E-Book, Deutsch, 149 Seiten
Memmi Der Kolonisator und der Kolonisierte
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-86393-576-4
Verlag: CEP Europäische Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zwei Porträts
E-Book, Deutsch, 149 Seiten
ISBN: 978-3-86393-576-4
Verlag: CEP Europäische Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Kolonien sind inzwischen weit¬gehend abgeschafft, aber haben sich damit auch das Kolonialverhältnis und der allgegenwärtige Rassismus aufgelöst? Nicht nur die jüngsten Debatten über Postkolonialismus, um die Thesen des Philosophen Achille Mbembe oder über das Konzept des Humboldtforums im Berliner Schloss zeigen, dass dieses Trauma auch nach der Erringung der politischen Unabhängigkeit auf vielen Ländern der Dritten Welt noch lastet und ein rassistisch oder kolonialistisch gefärbter Überlegenheitsdünkel nach wie vor in erschreckendem Maße die Haltung ist, die die Erste Welt gegenüber den Menschen und Gesellschaften in den früheren Kolonien einnimmt.
Auf hohem literarischen Niveau und mit einem unbestechlichen, präzisen Blick für die Realität seiner Gesellschaft zeichnete der in Tunesien als Jude geborene Albert Memmi erstmals in den 1950er Jahren mit seinen beiden Porträts, einem Grundtext der antikolonialen Opposition. Auch wenn heute diese Studie gewiss anders als in der Phase des Zerfalls der großen Kolonialimperien zu lesen ist, zeigt Adam Shatz in dem angefügten und kürzlich in der London Book Review erschienenen Nachwort, dass sie nichts von ihrer Aktualität eingebüßt hat.
Weitere Infos & Material
Jean-Paul Sartre
Vorwort
Nur der Südstaatler ist befugt, sich über Sklaverei zu äußern: er kennt den Neger*; die Leute im Norden, abstrakt denkende Puritaner, kennen nur den Menschen an sich. Dies schöne Argument erfüllt stets noch seinen Zweck: in Houston, in der Presse von New Orleans und endlich – immer ist man irgend jemandes Nordstaatler – im »französischen« Algerien; da werden die Zeitungen nicht müde, uns zu versichern, dass einzig der Kolonisator qualifiziert sei, über die Kolonie zu sprechen: wir, die Bewohner des Mutterlandes, verfügen nicht über seine Erfahrung; wir müssen Afrikas brennende Erde durch seine Augen sehen, oder wir sehen dort nichts als Flammen. Leuten, die sich von solcher Erpressung einschüchtern lassen, empfehle ich, das Buch Der Kolonisator und der Kolonisierte zu lesen. Hier steht Erfahrung gegen Erfahrung: der Autor, ein Tunesier, hat in La Statue de sel (dt. Die Salzsäule) seine harte Jugend erzählt. Was ist er nun in Wahrheit? Kolonisator oder Kolonisierter? Er selbst würde sagen: weder das eine noch das andere; Sie vielleicht: sowohl das eine wie das andere; im Grunde kommt es auf dasselbe hinaus. Er gehört einer jener eingeborenen, aber nicht islamischen Gruppen an, die, »mehr oder minder begünstigt im Verhältnis zu den kolonisierten Massen … sich ausgeschlossen sehen … von der kolonisierenden Gruppe«, die ihren Bemühungen, sich in die europäische Gesellschaft zu integrieren, immerhin »nicht ablehnend gegenübersteht«. De facto mit dem Subproletariat solidarisch, durch magere Privilegien von ihm getrennt, befinden sich jene Individuen in einer permanenten Malaise. Memmi hat diese doppelte Solidarität und diese doppelte Zurückweisung erfahren: die Spannung, die die Kolonisatoren den Kolonisierten und die »sich selbst verneinenden Kolonisatoren« den »sich selbst bejahenden Kolonisatoren« entgegenstellt. Er hat sie so gut verstanden, weil er sie zuerst als seinen eigenen Widerspruch erfahren hat. Er zeigt in seinem Buch vortrefflich, dass diese seelischen Zerrissenheiten, bloße Verinnerlichungen der sozialen Konflikte, einen nicht zum Handeln disponieren. Derjenige aber, der darunter leidet, kann, wenn er sich seiner selbst bewusst wird, wenn er sein Komplizentum, seine Versuchungen und seine Ausgeschlossenheit erkennt, andere aufklären, indem er von sich selbst spricht: als »belangloser Faktor innerhalb der Konfrontierung« repräsentiert dieser Verdächtige niemanden; da er aber zugleich ist, was alle sind, spricht er als zuverlässiger Zeuge. Aber Memmis Buch erzählt nicht; wenn es sich von Erinnerungen nährt, so hat es sie ganz assimiliert; es ist formgewordene Erfahrung; zwischen der rassistischen Usurpation der Kolonisatoren und der künftigen Nation, die die Kolonisierten schaffen werden und von der »er vermutet, dass er in ihr keinen Platz haben wird«, versucht er, seine Partikularität zu leben, indem er sie in Richtung auf das Universale überschreitet. Nicht auf den Menschen, der noch nicht existiert, sondern auf eine strenge Vernunft hin, die sich für alle als zwingend erweist. Dieses nüchterne und klare Werk reiht sich ein unter die »leidenschaftlichen Geometrien«; seine ruhige Objektivität ist überwundenes Leiden und Aufbegehren. Deshalb wohl auch kann man ihm einen Anflug von Idealismus zum Vorwurf machen: gewiss wird alles gesagt, doch kann man die Reihenfolge bekritteln. So wäre es vielleicht besser gewesen, zu zeigen, wie der Kolonialist und sein Opfer gleichermaßen im Räderwerk des kolonialen Apparats stecken, jener schweren Maschine, die gegen Ende des Zweiten Kaiserreichs und in der Dritten Republik konstruiert wurde und sich nun, nachdem sie die Kolonialherren voll zufriedengestellt hat, gegen sie kehrt und sie zu zermalmen droht. Tatsächlich ist der Rassismus dem System immanent: die Kolonie verkauft Lebensmittel und Rohstoffe billig ans Mutterland und kauft dafür teure Fertigprodukte. Dieser sonderbare Handel ist nur dann für beide Teile profitabel, wenn der Eingeborene für nichts oder fast nichts arbeitet. Das ländliche Subproletariat kann nicht einmal auf die Benachteiligtesten unter den Europäern als Verbündete zählen: alle leben von ihm, selbst noch die »kleinen Kolonisatoren«, die, obwohl von den Großgrundbesitzern ausgebeutet, im Vergleich zu den Algeriern noch Privilegierte sind: das Durchschnittseinkommen der Algerienfranzosen ist zehnmal so groß wie das der Araber. Daher die Spannung. Damit Löhne und Lebenshaltungskosten möglichst niedrig bleiben, bedarf es einer heftigen Konkurrenz der eingeborenen Arbeiter untereinander, also einer Steigerung der Geburtenrate; da aber die Ressourcen des Landes durch die koloniale Usurpation begrenzt sind, sinkt bei gleichbleibenden Löhnen der Lebensstandard des Moslems unablässig, und die Bevölkerung lebt im Zustand permanenter Unterernährung. Die Eroberung geschah durch Gewalt; die Überausbeutung und die Unterdrückung erfordern die Aufrechterhaltung der Gewalt, also die Anwesenheit der Armee. Nun gäbe es da keinen Widerspruch, wenn überall auf der Welt der Terror herrschte: aber der Kolonisator erfreut sich drüben im Mutterland der demokratischen Rechte, die das Kolonialsystem den Kolonisierten verweigert: tatsächlich ist es das System, das das Anwachsen der Bevölkerung begünstigt, um den Preis der Arbeitskraft zu senken, und das System ist es auch, das die Assimilierung der Eingeborenen verbietet: hätten sie das Wahlrecht, würde ihre zahlenmäßige Überlegenheit das System augenblicklich sprengen. Der Kolonialismus verweigert die Menschenrechte Menschen, die er gewaltsam in Elend und Unwissenheit, also, wie Marx sagen würde, im Zustande des »Untermenschentums« hält. Den Fakten selbst, den Institutionen, der Art des Tausches und der Produktion ist der Rassismus immanent; der politische und der soziale Status stärken einander wechselseitig: da der Eingeborene ein Untermensch ist, betrifft die Erklärung der Menschenrechte ihn nicht; umgekehrt ist er, da er die Rechte nicht hat, schutzlos den unmenschlichen Kräften der Natur ausgesetzt, den »ehernen Gesetzen« der Wirtschaft. Der Rassismus ist bereits da, getragen von der kolonialistischen Praxis, in jedem Augenblick erzeugt durch den kolonialen Apparat und unterhalten durch Produktionsverhältnisse, die zwei Arten von Individuen unterscheiden: für die einen bilden das Privileg und das Menschsein eine Einheit; sie werden Menschen durch den freien Gebrauch ihrer Rechte; bei den anderen wird durch die Rechtlosigkeit ihr Elend, ihr chronischer Hunger, ihre Unwissenheit, kurz, das Untermenschentum sanktioniert. Ich habe immer gedacht, dass die Ideen sich in den Dingen abzeichnen und dass sie schon im Menschen sind, wenn er ihnen Form gibt, um sich seine Situation zu erklären. Der »Konservatismus« des Kolonisators, sein »Rassismus«, die ambivalenten Beziehungen zum Mutterland, all das ist im Voraus gegeben, schon ehe es sich im »Nero-Komplex« manifestiert. Memmi würde mir wahrscheinlich erwidern, er sage nichts anderes – das weiß ich*; im übrigen ist möglicherweise er es, der recht hat: indem er seine Ideen in der Reihenfolge ihrer Entdeckung, das heißt ausgehend von menschlichen Intentionen und gelebten Beziehungen darstellt, gewährleistet er die Authentizität seiner Erfahrungen: er hat zuerst in seinen Beziehungen zu den anderen, in seinen Beziehungen zu sich selbst gelitten; er ist, indem er den Widerspruch, der ihn zerriss, vertiefte, auf die objektive Struktur gestoßen; und er liefert sie uns ohne Zutaten, roh, noch ganz durchdrungen von seiner Subjektivität. Doch lassen wir die Krittelei. Das Werk etabliert einige zwingende Wahrheiten. Zunächst die, dass es weder gute noch böse Kolonisatoren gibt: es gibt Kolonisatoren. Einige von ihnen verneinen ihre objektive Realität: durch den kolonialen Apparat trainiert, führen sie täglich in der Tat aus, was sie im Traum verdammen, und jede ihrer Handlungen trägt dazu bei, die Unterdrückung aufrechtzuerhalten; sie werden nichts ändern, niemandem nutzen und in der Malaise moralischen Trost finden, das ist alles. Die anderen – und das ist die Mehrzahl – beginnen oder enden damit, sich selbst zu bejahen. Memmi hat die Folge der Schritte, die zur »Selbst-Absolution« führen, hervorragend beschrieben. Der Konservatismus hat die Auslese der Mittelmäßigen zur Folge. Wie kann sie ihre Privilegien begründen, diese ihrer Mittelmäßigkeit bewusste Elite von Usurpatoren? Einziges Mittel: den Kolonisierten erniedrigen, um sich selbst zu erhöhen; den Eingeborenen den Status von Menschen absprechen, sie als bloße Privationen definieren. Das wird nicht schwerfallen, da ja gerade das System ihnen alles vorenthält; die kolonialistische Praxis hat die koloniale Idee den Dingen selbst aufgeprägt; es ist der Lauf der Dinge, der zugleich den Kolonisator und den Kolonisierten hervorbringt. So rechtfertigt sich die Unterdrückung durch sich selbst: die Unterdrücker schaffen und erhalten mit Gewalt die Übel, die...