E-Book, Deutsch, 276 Seiten
Merz-Atalik Die inklusive Lehrperson
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-17-028757-0
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Leitgedanken transformativer Lehrkräftebildung
E-Book, Deutsch, 276 Seiten
ISBN: 978-3-17-028757-0
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dr. Kerstin Merz-Atalik ist Professorin für Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung/Inklusion an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg.
Autoren/Hrsg.
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Vorwort von Barbara Wenders und Reinhard Stähling1
Lehrer*innenbildung an und für (inklusive) Reformschulen
Jede Schule ist immer auch Ausbildungsschule für Studierende und Lehramtsanwärter*innen. Zugleich kann sie durch Hospitationen und Besuche auch als Fortbildungsstätte dienen. Die aktuelle Lehrer*innenbildung orientiert sich an bestehenden Schulen und deren Strukturen und begrenzten und tradierten Möglichkeiten und selbstverständlich erscheinenden Praktiken: vertikale Gliederungen in Primar- und Sekundarstufenschulen, horizontale Gliederungen in verschiedenen Schulformen ab dem Jahrgang 5, Sondersysteme für behinderte Schüler*innen, Aussonderungen von leistungsschwachen und verhaltensauffälligen Schüler*innen, begrenzte Umsetzungen von Lehrplänen, begrenzte Möglichkeiten wegen der Raum- und Klassengrößen und wegen des mangelnden Personals, wenig gebundene und verpflichtende Ganztagsschulen usw. Wiederholende PISA-Ergebnisse zeigen, dass die Schulleistungen der Schüler*innen in Deutschland stark von ihrer Herkunft bestimmt werden. In Deutschland gibt es – mehr als in vielen anderen Ländern – in diesem Feld seit langem Entwicklungsbedarf. Es werden Strukturänderungen in Richtung gebundener, verpflichtender Ganztagsschulen und längeren gemeinsamen Lernens bis zum zehnten Schuljahr unter einer Leitung diskutiert. Die Lehrer*innenbildung steht hier zumeist im Abseits und kann sich an solchen Reformvorhaben nicht beteiligen.
Bevor wir die Frage erörtern, welches konkrete Ziel die Lehrer*innenbildung verfolgen möge, haben wir zunächst Einigkeit darüber herzustellen, was Lehrer*innenbildung nicht tun soll: Sie sollte mit ihren Instrumentarien nicht bestehende Schulstrukturen bedienen und verfestigen. Im Gegenteil müsste sie dazu beitragen, die Reform des Schulwesens zu unterstützen. Konkret wäre anzustreben, was nach unserer Einschätzung bereits im Einvernehmen mit den gesicherten Forschungsergebnissen als Reformforderung vorliegt: eine inklusive Schule für alle Schüler*innen in einer Schulform, die von der Primarstufe bis zur Sekundarstufe unter einer verantwortlichen Leitung steht.
Alle Lehrer*innenbildungsvorhaben, die der Festschreibung des in Deutschland bestehenden, ab der Sekundarstufe gegliederten und selektierenden Schulsystems dienen könnten, sollten kritisch überprüft werden; auch und gerade die fachdidaktischen Aspekte, die viel zu sehr schulstufengebunden verengt werden (vgl. auch Stähling & Wenders, 2018, S. 91?ff.):
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Wozu sollen Pädagog*innen ausgebildet werden, die nur in Sonderschulen arbeiten können und wollen?
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Wieso sollen Lehrer*innen ihr ›Fach‹ verengt nur auf Schulstufen bezogen kennenlernen und in der Praxis erproben können?
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Wer trägt die Verantwortung für den gesamten Lernprozess der Schüler*innen in den einzelnen Fachgebieten?
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Gibt es überhaupt ›Grundschul-Englisch‹ oder ist die Fremdsprachendidaktik längst weiter?
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Wieso kann die Wissenschaft der Mathematik überhaupt bei Lernanfänger*innen eine andere sein als bei Schulabgänger*innen?
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Weshalb werden fachspezifische Qualifikationen erworben, die nur in bestimmten Schulformen gebraucht werden, die eine fächerübergreifende Vernetzung des Lernens nicht strukturell vorsehen?
Im real existierenden gegliederten Schulsystem werden Lehrer*innen ausgebildet, die für die zukünftigen Generationen Leitbilder darstellen sollen. Wie kann es uns gelingen, dass die Lehrer*innenbildung die längst überfällige Reform der Schulen voranbringt?
Man wird dem entgegenhalten, dass doch die zukünftigen Lehrer*innen klarkommen wollen im bestehenden Schulsystem und auch dort eine Anstellung anstreben und nicht den Auftrag verspüren, sich für die Reform des Bestehenden einzusetzen. Personalrät*innen werden hier sogar von Überforderung reden und die Mitarbeiter*innen vor solchen Vorhaben schützen wollen, die die bewährten Routinen des Schulgeschäftes ›auf Kosten‹ der Beschäftigten aushebeln könnten.
Hier verläuft auch die Frontlinie zwischen denjenigen, die auch die Schule nicht aus der Pflicht nehmen wollen, wenn es darum geht, die Zukunft der Kinder zu sichern (siehe z.?B. Greta Thunberg und ihr weltweiter ›Fridays für Future‹-Schulstreik für das Klima), und denjenigen, die der Meinung sind, dass die Schule nur dazu diene, den jungen Menschen auf seine Rolle in der derzeitig real existierenden Gesellschaft bestmöglich vorzubereiten.
Wenn wir uns angesichts dieser Debatten auf das Grundgesetz besinnen und der Meinung sind, dass die Schule dazu beitragen soll, dass die jungen Menschen erzogen werden müssen, zum Beispiel zur Verantwortung »für die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen« (§ 2 SchulG NRW), so kann die Lehrer*innenbildung nicht abseitsstehen (vgl. Eichholz, 2013).
In seiner kritischen Analyse der Lehrer*innenbildung kommt Feuser (2013) zu dem Schluss, dass in den lehramtsbildenden Hochschulen die wesentlichen Grundlagenfelder derzeit zu wenig behandelt werden: Geschichte der Pädagogik, Bildungstheorie und Allgemeine Didaktik (vgl. auch Feyerer, 2013).
»Hätten wir eine subjektwissenschaftlich fundierte und bezogen auf die humanwissenschaftlichen Grundlagen qualitativ hochstehende Lehrer*innenbildung, bedürfte, was heute z.?B. mit den Begriffen Diversität, Differenz, Vielfalt, Heterogenität verknüpft und diskutiert wird, überhaupt keiner besonderen Erwähnung und inklusiver Unterricht wäre selbstverständlich, sofern man Kinder und Schüler*innen in einem Kindergarten und einer Schule so zusammenkommen lässt, wie sie sind und weil sie da wohnen und leben« (Feuser, 2013, S. 27).
Für eine Lehrer*innenbildung, die zu einer Reform des Bildungswesens beitragen will, sind nach dieser Analyse zwei Aufgabenfelder zu fordern:
- 1.
Vermittlung von Kompetenzen zur Umsetzung von Reformen in Schulen: Die jungen Lehrer*innen müssen lernen, die vorhandenen Strukturen und Begrenztheiten der Schulen in Deutschland so zu reformieren und für sich zu nutzen, dass sie für die Entwicklung der nachkommenden Jugend nicht – wie bisher – eine Behinderung für das Lernen darstellen.
- 2.
Vermittlung von Kompetenzen für Lernprozesse: Die jungen Lehrer*innen müssen eigene Erfahrungen damit machen, wie Schüler*innen erfolgreich lernen, und diese unter Anleitung auswerten. Sie müssen die lern- und entwicklungslogischen Grundlagen im Zusammenhang mit didaktischen Fragen kennenlernen, in Verhaltenstrainings einüben und in Praktika anwenden.
Hier wird sichtbar, dass eine wirklich fundierte tatsächlich stattfindende Lehrer*innenbildung entscheidend dazu beitragen könnte, das deutsche Schulsystem zu reformieren. Dazu brauchte sie als feste Kooperationspartner*innen auch Schulen, in denen die Lehrer*innen sich ein Bild von humaner Pädagogik machen können. In diesen Schulen können sich die zukünftigen Lehrer*innen mit den alltäglichen Grenzerfahrungen auseinandersetzen und das didaktische Handeln üben.
Pädagog*innen brauchen positive Erfahrungen mit reformorientierten Schulmodellen, die Kinder und Jugendliche nicht einteilen und sortieren, sondern die sie als Lernende ernst nehmen und ihnen die Möglichkeit bieten, vertieft, nachhaltig und erfolgreich zu lernen.
Berufsanfänger*innen geraten nicht selten in eine Krise, weil sie sich als zukünftige Pädagog*innen immer fragen, ob sie den Aufgaben der reformorientierten Praxis gewachsen sind. Es muss vermieden werden, dass sie aus Verunsicherung heraus auf die ihnen aus der eigenen Schulzeit bekannten Verhaltens- und Denkmuster der traditionellen Schule zurückgreifen und sich aufgrund mangelnder Erfahrungen überlasten. Die intensiven Aufarbeitungen der eigenen Schulzeit und der dort eintrainierten Muster sind nötig (vgl. Kaiser, 2003). Dies kann verhindern, dass lernende Berufsanfänger*innen durch konservative Praxisbetreuer*innen dahin geführt werden, ihren ›Unterricht‹ im herkömmlichen Stil so zu gestalten, dass er nicht für alle Schüler*innen erfolgreich sein kann.
Alle Erfahrungen der Studierenden und Lehramtsanwärter*innen in der Schulpraxis sollten in den Seminaren der Lehrer*innenbildung aufgearbeitet werden. Auch Lehrkräfte mit Berufserfahrung sind auf Unterstützung angewiesen. Dazu benötigen wir in den Schulen und Seminaren sowohl Supervisionen und Lehrer*innenverhaltenstrainings als auch Reflexionen zur Schulpraxis. Ohne historische Rückblicke, zum Beispiel auf die reformpädagogischen Kämpfe der 1920er Jahre, sind die eigenen reformorientierten Praxiserfahrungen nicht einzuordnen und für zukünftige Reformen zu nutzen. Auch der Blick über die nationalen Grenzen hinweg ermöglicht die Einsicht darin, wie Strukturen entstehen und wie Reformen umgesetzt werden. Die Gesetzmäßigkeiten der Veränderungen zu ergründen kann dabei von großer Bedeutung für zukünftige Schulentwicklungen sein.
Besondere Universitäts- oder Übungsschulen wie die Laborschule Bielefeld...




