E-Book, Deutsch, Band 21, 357 Seiten
Reihe: Eigene und fremde Welten
Historische und kulturwissenschaftliche Annäherungen
E-Book, Deutsch, Band 21, 357 Seiten
Reihe: Eigene und fremde Welten
ISBN: 978-3-593-41013-5
Verlag: Campus
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Autoren/Hrsg.
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Inhalt
Einleitung:
Krisen als Wahrnehmungsphänomene.9
Thomas Mergel
Theoretische Zugange zur Krise
Einführung.25
Andreas Weis
Bausteine eines soziologischen Krisenverständnisses:
Rückblick und Neubetrachtung.29
Raimund Hasse
Der Krisenbegriff der modernen Ökonomie.47
Alexander Nutzenadel
Jenseits des Dualismus von Wandel und Persistenz?
Krisenbegriffe der Sozial- und Kulturanthropologie.59
Stefan Beck und Michi Knecht
Krisengesellschaften?
Einführung.79
Tsypylma Darieva
'Only Bad News from Radio Africa':
Das nachkoloniale Afrika als Kontinent in der Dauerkrise.83
Andreas Eckert
Krise, Katastrophe und soziale Ordnung:
Der Bürgerkrieg in Afghanistan.99
Conrad Schetter
Die Krise als Topos im modernen China.117
Dominic Sachsenmaier
Europa in der Krise:
Zivilisationskrise – Integrationskrise – Krisenmanagement.131
Hartmut Kaelble
Gesellschaften ohne Krisen?
Einführung.147
Daniel Hedinger
Wenn man das Ende schon kennt:
Das Mittelalter – krisenfeste Geschichte?.151
Jan Rüdiger
Gesellschaften ohne Krise?
Der Staatssozialismus.165
Christoph Boyer
Kritik als Krise oder warum die Sowjetunion trotzdem unterging.177
Jörg Baberowski
Krise der 'natürlichen' Ordnungen: Körper und Geschlecht
Einführung.199
Annelie Ramsbrock
'A man is not a man without work':
Von Wirtschaftskrisen und arbeitslosen Familienvätern
in den 1930er Jahren.203
Jürgen Martschukat
Ende der Geburt?
Die Technisierung der Fortpflanzung zwischen Krise
und Naturalisierung.217
Barbara Orland
Die Sprache der Krise – Die Krise der Sprache
Einführung.237
Lena Gautam
Krise und Sprache:
Theoretische Anmerkungen.241
Heidrun Kämper
Kritik und Krise:
Politische Sprachkritik und Krisendiskurse in den 1970er Jahren.257
Martin H. Geyer
Wortwelten und Sprachspiegelungen:
Ein Vergleich der öffentlichen Diskurse zur Asienkrise
1997–98 und zur heutigen Weltwirtschaftskrise.275
Vincent Houben
Epistemische Krisen
Einführung.293
Christiane Reinecke
Die 1968er Bewegung und das Paradigma der Selbstorganisation.297
Wolfgang Krohn
L’ état de crise:
Normenbegründung in der Moderne – eine Skizze.315
Thomas Gutmann
Ausblick
Kassandras Melancholie und die Konstruktion
von Gemeinschaftlichkeit.331
Bernhard Giesen
Autorinnen und Autoren.349
Einleitung: Krisen als Wahrnehmungsphanomene
Thomas Mergel
Und plötzlich ist sie ganz weit entfernt, die Krise. Oder doch nicht? Dax
und Dow Jones steigen – und mit einem Mal bricht die Industrieproduktion
der USA im letzten Quartal ein. Die Erleichterung ist groß, dass
offensichtlich die Arbeitslosigkeit im Rahmen bleibt – da steht Griechenland
vor der Pleite. Oder Irland. Oder Spanien. Das Rettungspaket könnte
uns überfordern, wenn es ernst wird; ist der Euro in Gefahr? Die USA
schaffen es nach einem regelrechten Show-Down, die Zahlungsunfähigkeit
abzuwenden, aber es ist überdeutlich, dass auch sie über ihre Verhältnisse
leben, und dass das Vertrauen der Weltwirtschaft in die größte
Volkswirtschaft der Welt erschüttert ist. Deutschland dagegen hat traumhafte
Wachstumsraten und eine solide Finanzpolitik, und die Experten
erwarten eine Fortsetzung des Booms fur die nächsten Jahre – aber andere
Experten warnen: Die Schuldenländer könnten auch das deutsche
Finanzsystem mit in den Abgrund ziehen. Die Arbeitslosigkeit sinkt auf
lange nicht gekannte Niedrigstände – aber Hunderttausende können von
ihrer Arbeit nicht leben: Die neue Armut könnte auf Dauer gestellt werden.
Aber da ist plötzlich von einer ganz anderen Krise die Rede: Der
Fachkräftemangel könnte, so heißt es, die Konjunktur abwürgen. Und
überhaupt: was für die Zukunft offenbar ansteht, ist nicht mehr Arbeitslosigkeit,
sondern Arbeitskräftemangel. Jeder morgendliche Blick in die
Zeitung schlägt eine neue Seite im Krisenbuch auf.
Die Krise war ganz plötzlich da, so plötzlich, dass man sich fragte, wer
eigentlich die ganzen Vorwarnsysteme ausgeschaltet habe. Und sie schien
ebenso plötzlich wieder zu gehen. Vielleicht aber auch nicht, wer weiß
das schon? Prognosen über Dauer und Ausmaß wagt keiner. Die Krise beschert
uns ein Wechselbad, das vor allem auf eines hinweist: dass sie sich
in eine offene Zukunft hinein ereignet, eine Zukunft, die voller Unsicherheit ist. Erst im Nachhinein wird sich die Kontingenz dieser Erfahrung als innerer Zusammenhang sehen lassen. Im Moment der Krise ist alles
Handeln von der Unsicherheit der Frage nach Richtig oder Falsch. Früher
haben die Deutschen in Zeiten der Krise gespart, und damit die Chance,
mithilfe des Konsums der Krise Herr zu werden, vergeben. Heute konsumieren
sie wacker gegen die Krise an. Aber vielleicht wird sich in Kürze
herausstellen, dass das auch wieder falsch war.
Allen Steuerungsphantasien, aller zahlengestutzten Prognostik zum
Trotz: Die Krise erweist die Kontingenz gesellschaftlicher Prozesse. Sie
macht die Fragilitat sozialer Konstruktionen offenbar. In solchen Momenten
stehen Gesellschaften in ihren Selbstbildern und ihren Institutionen
plötzlich vor neuen Fragen, und sie brauchen schnelle Antworten. Freilich,
man kann aus Krisen lernen, und eine historische Untersuchung
dieses Lernens würde sicher erweisen, dass dieser Mechanismus bis zu
einem bestimmten Grad auch funktioniert. Dennoch: die Sehnsucht,
durch Techniken, die aus früheren Krisen gelernt haben, 'am Ende aller
Krisen' zu stehen, wird immer wieder enttäuscht; jede Krise ist auf ihre
Weise neu.
Diese Beobachtungen haben uns dazu bewegt, für die folgenden Beiträge
die Frage in den Mittelpunkt zu stellen, was mit Gesellschaften –
und das meint immer: was mit der Selbst- und der Fremdbeobachtung von
Gesellschaften – in solchen Zeiten des schnellen Wandels geschieht. Wie
im Umgang mit solchen Umbrüchen die Gesellschaften, ihre Prozeduren
und Kommunikationsroutinen, ihre Bilder von sich selbst sich verändern.
Wie aber vielleicht auch umgekehrt die Krise selber eine Funktion ihrer
jeweiligen Gesellschaft ist, denn es scheint, als ob moderne, westliche Gesellschaften
spezifische Formen von Krise ausgebildet haben, die sich von
vormodernen oder von nichtwestlichen Krisen unterscheiden. Es fällt auf,
dass der Begriff immer mit einem Ausnahmezustand konnotiert ist.
Andererseits überrascht die Krise als Ereignis, so unvermutet sie auch
hereinbricht, uns nicht wirklich, weil man sich daran gewöhnt, dass es
periodisch dazu kommt. Der Krise haftet mithin eine gewisse Normalität
an; Krise ist offenbar mehr oder weniger immer. Allerdings scheint es
Konjunkturen zu geben, Zeiten, für die das K-Wort sich mehr anbietet
als für andere. So sind in der historischen Forschung bestimmte Übergänge
als Krisen bezeichnet worden, die in engem Zusammenhang mit
dem Moderne-Konzept stehen, etwa die Heraufkunft des industriellen
Kapitalismus und die Übergänge aus der frühmodernen Gesellschaft des
Verlagskapitalismus und der Handwerkskrise. Oder die Übergänge von
einem industriegesellschaftlichen Regime zum anderen, etwa vom freien
zum organisierten Kapitalismus im Umfeld der großen Depression seit
den 1870er Jahren. Oder die Weltwirtschaftskrise und dem Übergang
zum fordistischen Regime. Die Krise der Weimarer Republik war ebenso
geläufig wie die Krise des Ancien Regime im Vorfeld der Französischen
Revolution, die Krise des Spätmittelalters oder die Frage nach den Krisenherden
des Deutschen Kaiserreichs. Krise war hier ein Begriff, der den –
erfahrungsgeschichtlich rapiden – Umbruch von einem mehr oder minder
stabilen Regime zum anderen beschrieb. Ziemlich deutlich hatte dieser
Krisenbegriff des schnellen Übergangs einen politischen, ökonomischen
und sozialgeschichtlichen Charakter. Wenn man allerdings genau genug
hinsah, dann erwies sich ein langer Vorlauf ebenso wie eine lange Nachgeschichte,
Überlappungen von politischer und ökonomischer Krise zeigten
sich, schließlich auch, mit der Konjunktur von Alltags-, Erfahrungs- und
Kulturgeschichte, die Krisen des Subjekts, des bürgerlichen Individuums
oder der Geschlechterkonstruktionen. Kurz: wenn man genauer hinblickte,
war Krise auch im 19. Jahrhundert immer. War das so anders als heute?