Für eine Kultur der Menschlichkeit
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
ISBN: 978-3-451-83478-3
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der Jesuit und Pädagoge Klaus Mertes ist überzeugt: Es ist die Herzensbildung, auf die es ankommt. In seinem Buch warnt er davor, unser Bildungssystem nur noch nach dem globalen Markt und den Ergebnissen der PISA-Studie auszurichten und plädiert dafür, die christlichen Grundwerte wieder stärker in die Mitte unserer Schulen und unserer gesamten Gesellschaft zu stellen. Dazu zählen für ihn eine Wiederentdeckung der Kultur des Hörens, der Stille und des Miteinanders, was nicht nur für unsere Schulen, sondern für unsere gesamte Gesellschaft zwingend notwendig ist.
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Das ansprechbare Herz
Was hindert den Priester daran, mit dem Herzen zu sehen? Shalom Ben Chorin vermutet, dass er den Mann für tot hält. Er weicht ihm aus, um sich nicht zu verunreinigen. Wenn er den Leichnam berühren würde, könnte er für einige Zeit nicht mehr am Tempeldienst teilnehmen.2 Das gilt auch für den Leviten. Denn auch er steht ja im Dienst des Tempels, zum Beispiel als Chorsänger. In beiden Fällen läge also die Pointe in der Gegenüberstellung »Ritual contra Herzenspflicht«.3 Der Priester und der Levit geben dem Ritual den Vorrang. Ihre Entscheidung steht, so gesehen, für mehr. Sie steht für eine Haltung. Die Haltung ist es, die mehr oder weniger blind macht. Vielleicht spüren die beiden Kleriker noch den leisen Impuls in ihrem Herzen, der ihnen zuflüstert: »Es könnte sein, dass der Mann nicht tot ist, sondern ohnmächtig.« Aber diese innere Stimme ist zu schwach angesichts des hohen Interesses daran, rechtzeitig und vor allem rein den Dienst im Tempel anzutreten. In ihrem Herzen, so könnte man sagen, haben sie bereits anders entschieden, bevor sie sich auf den Weg nach Jericho machten. Ihr Herz war beim Tempel. »Wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz.« (Mt 6,21) Oder vielleicht präziser: Ihr Herz war bei einer Pflicht, die für sie keine Ausnahme zuließ. Das machte ihre Haltung aus. Der Samariter hingegen »sieht«. Es ist ihm »weh ums Herz«, und er geht hin. Vielleicht hat auch er eine Pflicht, der er eigentlich nachkommen müsste. Aber sie hält ihn nicht davon ab, dem inneren Impuls in dieser konkreten Situation den Vorrang zu geben und zu handeln. Dahinter steht eine Haltung: Sensibilität für Leiden kommt vor Regelsensibilität. Auch sinnvolle Regeln und Verpflichtungen müssen zurückstehen können, wenn die Möglichkeit besteht, ein Leben zu retten. Für den Gesetzeslehrer, der das Gespräch mit Jesus und damit auch die Erzählung einleitete, enthält das Gleichnis noch eine weitere Provokation. Ihm, einem jüdischen Gesetzeslehrer, wird ausgerechnet ein Mann als Vorbild vorgehalten, der aus Samarien stammt. Das Verhältnis von Juden und Samaritern ist ja beiderseits angespannt. Wenn im Gleichnis nun ausgerechnet der Samariter im Unterschied zu den jüdischen Klerikern der Herzenspflicht folgt, ist ein weiteres Thema angesprochen. Die Frage, die der Gesetzeslehrer stellte, lautete ja: »Wer ist mein Nächster?« Zunächst einmal, so die Antwort im Gleichnis, einfach »ein Mann«, oder auch einfach »ein Mensch«, eben derjenige Mensch, der gerade halbtot am Wegesrand liegt. Jeder und jede könnte also »mein Nächster« sein, eben diejenige Person, über die ich gerade stolpere oder die sich mir gerade in den Weg stellt. Es kommt aber noch etwas hinzu. Die Gegenfrage, die Jesus dem Gesetzeslehrer am Ende des Gleichnisses stellt, lautet: »Wer von diesen dreien, meinst du, ist dem zum Nächsten geworden, der von den Räubern überfallen wurde?« Nun richtet sich das Scheinwerferlicht auf den Samariter, nicht mehr auf den halbtot geschlagenen Mann. Er ist dem Menschen am Wegesrande zum Nächsten geworden. Er, der Samariter, hat nämlich nicht gefragt, ob der geschlagene Mann am Wegesrand ein Jude, Römer, Grieche oder Samariter ist. Er hat diese Unterscheidung hinter sich gelassen. Er war offen für den Moment, ohne sicherheitshalber zu sortieren. Man kann daraus auf einen spontanen »menschlichen« Impuls schließen. Aber vielleicht steckt auch mehr dahinter, etwas, das mit Bildung im weitesten Sinne zu tun hat. Menschen nicht zu sortieren gehört zu seiner Haltung. Die Frage, wer »mein Nächster« ist, wird bereits in der Tora diskutiert. Sie ist nie ganz ausdiskutiert, weil sie den Verstand immer »belästigen« (Immanuel Kant) wird. »An den Kindern deines Volkes sollst du dich nicht rächen und ihnen nichts nachtragen. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« (Lev 19,18) Hier ist von den Kindern des eigenen Volkes die Rede. Das ist eine ziemlich weitgehende Einschränkung des Personenkreises, für den die Pflicht zur Nächstenliebe gelten soll. Nächstenliebe in diesem Sinne kann dann durchaus zusammengehen mit Gleichgültigkeit gegenüber denen, die nicht zu den »Kindern meines Volkes« gehören. Die Einschränkung auf die Kinder des eigenen Volkes wird allerdings in der Tora einige Zeilen später aufgehoben: »Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten, und du sollst ihn lieben wie dich selbst.« (Lev 19,34) Doch damit sind wiederum nicht alle Fragen erledigt. Diskutiert wird weiterhin, ob mit dem »Fremden« (hebräisch: ger) auch schon der »Ausländer« (nokri) gemeint ist oder nicht. Zwar sind »Ausländer« in der Tora nicht rechtlos, aber eine Spannung zum »Fremden« bleibt dennoch bestehen, sofern unter dem »Fremden« der innerisraelitische Migrant zu verstehen ist. Das führt zu der Frage, ob es eigentlich überhaupt erlaubt ist, zwischen dem Nahen, dem Näheren und dem Nächsten zu unterscheiden. Heute ist das Thema in der Migrationsdebatte besonders virulent. Haben Staat und Politik höhere Pflichten gegenüber den Angehörigen des eigenen Volkes als gegenüber Personen aus anderen Völkern, die die Grenze überschreiten, weil sie vor der Verfolgung oder Armut im eigenen Lande fliehen? Unvergessen ist die Szene im Juli 2015 zwischen Angela Merkel und einer Schülerin der Rostocker Paul-Friedrich-Scheel-Schule. Reem Sahwil ist mit ihrer Familie aus Palästina in den Libanon und von dort aus nach Deutschland geflohen. Sie erzählt der Bundeskanzlerin während eines Bürgerdialogs vor laufenden Kameras ihre Geschichte. Seit vier Jahren lebt sie in Rostock, sie will studieren und ihre Zukunft planen »so wie jeder andere auch«. Aber sie und ihre Familie können jeden Moment in den Libanon abgeschoben werden. Die Kanzlerin steckt in einer Klemme. Sie ist einerseits bewegt: »Du bist ein unheimlich sympathischer Mensch«, aber andererseits muss sie hart bleiben oder meint hart bleiben zu müssen, da ihr der hoheitliche Gestus eines spontanen, man könnte auch sagen: eines willkürlichen Gnadenaktes aus naheliegenden Gründen verwehrt ist. Sie sagt zu Reem: »Das ist manchmal auch hart – Politik.« Und weiter: Es könnten nicht alle kommen, das schaffe Deutschland einfach nicht; im Libanon und in Afrika säßen noch Tausende. Die Schülerin nickt, und dann fängt sie an zu weinen. Die Kanzlerin zögert kurz, geht auf Reem zu. »Du hast das doch prima gemacht«, sagt sie und will die Schülerin trösten. Der Moderator schaltet sich ein: »Ich glaube nicht, Frau Bundeskanzlerin, dass es da ums Prima-Machen geht.« Es gehe um die belastende Situation. »Das weiß ich, dass das eine belastende Situation ist, und deswegen möchte ich sie trotzdem einmal streicheln«, sagt Merkel – und streichelt Reem. Auch wenn das Herz Not sieht, kommt es an Abwägungsvorgängen nicht vorbei. Im Falle des Samariters ist die Lösung einfach: Hingehen, helfen, sorgen. Und dann weitergehen. Der Samariter scheint ein wohlhabender Mann zu sein, vielleicht ein Händler. Er kann aus der Fülle schöpfen. Und er scheint in dieser Situation für sich allein stehen und für sich allein handeln zu können. Er nimmt niemandem etwas, wenn er gibt, weil das, was er gibt, nichts ist, worauf andere einen Anspruch haben könnten, etwa seine Kinder, seine Familie oder andere Personen: Angestellte, Gläubiger, wer auch immer. Spontane Regungen des Herzens können aber in Zielkonflikte führen, wenn dritte und vierte Personen in meine Entscheidung mit hineingezogen werden. Menschen handeln in der Regel nicht für sich allein. Spätestens dann aber, wenn es um mehr geht als um zwei Personen, kommt die Kategorie der Abwägung mit ins Spiel. Wem entziehe ich mich, wenn ich mich einer ande- ren Person zuwende? Wem enthalte ich etwas vor, wenn ich gebe? Manchmal sind da Kompromisse nicht möglich. Not und Liebe fordern Entscheidungen heraus, die nur dann stimmen, wenn sie nicht halbherzig erfolgen. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter stellt zwar die Herzenspflicht über die Folgsamkeit gegenüber dem Ritual. Aber das lässt sich nicht verallgemeinern, zumal nicht jeder gefühlte Anspruch an mich schon meine Herzenspflicht ist. Um hier unterscheiden zu können, bedarf es also der Offenheit für Abwägungsprozesse, auch auf der Ebene des Herzens. Für Abwägungsprozesse braucht es Gründe für die eine und Gründe für die andere Richtung. Das gilt auch für die Abwägung auf der Ebene des Herzens. Blaise Pascal brachte es auf den Punkt: »Le cœur a ses raisons que la raison ne connaît point – Das Herz hat seine Gründe, die die Vernunft nicht kennt.«4 Die Gründe des Herzens lassen sich nicht auf die Begriffe der Vernunft bringen, jedenfalls nicht diejenige Sorte von Vernunft, wie sie Pascals Zeitgenosse René Descartes verstand. Herzensgründe haben ihre eigene Logik. Sie stehen eher für Ausnahmen als für Regeln. Sie lassen Widersprüche zu. Aber gerade deswegen sind sie noch lange nicht bloß irrational. Die Logik des Herzens ist eine Logik eigener Art. Die biblische Tradition bringt das zum Ausdruck, indem sie – im Unterschied zu den platonischen Traditionen – den Verstand im Herzen ansiedelt, nicht im Kopf. Beide Logiken – die des Herzen und die des Verstandes – sind einander nicht hierarchisch zugeordnet, so als ob die eine Logik die andere beherrschen könnte. Es bleibt dem Herzen Spielraum gegenüber der Vernunft mit ihren allgemeinen, widerspruchsfreien Geltungsansprüchen. Das ist nicht antirational gemeint. Herz steht nicht gegen Vernunft, wie es dumme Sprüche nahelegen nach dem Motto: »Wenn das Herz brennt, rußt der Verstand.« Gerade das gebildete Herz weiß, dass es sich nicht so verhält. Im besten Fall reichen...