Mengestu Unsere Namen
1. Auflage, neue Ausgabe 2014
ISBN: 978-3-0369-9282-2
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 336 Seiten, eBook
ISBN: 978-3-0369-9282-2
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dinaw Mengestu, 1978 in Addis Abeba geboren, emigrierte 1980 mit seiner Mutter und seiner Schwester in die USA. Für seine zwei bisherigen Romane 'Zum Wiedersehen der Sterne' und 'Die Melodie der Luft' erhielt er zahlreiche Auszeichnungen und wurde vom New Yorker auf der renommierten Liste '20 Under 40' geführt. Dinaw Mengestu lebt mit seiner Familie in New York.
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ISAAC
Als Isaac und ich uns an der Universität zum ersten Mal begegneten, taten wir beide so, als wären uns der Campus und die Straßen der Hauptstadt so vertraut wie die staubigen Pfade der Dörfer, in denen wir aufgewachsen waren und bis vor wenigen Monaten gelebt hatten. Dabei hatte keiner von uns jemals zuvor eine Stadt betreten oder eine Ahnung davon, was es bedeutete, auf derart engem Raum mit so vielen Menschen zusammenzuleben, deren Gesichter, geschweige denn Namen, wir niemals alle kennen würden. Die Hauptstadt boomte damals, war voller Menschen, Geld, neuer Autos und Gebäude, die man nach der Unabhängigkeit eilig hochgezogen hatte, in einem ekstatischen Rausch, der von der Aussicht auf einen sozialistischen, panafrikanischen Traum befeuert wurde. Laut Präsident und Radio konnte dieser Traum noch immer, fast zehn Jahre später, jeden Moment Realität werden. Als Isaac und ich in die Hauptstadt kamen, wiesen viele neu errichteten Gebäude bereits erste Zersetzungserscheinungen auf, weil man sie vernachlässigt oder ganz vergessen hatte, doch es lag immer noch die Hoffnung auf eine bessere Zukunft in der Luft, und wir waren wie alle anderen da, um unseren Anteil daran einzufordern.
Auf der Busfahrt in die Hauptstadt legte ich alle Namen ab, die meine Eltern mir gegeben hatten. Ich war fast fünfundzwanzig, jedoch in jeglicher Hinsicht sehr viel jünger. In dem Moment, in dem der Bus die Grenze nach Uganda überquerte, ließ ich meine Namen hinter mir zurück. Wir näherten uns dem Victoriasee, und ich wusste, dass Kampala nun nicht mehr weit war. Schon damals hatte ich beschlossen, diese Stadt in Gedanken nur »die Hauptstadt« zu nennen. Kampala klang zu klein für die Metropole, die ich mir vorstellte, und war zudem eindeutig mit Uganda verknüpft. »Die Hauptstadt« hingegen war namenlos und keinem Land verpflichtet. Wie ich gehörte sie niemandem, also konnte sie auch jeder für sich beanspruchen.
Die ersten Wochen in der Hauptstadt verbrachte ich damit, die jungen Männer zu imitieren, die in Grüppchen auf dem Universitätsgelände und in den angrenzenden Cafés und Bars herumlungerten. Damals wollte jeder ein Revolutionär sein. Auf dem Campus und in den ärmeren Vierteln, wo Isaac und ich lebten, gab es Dutzende Lumumbas, Marleys, Malcolms, Césaires, Kenyattas, Senghors und Selassies, junge Männer, die jeden Morgen nach dem Aufwachen als Erstes die schwarzen Hüte und olivgrünen Anzüge ihrer Helden anlegten. Da ich mich nicht mit ihnen messen konnte, ließ ich mir zumindest die wenigen Haarstoppel am Kinn wachsen, kaufte eine gebrauchte grüne Hose, die ich jeden Tag anzog, auch nachdem der Stoff an den Knien eingerissen war, und betrachtete mich als »Revolutionär im Werden«, auch wenn ich ursprünglich mit ganz anderen Ambitionen in die Hauptstadt gekommen war. Ein Jahrzehnt zuvor hatte nämlich an der dortigen Universität eine wichtige Zusammenkunft afrikanischer Schriftsteller und Gelehrter stattgefunden, von der ich in der Zeitung gelesen hatte, einer Zeitung, die bereits eine Woche alt war, als sie endlich unser Dorf erreichte. Von da an hatte jenes Schriftstellertreffen meine jugendlichen Träume und Pläne beflügelt, die bis dahin nur darin bestanden hatten, die ländliche Provinz so bald wie möglich hinter mir zu lassen. Endlich wusste ich, wohin ich gehen und was ich dort werden wollte: ein berühmter Autor, der, umgeben von Gleichgesinnten, im Herzen der wohl großartigsten Stadt des ganzen Kontinents lebte.
Ich traf schlecht vorbereitet in der Hauptstadt ein. Nachdem ich ein Dutzend Mal die immer gleichen viktorianischen Romane gelesen hatte, ging ich davon aus, dass die Sprache dieser Bücher das richtige Englisch war, und sagte »Sir« bei jeder Gelegenheit. Niemand, dem ich begegnete, nahm mir den Revolutionär ab, und ich brachte nicht den Mut auf, öffentlich meinen Plan zu verkünden, Schriftsteller zu werden. Bis ich Isaac kennenlernte, hatte ich keinen einzigen Freund in der Hauptstadt gefunden. Mit meinen langen dünnen Beinen und dem schmalen Gesicht würde ich eher einem Professor ähneln als einem Kämpfer, behauptete er. Deshalb nannte er mich anfangs auch so: »Professor«, beziehungsweise »der Professor«. Es war nicht der letzte Spitzname, den er mir verpasste.
»Und was ist mit dir?«, fragte ich ihn. Ich ging davon aus, dass er wie so viele andere einen zweiten, offiziellen Namen hatte, bei dem er gerufen werden wollte. Er war kleiner und breiter als ich und hatte muskulöse Arme, über die sich ein dichtes Netz aus Adern zog. Zwar besaß er den Körperbau eines Soldaten, nicht jedoch das Gesicht und das Auftreten, dazu lächelte und lachte er zu oft. Es war für mich nicht vorstellbar, dass er jemals jemanden verletzen könnte.
»Fürs Erste bleibt es bei Isaac«, antwortete er.
Isaac war der Name, den ihm seine Eltern gegeben hatten. Bis wir aus der Hauptstadt fliehen mussten, blieb es der einzige Name, den er tragen wollte. Seine Eltern waren in der letzten Gefechtswelle kurz vor der Unabhängigkeit gestorben. »Isaac« war ihr Vermächtnis an ihn, und als seine Revolutionsträume ihr Ende fanden und er vor der Entscheidung stand, das Land zu verlassen oder zu bleiben, war dieser Name sein letztes und wertvollstes Geschenk an mich.
Von Anfang an war das Leben in der Hauptstadt für Isaac schwieriger als für mich. Diese Stadt war nicht meine Heimat und würde es – wie ich mit der Zeit verstand – auch nie werden. Bei Isaac lag der Fall ein wenig anders. Uganda war sein Land, und Kampala dessen Mittelpunkt. Seine Familie kam aus dem Norden und gehörte einem jener Stämme an, deren Mitglieder besonders groß und dunkel waren, und von denen ein Mann in Cambridge beschlossen hatte, dass sie kriegerischer waren als ihre kleineren Cousins im Süden. Wären die Briten im Land geblieben, wäre es ihm gut ergangen. Als Kind war er so aufgeweckt gewesen, dass man erwogen hatte, ihn später ins Ausland zu schicken, vielleicht mit einem Staatsstipendium auf eine Privatschule in London. Doch dann schien das gesamte koloniale Experiment in einem einzigen langen, blutigen Nachmittag zu enden, und Jungen wie Isaac wurden zum zweiten Mal zu Waisen. Obwohl er nur wenige Wochen vor mir in der Hauptstadt eingetroffen war, hatte er vom Hörensagen und aus Geschichten genug über sie erfahren, um eines ganz sicher zu wissen: Er würde problemlos seinen Platz in ihr finden und es bis ganz nach oben schaffen, egal, in welche gesellschaftlichen Zirkel es ihn letztlich verschlagen würde. Die Tatsache, dass er zum Zeitpunkt unseres Kennenlernens noch immer arm und gänzlich unbekannt war, stellte offenkundig den größten Anlass für Frust dar. Allerdings hatte ich den Verdacht, dass es noch andere Ursachen für seine Wut und seinen Kummer gab, die er sich nicht eingestand.
Isaac und ich wurden Freunde wie zwei streunende Hunde, die auf der Suche nach Nahrung und Gesellschaft jeden Tag denselben Pfad entlangkamen. Beide hatten wir uns im Osten der Stadt eine Unterkunft gesucht, in jener schwer zugänglichen, hügeligen Region, in der es immer wieder zu Erdrutschen kam. Er wohnte bei Freunden von Verwandten, die sich bereit erklärt hatten, ihn auf dem Boden ihres Wohnzimmers schlafen zu lassen, ich hatte ein Feldbett im Hinterzimmer eines Kurzwarenladens gemietet, das an den Wochenenden als improvisierte Bar für den Besitzer und seine Freunde diente. An Freitagen und Samstagen durfte ich erst gegen zwei oder drei Uhr morgens zurück in mein Quartier kommen, nachdem der Inhaber und seine Freunde sich mit den Mädchen aus der Nachbarschaft in meinem Bett vergnügt hatten. Da ich kein Geld hatte und nicht wusste, was ich sonst tun sollte, streifte ich durch das Viertel, ein Labyrinth aus schmalen, zerklüfteten Pfaden, die sich den Berghang hinauf wanden, bis sie auf eine der frisch asphaltierten Straßen stießen, die es nun überall in der Stadt gab. Von dort aus hatte man einen guten Blick über unser Elendsviertel. Es erstreckte sich schräg abfallend in einem Tal, das einst grün und fruchtbar gewesen war und auf dessen üppigen Wiesen die Rinder gegrast hatten. Durch die Bevölkerungsmassen, die während der letzten Jahre in die Hauptstadt geströmt waren, hatte es sich in eine dichte Ansammlung von Wellblechhütten und Stromleitungen verwandelt, um die sich flache, mit Müll und Fäkalien gefüllte Gräben zogen. Zwei Mal sah ich Isaac dort oben auf dem Hügel, bevor wir zum ersten Mal miteinander sprachen. Beide Male stand er am Straßenrand und starrte nicht etwa auf die unter ihm liegende Stadt, sondern auf den vorbeifahrenden Verkehr, als bereitete er sich innerlich darauf vor, sich vor ein Auto zu werfen. Wir begrüßten uns gegenseitig mit einem knappen Nicken. Keiner von uns hätte ausführlicher grüßen können, ohne den anderen zu beunruhigen, und hätte ich Isaac nicht kurz darauf an der Universität gesehen, hätten wir vielleicht Jahre damit zugebracht, uns vom Straßenrand aus zuzunicken. Einige Tage nach dem zweiten Aufeinandertreffen jedoch entdeckte ich ihn auf dem Campus, wo er sich genau wie ich die größte Mühe gab, zugehörig zu wirken, indem er sich in der Nähe einer Studentenclique herumdrückte. Es war die zweite Augustwoche, der Start des neuen Semesters, und so drängten sich auf jedem Quadratzentimeter des zentralen Campusrasens die Studenten. Die gewaltigen Palmen, die die Grünflächen flankierten, verliehen dem Universitätsgelände den Schein tropischer Üppigkeit. Als ich Isaac sah, wusste ich sofort, dass er nicht hier war, weil in Kürze seine Vorlesungen und Seminare begannen, sondern weil er genau wie ich das Gefühl hatte, hierherzugehören, als Teil der künftigen geistigen Elite. Wie ich erzählte er jedem, den er kennenlernte oder dem er begegnete, dass er Student sei, und wie ich war er überzeugt davon, dass er genau das eines...