E-Book, Deutsch, 455 Seiten
Mereschkowski Der 14. Dezember (Historischer Roman)
1. Auflage 2015
ISBN: 978-80-268-4621-5
Verlag: e-artnow
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dekabristenaufstand - Revolutionäre Bewegung gegen das Regime von Nikolaus I.
E-Book, Deutsch, 455 Seiten
ISBN: 978-80-268-4621-5
Verlag: e-artnow
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dieses eBook: 'Der 14. Dezember (Historischer Roman)' ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Dmitri Sergejewitsch Mereschkowski (1865-1941) war ein russischer Schriftsteller. Bekannt wurde Mereschkowski durch eine Reihe historischer Romane und Novellen. Mereschkowski war für den Literatur-Nobelpreis nominiert. Mereschkowskis Werke sind 'geprägt von der Idee eines epochenbildenden Widerstreits zwischen Christ und Antichrist und einer Vermischung dekabristischer Traditionen mit mystisch-orthodoxen Elementen'. Eine wichtige Rolle in diesem Denken spielte für ihn dabei Dostojewski. Aus dem Buch: 'Im Saale des Reichsrates im Winterpalais, zwischen dem Generaladjutantenzimmer und den provisorischen Gemächern des Großfürsten Nikolai Pawlowitsch, war es um acht Uhr früh noch so finster wie in der Nacht. Die hohen, auf den Hof hinausgehenden Fenster gähnten schwarz und undurchdringlich. Der schwarzgelbe Nebel schien wie ein beißender, erstickender Rauch durch die Fenster und Mauern einzudringen. Die Wachskerzen, die in schweren Kandelabern auf dem langen, mit grünem Tuch bedeckten Tische mit trüben Flammen brannten, beleuchteten nur die Mitte des Saales, während die Winkel im Dunkel verschwanden; zwei große einander gegenüberhängende Bildnisse von Katharina II. und Alexander I. traten geheimnisvoll und durchsichtig aus dem Dunkel hervor, und Großmutter und Enkel schienen sich mit dem gleichen schelmischen und spöttischen Ausdruck zuzulächeln.'
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Drittes Kapitel
Inhaltsverzeichnis Im Saale des Reichsrates im Winterpalais, zwischen dem Generaladjutantenzimmer und den provisorischen Gemächern des Großfürsten Nikolai Pawlowitsch, war es um acht Uhr früh noch so finster wie in der Nacht. Die hohen, auf den Hof hinausgehenden Fenster gähnten schwarz und undurchdringlich. Der schwarzgelbe Nebel schien wie ein beißender, erstickender Rauch durch die Fenster und Mauern einzudringen. Die Wachskerzen, die in schweren Kandelabern auf dem langen, mit grünem Tuch bedeckten Tische mit trüben Flammen brannten, beleuchteten nur die Mitte des Saales, während die Winkel im Dunkel verschwanden; zwei große einander gegenüberhängende Bildnisse von Katharina II. und Alexander I. traten geheimnisvoll und durchsichtig aus dem Dunkel hervor, und Großmutter und Enkel schienen sich mit dem gleichen schelmischen und spöttischen Ausdruck zuzulächeln. Die alten Würdenträger in Puderperücken, Escarpins und goldgestickten Uniformen irrten wie Schatten umher, traten zueinander, tuschelten und flüsterten. In der finstersten Ecke saßen aber stumm und unbeweglich wie drei leblose Statuen drei dem Grabe entstiegene Tote: der siebzigjährige Minister des Innern Lanskoi,13 der achtzigjährige Minister für Volksaufklärung Schischkow14 und der General Araktschejew,15 der unsterblich und ohne Alter schien. Nach der Ermordung der Nastasja Minkina war er heute zum ersten Male bei Hofe erschienen. »Der Tod des Mädels nahm ihm jede Fähigkeit, sich mit Staatsgeschäften zu befassen, aber das Hinscheiden des Kaisers gab ihm diese Fähigkeit wieder«, sagte man von ihm. Alle wußten schon, daß aus Warschau ein Kurier mit dem endgültigen Verzicht des Thronfolgers angekommen war und daß heute das Manifest von der Thronbesteigung Nikolais I. unterzeichnet werden sollte. Man erwartete von Minute zu Minute den Fürsten Alexander Nikolajewitsch Golizyn16 mit der Reinschrift des Manifestes. Sooft die Tür aufging, blickten alle hin, ob er es schon sei. Ein schlanker, ehrwürdiger, schöner Greis mit ergrauten Haaren, die heraufgekämmt waren, um die Glatze zu verdecken, mit einem länglichen, feinen, blassen Gesicht und zwei schmerzlichen Falten am Munde, in denen Melancholie und Empfindsamkeit lagen, – ganz still, sanft, herbstlich und abendlich – Nikolai Michailowitsch Karamsin,17 stand am Kamin und wärmte sich. Alle diese Tage war er krank. »Meine Nerven beben furchtbar. Alles ermüdet mich wie ein kleines Kind«, klagte er. Der Tod des Kaisers hatte ihn wie der Tod eines Freundes, eines geliebten Bruders, getroffen; noch schmerzlicher berührte ihn die Gleichgültigkeit aller gegen diesen Tod. »Alle denken nur an sich, an Rußland denkt niemand.« Alles verletzte, quälte und beleidigte ihn; er wollte grundlos weinen. Er kam sich wie die alte »Arme Lisa« vor. Nikolai beauftragte ihn, das Manifest von seiner Thronbesteigung zu verfassen. Sein Entwurf gefiel aber nicht. »Möge Rußland die Glückseligkeit friedlicher Bürgerfreiheit und der Ruhe unschuldiger Herzen genießen«, – diese Worte gefielen nicht; er mußte sie ändern; er änderte den Satz ab, aber auch die neue Fassung gefiel nicht. Mit der Abfassung des Manifestes wurde nun Speranskij18 betraut. Karamsin fühlte sich gekränkt, blieb aber dennoch im Palais. Er sprach von den Gründen der allgemeinen Unzufriedenheit und von den Maßregeln, die man zum Wohle des Vaterlandes ergreifen sollte. Niemand aber hörte auf ihn, und er verstummte und trat zur Seite. »Das Leben ist zu Ende, zu Ende! Es ist Zeit zu sterben!« So lachte und weinte er über die alte »Arme Lisa«. Am Kamin stehend, beobachtete er alles mit traurigen und nachdenklichen Blicken. »Ich sehe auf alles wie auf fliehende Schatten«, pflegte er zu sagen. In der Nähe flüsterten zwei greise Würdenträger. »Wir werden Sie doch hoffentlich nicht verlieren?« fragte der eine. »Gott allein weiß, was mit uns sein wird«, antwortete der andere achselzuckend. »Neulich setzte uns Pjotr Petrowitsch beim Souper Champagner vor. ›Trinken wir‹, sagte er, ›man weiß nicht, ob wir morgen noch leben.‹« »Euer Exzellenz trauern noch immer?« wandte sich an Karamsin der Ober-Kammerherr Alexej Ljwowitsch Naryschkin;19 er strahlte in Gold und Brillanten und hatte ein majestätisch freundliches und unbedeutendes Gesicht mit dem gezierten Lächeln der alten Würdenträger vom Hofe Katharinas. Er war ein lustiger Patron und scherzte selbst dann, wenn es den andern gar nicht zum Scherzen war. »Nicht ich allein, ganz Rußland...« begann Karamsin. »Lassen wir lieber Rußland aus dem Spiel«, unterbrach ihn Naryschkin mit einem feinen Lächeln. »Vorhin, während des Trauergottesdienst waren die Droschkenkutscher auf dem Schloßplatz gar zu übermütig geworden. Man schickte jemand hinaus, um ihnen zu sagen, sie sollten sich doch schämen zu lachen, wo alle den Verstorbenen beweinen. »Was sollen wir ihn beweinen?« sagten sie darauf: »Er hat lange genug regiert, nun ist's genug!« Da haben Sie Ihr Rußland!« – Das bleiche Gesicht Karamsins flammte auf. »Ich wage zu hoffen, Exzellenz, daß sich in Rußland noch Menschen finden, die die Schuld des Dankes bezahlen...« »Hören Sie auf, mein Lieber, wer zahlt heute seine Schulden? Was mich betrifft, so werde ich erst auf dem Sterbebette sagen: C'est la première dette, que je paye à la nature!« antwortete Naryschkin lachend. »Macht man denn so eine so wichtige Sache? Sie haben alle Papiere durcheinandergebracht! Sie haben keinen Zaren im Kopfe«20 schrie ein böser Zwerg mit einem Kalmückengesicht – der Justizminister Iobanow-Rostowskij – den stellvertretenden Staatssekretär Olenin an, der an eine altersgraue Ratte erinnerte. »Was sagt er: Man hat keinen Zaren?« fragte Fürst Lopuchin, Präsident des Reichsrates und des Ministerkomitees, Ritter des Großkreuzes des Malteserordens, der sich verhört hatte. Er war ein schlanker, großer und majestätischer Greis, geschminkt und gepudert, mit einem künstlichen Gebiß und dem Lächeln eines Satyrs. Er litt an Schwerhörigkeit, die in den letzten Tagen infolge der Aufregung noch stärker geworden war. »Er hat gesagt, Olenin hätte keinen Zaren im Kopf!« schrie ihm Naryschkijn ins Ohr. »Was haben Sie denn geglaubt?« »Ich glaubte, Rußland hätte keinen Zaren.« »Ja, vielleicht hat auch Rußland keinen«, versetzte Naryschkin mit dem gleichen feinen Lächeln. »Am erstaunlichsten ist aber dieses, meine Herren: Es ist wohl schon einen Monat her, daß wir ohne einen Zaren sind, und dabei geht alles doch ebenso gut oder schlecht seinen Gang wie früher.« »Immer noch dieser Unsinn! Man spielt noch immer Ball!« fuhr Lobanow21 zu schreien fort. »Was für ein Ball?« fragte Lopuchin, der wieder nichts verstanden hatte. »Na, das kann man ihm nicht ins Ohr schreien«, bemerkte Naryschkin abwehrend. Dann wandte er sich leise an Karamsin: »Haben Sie das vom Ball schon gehört?« »Nein.« »Pendant quinze jours on joue la couronne de Russie au ballon en se la renvoyant mutuellement, – diesen Witz machte neulich der französische Gesandte Laferonnais. Der Witz ist gar nicht übel, wird aber wohl kaum in die Geschichte des Russischen Reiches aufgenommen werden!« Lopuchin lauschte gespannt hin; als er den Namen Laferonnais hörte, begriff er wohl, wovon die Rede war, und fing ebenfalls zu lachen an, wobei die gleichmäßigen weißen Zähne seines künstlichen Gebisses sichtbar wurden und aus seinem Munde ein Hauch von Moder kam wie aus dem einer Leiche. »Nun, was macht Ihr Rheumatismus, Nikolai Michailowitsch?« fragte mit angenehmer, heiserer Stimme ein etwa sechzigjähriger Mann in einem ziemlich abgetragenen Frack mit zwei Ordenssternen, mit einem Kranz grauer Locken um den kahlen Schädel, einem fast milchweißen Gesicht und blauen, feuchten, sich langsam bewegenden Augen. Es war Michail Michailowitsch Speranskij. »Mir aber setzen die Hämorrhoiden furchtbar zu!« fuhr er fort, ohne eine Antwort abzuwarten. Darauf holte er aus seiner Dose mit zwei langen Fingern seiner ungewöhnlich vornehmen Hand eine Prise Laferme-Tabak, stopfte sie in die Nase, wischte diese mit einem rotseidenen Tuch von zweifelhafter Sauberkeit ab – in bezug auf saubere Wäsche war er etwas geizig – und sprach mit einem selbstzufriedenen Lächeln: »Was wäre ich für ein Kerl, wenn ich nicht Tabak schnupfte!« »Nun, ist das Manifest fertig, Exzellenz?« fragte Karamsin, der ihm zu verstehen geben wollte, daß er sich nicht verletzt fühle und ihn nicht beneide. Speranskij richtete auf ihn langsam seine Augen und antwortete mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln auf den feinen Lippen: »Ach, sprechen Sie nicht davon! Das Manifest wächst mir schon zum Halse heraus! Wie soll man das Notwendige sagen, wie soll man dem Volke die Familienabmachungen erklären? Nikolai verzichtet zugunsten Konstantins, und Konstantin zugunsten Nikolais.22 Nicht hin und nicht her.« »Was sollte man denn machen?« »Das Testament nicht öffnen, und die ganze Suppe nicht einbrocken.« »Sich über den Willen des Toten hinwegsetzen?« »Tote haben keinen Willen.« »Es sind grausame Worte, Exzellenz!« »Grausame Worte sind besser als grausame Taten. Man darf nicht mit der legitimen Thronfolge wie mit einem Privateigentum spielen. Wenn der verstorbene Kaiser sein Vaterland, das...