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E-Book

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Mercier Lea

Novelle
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-446-24117-6
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Novelle

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-446-24117-6
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die achtjährige Lea hat sich nach dem Tod der Mutter in eine eigene Welt zurückgezogen, zu der auch der Vater keinen Zutritt hat. Erst der Klang einer Geige holt sie ins Leben zurück. Sie erweist sich als außerordentliche musikalische Begabung und mit achtzehn liegen ihr Publikum und Musikwelt zu Füßen. Doch Martin van Vliet, ihren anfangs überglücklichen Vater, treibt es immer tiefer in die Einsamkeit. Bei dem verzweifelten Versuch, die Liebe und Nähe seiner Tochter zurückzugewinnen, verstrickt er sich in ein Verbrechen ...

Pascal Mercier (1944-2023) wurde in Bern geboren und lebte in Berlin. Nach Perlmanns Schweigen (1995) und Der Klavierstimmer (1998) wurde sein Roman Nachtzug nach Lissabon (2004) einer der größen Bestseller der vergangenen Jahre und in zahlreiche Sprachen übersetzt. 2007 folgte die Novelle Lea und 2020 der Roman Das Gewicht der Worte. Unter seinem bürgerlichen Namen Peter Bieri veröffentlichte er, ebenfalls bei Hanser, Das Handwerk der Freiheit (2001) sowie Eine Art zu leben (2013). Pascal Mercier wurde 2006 mit dem Marie-Luise-Kaschnitz-Preis ausgezeichnet und 2007 in Italien mit dem Premio Grinzane Cavour für den besten ausländischen Roman geehrt. 2007 erhielt er die Lichtenberg-Medaille der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen.
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1


WIR SIND UNS an einem hellen, windigen Morgen in der Provence begegnet. Ich saß vor einem Café in Saint-Rémy und betrachtete die Stämme der kahlen Platanen im bleichen Licht. Der Kellner, der mir den Kaffee gebracht hatte, stand unter der Tür. In seiner abgetragenen roten Weste sah er aus, als sei er das ganze Leben lang Kellner gewesen. Ab und zu zog er an der Zigarette. Einmal winkte er einem Mädchen zu, das quer auf dem Rücksitz einer knatternden Vespa saß, wie in einem alten Film aus meiner Schulzeit. Nachdem die Vespa verschwunden war, blieb das Lächeln noch eine Weile auf seinem Gesicht. Ich dachte an die Klinik, in der es nun schon die dritte Woche ohne mich weiterging. Dann sah ich wieder zu dem Kellner hinüber. Sein Gesicht war jetzt verschlossen und der Blick leer. Ich fragte mich, wie es gewesen wäre, sein Leben zu leben statt des meinen.

Martijn van Vliet war zuerst ein grauer Haarschopf in einem roten Peugeot mit Berner Kennzeichen. Er versuchte einzuparken und stellte sich, obwohl Platz genug war, ungeschickt an. Die Unsicherheit beim Einparken wollte nicht zu dem großen Mann passen, der nun ausstieg, sich mit sicherem Schritt den Weg durch den Verkehr bahnte und auf das Café zukam. Er streifte mich mit einem skeptischen Blick aus dunklen Augen und ging hinein.

Tom Courtenay, dachte ich, Tom Courtenay im Film The Loneliness of the Long Distance Runner. An ihn erinnerte mich der Mann. Dabei sah er ihm gar nicht ähnlich. Es waren der Gang und der Blick, in denen sich die beiden Männer glichen – die Art und Weise, in der sie in der Welt und bei sich selbst zu sein schienen. Der Direktor des Colleges haßt Tom Courtenay, den schlaksigen Jungen mit dem verschlagenen Grinsen, doch er braucht ihn, um gegen das andere College mit seinem neuen Starläufer zu gewinnen. Und so darf er während der Unterrichtszeit laufen. Er läuft und läuft durch das farbige Herbstlaub, die Kamera auf dem Gesicht mit dem glücklichen Lächeln. Der Tag kommt, Tom Courtenay läuft allen davon, der Rivale sieht aus wie gelähmt, Courtenay biegt in die Zielgerade ein, Großaufnahme des Direktors mit dem feisten Gesicht, das im vorweggenommenen Triumph glänzt, noch hundert Meter bis zum Ziel, noch fünfzig, da wird Courtenay aufreizend langsam, bremst ab, bleibt stehen, Ungläubigkeit auf dem Gesicht des Direktors, jetzt erkennt er die Absicht, der Junge hat ihn in der Hand, das ist seine Rache für all die Schikanen, er setzt sich auf die Erde, schüttelt die Beine aus, die noch lange weitergelaufen wären, der Rivale läuft durchs Ziel, Courtenays Gesicht verzieht sich zu einem triumphierenden Grinsen. Dieses Grinsen, ich mußte es immer wieder sehen, in der Mittagsvorstellung, nachmittags, abends und samstags in der Spätvorstellung.

Ein solches Grinsen könnte auch auf dem Gesicht dieses Mannes liegen, dachte ich, als Van Vliet herauskam und sich an den Nebentisch setzte. Er steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und schirmte die Flamme des Feuerzeugs mit der Hand gegen den Wind ab. Den Rauch behielt er lange in der Lunge. Beim Ausatmen warf er mir einen Blick zu, und ich war erstaunt, wie sanft diese Augen blicken konnten.

»Froid«, sagte er und zog die Jacke zu. »Le vent.« Er sagte es mit dem gleichen Akzent, mit dem auch ich es sagen würde.

»Ja«, sagte ich in Berner Mundart, »das hätte ich hier nicht erwartet. Nicht einmal im Januar.«

Etwas in seinem Blick veränderte sich. Es war keine angenehme Überraschung für ihn, hier einem Schweizer zu begegnen. Ich kam mir aufdringlich vor.

»Oh, doch«, sagte er jetzt, auch in Mundart, »so ist es oft.« Er ließ den Blick über die Straße gleiten. »Ich sehe kein Schweizer Kennzeichen.«

»Ich bin mit einem Mietwagen hier«, sagte ich. »Fahre morgen mit der Bahn nach Bern zurück.«

Der Kellner brachte ihm einen Pernod. Eine Weile sagte keiner von uns etwas. Die knatternde Vespa mit dem Mädchen auf dem Rücksitz fuhr vorbei. Der Kellner winkte.

Ich legte das Geld für den Kaffee auf den Tisch und schickte mich an zu gehen.

»Ich fahre morgen auch zurück«, sagte Van Vliet jetzt. »Wir könnten zusammen fahren.«

Das war das letzte, was ich erwartet hatte. Er sah es.

»Nur so eine Idee«, sagte er, und ein sonderbar trauriges, um Vergebung bittendes Lächeln huschte über seine Züge; jetzt war er wieder der Mann, der so ungeschickt eingeparkt hatte. Vor dem Einschlafen dachte ich, daß auch Tom Courtenay so lächeln könnte, und im Traum tat er es dann auch. Er näherte sich mit den Lippen dem Mund eines Mädchens, das erschrocken zurückwich. »Just an idea, you know«, sagte Courtenay, »and not much of an idea, either.«

»Ja, warum nicht«, sagte ich jetzt.

Van Vliet rief den Kellner und bestellte zwei Pernod. Ich winkte ab. Ein Chirurg trinkt morgens nicht; auch nicht, nachdem er aufgehört hat. Ich setzte mich an seinen Tisch.

»Van Vliet«, sagte er, »Martijn van Vliet«. Ich gab ihm die Hand. »Herzog, Adrian Herzog.«

Er habe hier für ein paar Tage gewohnt, sagte er, und nach einer Pause, in der sein Gesicht älter und dunkler zu werden schien, fügte er hinzu: »in Erinnerung an … an früher«.

Irgendwann auf unserer Fahrt würde er mir die Geschichte erzählen. Es würde eine traurige Geschichte sein, eine Geschichte, die weh tat. Ich hatte das Gefühl, ihr nicht gewachsen zu sein. Ich hatte genug mit mir selbst zu tun.

Ich blickte die Platanenallee entlang, die aus dem Ort hinausführte, und betrachtete die matten, sanften Farben der winterlichen Provence. Ich war hierher gefahren, um meine Tochter zu besuchen, die an der Klinik in Avignon arbeitete. Meine Tochter, die mich nicht mehr brauchte, schon lange nicht mehr. »Frühzeitig aufgehört? Du?« hatte sie gesagt. Ich hatte gehofft, sie würde mehr wissen wollen. Doch dann war der Junge von der Schule nach Hause gekommen, Leslie ärgerte sich über die Verspätung des Kindermädchens, denn sie hatte Nachtdienst, und dann standen wir auf der Straße wie zwei Menschen, die sich getroffen hatten, ohne sich zu begegnen.

Sie sah, daß ich enttäuscht war. »Ich besuche dich«, sagte sie, »jetzt hast du ja Zeit!« Wir wußten beide, daß sie es nicht tun würde. Sie ist seit vielen Jahren nicht mehr in Bern gewesen und weiß nicht, wie ich lebe. Überhaupt wissen wir nur wenig voneinander, meine Tochter und ich.

Am Bahnhof von Avignon hatte ich einen Wagen gemietet und war aufs Geratewohl losgefahren, drei Tage auf kleinen Straßen, Übernachtung in ländlichen Gasthöfen, einen halben Tag am Golf von Aigues Mortes, immer wieder Sandwich und Kaffee, abends Somerset Maugham bei schummrigem Licht. Manchmal konnte ich den Jungen, der damals plötzlich vor dem Auto aufgetaucht war, vergessen, aber nie länger als einen halben Tag. Ich schreckte aus dem Schlaf auf, weil mir der Angstschweiß über die Augen lief und ich hinter dem Mundschutz zu ersticken drohte.

»Mach du es, Paul«, hatte ich zum Oberarzt gesagt und ihm das Skalpell gereicht.

Als ich nun im Schrittempo durch die Dörfer fuhr und froh war, wenn wieder freie Strecke kam, sah ich manchmal Pauls helle Augen über dem Mundschutz, der Blick ungläubig, fassungslos.

Ich wollte Martijn van Vliets Geschichte nicht hören.

»Ich will heute noch in die Camargue, nach Saintes-Maries-de-la-Mer«, sagte er jetzt.

Ich sah ihn an. Wenn ich noch länger zögerte, würde sein Blick hart werden wie der von Tom Courtenay, wenn er vor dem Direktor stand.

»Ich fahre mit«, sagte ich.

Als wir losfuhren, hatte der Wind aufgehört, und hinter der Scheibe wurde es warm. »La Camargue, c’est le bout du monde«, sagte Van Vliet, als wir hinter Arles nach Süden abbogen. »Das pflegte Cécile zu sagen, meine Frau.«

2


BEIM ERSTEN MAL habe ich mir nichts dabei gedacht. Als Van Vliet die Hände das zweite Mal vom Steuer nahm und sie wenige Zentimeter davon entfernt hielt, fand ich es merkwürdig, denn wieder tat er es, als ein Lastwagen entgegenkam. Doch erst beim dritten Mal war ich sicher: Es war ein Sicherheitsabstand. Er sollte die Hände davor bewahren, das Falsche zu tun.

Für eine Weile kamen keine Lastwagen mehr. Rechts und links Reisfelder und Wasser, in dem sich die ziehenden Wolken spiegelten. Die ebene Landschaft ließ das Gefühl einer befreienden Weite entstehen, es erinnerte mich an die Zeit in Amerika, als ich bei den besten Chirurgen das Operieren lernte. Sie gaben mir Selbstvertrauen und lehrten mich, der Angst Herr zu werden, die hervorzubrechen drohte, wenn der erste Schnitt durch die unversehrte Haut zu legen war. Als ich mit Ende dreißig in die Schweiz zurückkehrte, hatte ich halsbrecherische Operationen hinter mir, ich war für die anderen der Inbegriff ärztlicher Ruhe und Zuversicht, ein Mann, der nie die Nerven verlor, undenkbar, daß ich meinen Händen eines Morgens das Skalpell nicht mehr zutrauen würde.

In der Ferne war ein herankommender Lastwagen zu erkennen. Van Vliet bremste scharf und fuhr von der Straße hinunter auf ein Gelände mit Hotel und einer Koppel mit weißen Pferden. PROMENADE À CHEVAL stand am Eingang.

Eine Weile blieb er mit geschlossenen Augen sitzen. Die Lider zuckten, und auf der Stirn waren feine Schweißperlen. Dann stieg er wortlos aus und ging langsam hinüber zum Zaun der Koppel. Ich trat neben ihn und wartete.

»Würde es Ihnen etwas ausmachen, das Steuer zu übernehmen?« fragte er heiser. »Ich … mir ist nicht besonders.«

An der Bar des Hotels trank er zwei Pernod. »Jetzt geht es wieder«, sagte er danach. Es sollte tapfer klingen, doch es war eine fadenscheinige Tapferkeit.

Statt zum...


Mercier, Pascal
Pascal Mercier, 1944 in Bern geboren, lebt in Berlin. Nach Perlmanns Schweigen (1995) und Der Klavierstimmer (1998) wurde sein Roman Nachtzug nach Lissabon (Carl Hanser Verlag 2004) einer der großen Bestseller der vergangenen Jahre und in zahlreiche Sprachen übersetzt. 2007 folgte die Novelle Lea. Unter seinem bürgerlichen Namen Peter Bieri veröffentlichte er, ebenfalls bei Hanser, Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens (2001).
Pascal Mercier wurde 2006 mit dem Marie-Luise-Kaschnitz-Preis ausgezeichnet und 2007 in Italien mit dem Premio Grinzane Cavour für den besten ausländischen Roman geehrt. 2007 erhielt er die Lichtenberg-Medaille der Universität Göttingen.



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