E-Book, Deutsch, 384 Seiten
Mena Fürchte den Schlaf
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-641-19064-4
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Thriller
E-Book, Deutsch, 384 Seiten
ISBN: 978-3-641-19064-4
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Stevan Mena arbeitet als Drehbuchautor, Regisseur und Producer für Film und Fernsehen und wurde für seine beiden Horrorfilme »Malevolence« und »Bereavement« mehrfach ausgezeichnet. Der Thriller »Fürchte den Schlaf« ist sein erster Roman.
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1. Kapitel
Der muffige, schimmelige Geruch des Jutesacks, den er ihr vor der Fahrt über den Kopf geworfen hatte und in dem sie beinahe erstickt wäre, haftete noch unangenehm an Gesicht und Haar; selbst ihr Schweiß roch danach. Sie hatte all ihre Kraft aufbieten müssen, um sich nicht zu übergeben. Jetzt jedoch schärfte dieser Geruch ihre Konzentration, ließ sie nicht vergessen, was auf dem Spiel stand, während sie durchs Unterholz brach, sich durch dornige Büsche arbeitete, wild entschlossen zu leben. Barfuß lief sie weiter, versuchte nicht auf die spitzen Steine zu achten, die ihre Fußsohlen aufrissen. Bloß nicht nachlassen, nicht stehen bleiben. Schmerzen und Verletzungen waren nebensächlich, es ging um Leben und Tod.
Weiter durch das trockene, dornige Wäldchen, über unebenes, steiniges Gelände. Nur einmal riskierte sie einen Blick zurück: Er hatte sie beinahe eingeholt, war nur noch wenige Schritte hinter ihr. Sie warf die Unterarme hoch, um ihr Gesicht zu schützen, und bog jäh nach rechts ab, mitten durch ein dichtes Gebüsch. Die Dornen rissen ihre zarte Haut auf, zerfetzten ihr leichtes weißes Sommerkleid. Um sich abzulenken, um nicht aufzugeben, stellte sie sich vor, sie wäre ein Hase, der von einem ausgehungerten Hund gejagt wurde. Diese Analogie stärkte ihre Willenskraft, trug sie ein Stück weiter.
Wie locker ihre Fesseln waren, hatte ihr Entführer nicht bemerkt, als er sie aus dem Wagen zerrte. Mit viel Geduld und Ausdauer hatte sie während der Fahrt heimlich daran gearbeitet und versucht, den herausquellenden Schaumstoff und die rostigen Sprungfedern zu ignorieren, die aus dem Polstersitz des Rücksitzes hervorkamen und ihr unangenehm in die Haut stachen. Und dann hatte sie beherzt die erste Gelegenheit zur Flucht ergriffen, mit einem gezielten Tritt in seinen Unterleib, der ihn vor Schmerz wie ein Taschenmesser zusammenklappen ließ und den er nach seiner verblüfften, ja, geschockten Miene definitiv nicht erwartet hatte. Sie hatte ihre Handfesseln abgeworfen, den Sack vom Kopf gerissen und war zum Wald gerannt.
Gleich hatte er sie … Obwohl ihre Beinmuskeln jetzt schon höllisch brannten, erhöhte sie ihr Tempo und rannte schneller. Just in diesem Moment blieb sie mit dem Fuß an etwas hängen und fiel flach aufs Gesicht, bekam Erde in Mund und Nase. Wie im Reflex riss sie den Kopf wieder hoch, denn der Geruch von Erde und Wurzeln gaukelte ihr Schreckensvisionen vom Tod und vom Begrabensein vor. Ihr Gesicht war von Schürfwunden und Blutergüssen übersät. Woran war sie hängen geblieben? Sie schaute sich um.
Ihr rechter Fuß hatte sich unter einer Wurzel verhakt. Verzweifelt versuchte sie ihn frei zu bekommen, wurde aber von einem scharfen, unerträglichen Schmerz durchzuckt; da war etwas gerissen, sie spürte es deutlich, wahrscheinlich ein Wadenmuskel. Sie biss die Zähne zusammen, krallte die Finger sekundenlang ins feuchte Gras. Schwere Schritte brachen durchs Unterholz – er kam näher.
Noch ein Ruck – diesmal nutzte sie die Hebelwirkung und stemmte sich mit dem freien Fuß an der Wurzel ab. Die Wurzel gab nach, und sie bekam ihren Fuß frei, trug aber einen tiefen, blutigen Schnitt davon. Taumelnd sprang sie auf, stieß sich von einer biegsamen Birke ab, um schneller vorwärtszukommen, befeuert von schierer Willenskraft.
Mit gesenktem Kopf rannte sie weiter, ein letzter Sprint. Sie geriet in ein Dickicht aus hohen Bäumen, das ihr die Orientierung raubte. Keuchend hielt sie sich an einem der Stämme fest, als wäre er der Held, der Retter, der ihr in letzter Sekunde zu Hilfe kam. Verwirrt blickte sie sich um: überall wegloses Dickicht, nirgends ein Pfad, der sie zu den Menschen, zur Zivilisation zurückführen könnte.
Sonnenlicht drang durch die Baumkronen. Kaum eine Meile entfernt lag der Highway, auf dem sich erschöpfte Pendler von und zur Arbeit quälten.
Er kam näher – sein groteskes Keuchen, das ihr verriet, wie wenig er in Form war, wurde lauter. Rasch tauchte sie hinter einem dichten, dornigen Gebüsch ab. Zusammengekauert hielt sie den Atem an, regte sich nicht mehr. Der Hase hatte sich unsichtbar gemacht. Die schweren Schritte kamen näher und hielten unweit von ihrem Versteck an. Er war ihr so nahe, dass sie sein Schuhleder riechen konnte. Er schien sich umzusehen, denn sein Keuchen kam mal aus der einen, dann aus der anderen Richtung, wie bei einer defekten Stereoanlage.
Er gab ein gereiztes Knurren von sich: der Hund, der die Spur verloren hat. Dann rannte er weiter. Sie wartete, bis auch das letzte Geräusch verklungen war, richtete sich dann vorsichtig auf und reckte den Hals, suchte die Umgebung nach ihrem Verfolger ab. Nichts zu sehen, die Luft war rein. Sie wandte sich ab und wählte die entgegengesetzte Richtung.
Von jenseits des Waldes drang ein immer lauter werdendes Rauschen an ihr Ohr. Konnte das schon der Highway sein? Mit zittrigen Beinen rannte sie darauf zu, rutschte einen steilen Abhang hinunter, stolperte über einen Stein, verstauchte sich das Fußgelenk und wäre beinahe erneut gestürzt, konnte sich aber gerade noch an einem herabhängenden Zweig festhalten. Halt suchend umklammerte sie die harzige Rinde des Baumstamms, von der ihre Finger klebrig wurden.
Vor ihr tauchte ein Pfad auf, der in einiger Entfernung um eine Kurve verschwand. Sie überlegte kurz, was sie jetzt machen sollte. Eine Bewegung ließ sie erstarren. Aber es war bloß ein mageres kleines Eichhörnchen, das einen Baum hinaufflüchtete.
Sie holte tief Luft und trat aus dem Dickicht hinaus und auf den Weg. Zu spät erkannte sie, was das Eichhörnchen aus seinem Versteck in die Baumkrone gescheucht hatte: Unversehens stand er vor ihr, wie aus dem Boden gewachsen.
Überrascht starrten sie einander an – auch er hatte nicht erwartet, ihr so plötzlich wieder zu begegnen. Sein Mund verzog sich zu einem zufriedenen Grinsen, er hob die Hand und wedelte grüßend mit den Fingern, die in schmutzigen Arbeitshandschuhen steckten. Sie war die Erste, die den Bann brach, indem sie blinzelte. Unwillkürlich wich sie einen Schritt zurück. Beide Arme vorgereckt, machte er einen plötzlichen Sprung auf sie zu und griff nach ihrem Oberkörper. Sie riss den Mund auf, versuchte zu schreien, bekam aber nur ein klägliches Wimmern heraus. Ihre schweißnasse Haut entglitt seinen zupackenden Händen. Sie versuchte, auf allen vieren davonzukrabbeln, wie ein verschrecktes Tier. Es gelang ihm, ihr blutiges Fußgelenk zu packen, dann warf er sich mit seinem ganzen Gewicht auf ihr verletztes Bein.
Sie zog ihr freies Bein an die Brust und versetzte ihm einen heftigen Tritt gegen die Stirn, was ihn zwang, ihr Bein loszulassen. Sogleich versuchte er, sie erneut zu fassen zu bekommen, aber sie war schneller, und seine Finger griffen ins Leere. Sie sprang auf die Beine und rannte davon, Erdklumpen aufwirbelnd, die ihm in Gesicht und Augen klatschten.
Der Weg verlief hier glücklicherweise bergab, was es ihr ein wenig leichter machte. Dicht hinter sich hörte sie plötzlich ein dumpfes, vom Gras gedämpftes Geräusch und ein zorniges Grunzen, das ihr einen Schauder über den Rücken jagte. Sie blickte sich kurz um und sah seinen Kopf wieder aus dem hohen Gras auftauchen. Er schien übel gestürzt zu sein, sich vielleicht sogar verletzt zu haben.
Eine Chance.
Sie erreichte den Kamm einer kleinen Erhebung, doch vor ihr lag nicht der erhoffte Highway, sondern ein Fluss, dessen Rauschen sie für Verkehrslärm gehalten hatte. Überqueren oder durchschwimmen konnte man ihn nicht, er war zu breit, zu tief und zu reißend. Die Enttäuschung war bitter, aber sie biss die Zähne zusammen und hinkte weiter, obwohl sie mit ihren Kräften längst am Ende war.
Als sie die schlammige Uferzone erreichte, gaben ihre Beine unter ihr nach. Sie hatte keine Kraft mehr – Knochen und Muskeln fühlten sich an wie Spaghetti.
Zitternd streckte sie eine blutige Hand aus und tauchte sie ins Wasser. Es war eiskalt, ein Schock für ihren geschwächten Körper. Sie stieß ein gurgelndes, tierisches Stöhnen aus und schleppte sich kriechend durch den Schlamm, in dem ihre Finger versanken.
Nun, da die Anspannung nachließ und der Adrenalinspiegel absackte, fiel der Schmerz wie ein wildes Tier über sie her. Alles tat ihr weh, und ihr linker Arm schien gebrochen zu sein, wahrscheinlich bei dem schweren Sturz vorhin. Richtig vorwärtsbewegen konnte sie sich nur noch, wenn sie den rechten benutzte. Weit kam sie aber auch so nicht mehr, die Schmerzen waren zu groß, sie knickte schließlich ein und blieb auf dem Bauch liegen, das Gesicht im weichen Uferschlamm.
Taubheit breitete sich in ihrem Körper aus. Sie lauschte dem Rauschen des Wassers, ein fast beruhigendes Geräusch, gerade laut genug, um die näher kommenden Schritte zu übertönen. Sie regte sich nicht. Vielleicht übersah der Hund ja den Hasen, wenn er vollkommen still lag?
»Du magst es gern dreckig, was? Hab ich’s doch gewusst.«
Er schob die Schuhspitze unter ihre Rippen und warf sie auf den Rücken. Sie rang keuchend nach Luft. Er beugte sich dicht über sie, sein Schweiß tropfte ihr in Augen und Mund, sein Oberkörper verdeckte die Sonne.
Mit seinen dreckverschmierten Fingern strich er ihr das nasse, schlammige Haar aus dem Gesicht. »Du warst mal richtig hübsch, weißt du?«, stieß er keuchend vor Erschöpfung hervor.
War? Dass er die Vergangenheitsform benutzte, machte sie wütend, mobilisierte ungeahnte Reserven. Mit einer letzten Kraftanstrengung begann sie sich zu wehren, mit Zähnen, Füßen und Klauen. Er legte beide Hände um ihren Hals und drückte zu. Sie spürte, wie ihr...




