, so nannte ich sie vertraut in Gedanken, war 102 Jahre alt. Die alte Frau lebte schon seit Jahrzehnten allein, seit sie ihr Elternhaus verlassen hatte. Selten habe ich einen so zähen, kräftigen Menschen erlebt, der zugleich so viele Eigenarten hatte, die mich beim ersten Kennenlernen etwas erschreckten. Nur langsam gewöhnte ich mich daran, dass ich mich wie auf Zehenspitzen durch Maries Umgebung bewegen musste. Maries Wohnung glich einem Museum, bis auf das Bad, das auf Initiative der Sozialstation, bei der ich arbeitete, saniert worden war. Dort hatte auch die Waschmaschine Platz, deren Funktion Marie tatsächlich vollkommen unbekannt war. Allerdings verließ sie ihr Bett auch seit Monaten nicht mehr. Der übrige Teil der Wohnung war chaotisch. Die Küche, ein Relikt aus den 1930ern, hatte mich gelehrt, mit Holz anzuheizen, um das Mittagessen zuzubereiten. Ich bewegte mich in dieser Wohnung sehr vorsichtig. Die alten Möbelstücke und Gebrauchsgegenstände zeigten mir, wie Marie hier gelebt und gewohnt hatte. Eine alte Tretnähmaschine erzählte von selbst genähten Kleidern; die vielen kleinen, leeren Pflasterrollen sprachen von Sparsamkeit. Scheinbar hatte Marie nie etwas weggeworfen. Deshalb hatten meine Kollegen in einem großen, unbenutzten Raum alles gestapelt, zusammengeschoben und aufbewahrt, was jetzt nicht mehr von Nutzen war. Marie hatte nie danach gefragt, wo ihre Sachen waren. Sie lebte in den letzten Monaten ihres Lebens in einem kleinen Zimmer. Da lag sie in ihrem Bett, hatte einen großen Schrank, eine Kommode und einen Tisch mit Stuhl. Drumherum gruppierte sich eine Mischung aus alten Decken, Zeitungen und Illustrierten, Nachtstuhl und Nachtschrank. Die Tapete war üppig mit farbenfrohen Blumen bemalt, was mich immer wieder an eine junge, lebenslustige Marie denken ließ. Der Geruch, der mich in der Wohnung stets empfing, war mittlerweile vertraut, aber immer wieder ein einschneidendes Erlebnis für meine Nase. Insbesondere an heißen Sommertagen potenzierte sich die Intensität des Geruchs von saurer, vergorener Milch. Vorsichtig schritt ich stets voran, um Marie in ihrem Bett zu begrüßen. Ähnlich dem Spiel von Pipi Langstrumpf »Niemand darf die Erde berühren« balancierte ich zwischen angetrockneten Pfützen aus Milch zum Bett. Meinen ersten Gruß hatte Marie nicht erwidert. Sie ließ überhaupt nicht erkennen, dass ihr bewusst war, dass ich die Wohnung betreten hatte. »Guten Morgen, Frau G.«, ein zweiter Versuch, um sie zu erreichen. Das klappte. Ein barsches »Hau ab, lass mich in Ruhe!«, scholl mir entgegen. Offensichtlich brauchte Marie noch eine kleine Weile, um sich mit meiner Gegenwart anzufreunden. Ich atmete durch und sah erst einmal die letzten Einträge im Pflegebericht durch, obwohl mir meine Kolleginnen schon einiges erzählt hatten. Ich wusste, dass Marie auch die minimalste Körperpflege vehement ablehnte. Damit hatten wir vom Pflegedienst auch kaum ein Problem. Selbst in ihrer Inkontinenz roch sie kaum. Sie war weder ungepflegt noch unsauber. Ihre Haut hätte einen ganzen Artikel über gesunde »Altershaut« in einer Frauenzeitschrift füllen können. »Lasst keine unnötigen Pflegeprodukte an Eure Haut«, wäre die Hauptaussage gewesen. Seit mehr als einer Woche hatte Marie nun die Körperpflege auf ein Minimalprogramm heruntergefahren. Manchmal hatte sie wenigstens zugestimmt, wenn einer von uns davon sprach, dass »ein wenig untenherum sauber machen wohl nicht schlecht wäre«. Aber auch dazu hatte sie heute keine Lust. Ich zog meine Trickliste zu Rate, auf der als zweiter Punkt »Kaffee« stand. Marie trank ihren Kaffee stets mit ganz viel Milch aus einem Schnabelbecher. Ich kochte Kaffee und betrat wieder Maries Zimmer. Vorsichtig ging ich so nah an sie heran, dass sie mich erkennen konnte. Vermutlich kannte sie mein Gesicht, wusste vielleicht irgendwo in ihrem Kopf, dass sie mich schon einmal gesehen und mir vielleicht sogar schon einmal vertraut hatte. Sie ließ zu, dass ich mich zu ihr beugte und sie anlächelte. Sie lächelte verschmitzt zurück. Ich hatte gewonnen. Marie stimmt zu, dass eine kleine Wäsche heute angenehm sein würde. Genussvoll knabberte sie sogar die aufgeweichten Kekse zum Kaffee und blätterte in einer...


Barbara Messer ist Bachelor of Business Administration, NLP-Trainer und Altenpflegerin. Sie arbeitet als Trainerin und Coach in der Gesundheitsbranche, veröffentlichte zahlreiche Fachbücher und -artikel.



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