E-Book, Deutsch, 276 Seiten
Melle STADT OHNE GÖTTER
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-95765-798-5
Verlag: p.machinery
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine deutsche Geistergeschichte
E-Book, Deutsch, 276 Seiten
ISBN: 978-3-95765-798-5
Verlag: p.machinery
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Loki, der germanische Lügengott, kommt nach Jahren der Emigration zurück ins heutige Berlin. Er drängt den Göttervater Wodan, den Speer Gungnir zu werfen. Doch der alte Schlachtengott will nicht mehr. Er hockt auf einer Parkbank im Tiergarten und schaut der Welt beim Vergehen zu. Loki schaltet ihn aus.
Rasch findet der Lügengott neue Gefolgsleute. Mit einem blutigen Ritual reißt er den magischen Speer an sich. Aber um Gungnir zu aktivieren, braucht er jemanden aus der Blutlinie Wodans. Der letzte lebende Erbe, Tomas Weißgerber, Betreiber einer Espressobar, ahnt nichts von seinem Schicksal. Er versucht, damit klarzukommen, dass seine Tochter das Haus verlassen hat. Albträume eines Krieges, den er nie erlebt hat, füllen seine Nächte.
Er muss erfahren, dass sein Vater ihn sein Leben lang belogen hat. Der war keine Kriegswaise, sondern Sohn eines Nazi-Generals. Dessen Geist, seit Stalingrad verschollen, versucht Kontakt mit Tomas aufzunehmen. Er bittet um Vergebung.
Bald steht Tomas zwischen Göttern, Geistern und allen Fronten. Unterwirft er sich dem Willen Lokis, der ein Viertes Reich errichten will? Wirft er den Speer?
Die Zukunft steht auf dem Spiel.
Fritz Hendrick Melle wuchs in Chemnitz (von 1953 bis 1990 Karl-Marx-Stadt) auf. In Schwedt/Oder absolvierte er eine Ausbildung zum Papiermacher mit Abitur. Darauf arbeitete er eine Zeit als Totengräber auf einem evangelischen Kirchhof, als Anlagenfahrer und als Heizer.
Er studierte Theologie am Katechetischen Oberseminar in Naumburg (Saale), wurde aber nach vier Semestern exmatrikuliert.[1]
Bis zu seiner Ausreise nach West-Berlin im Dezember 1985 engagierte sich Melle im kreativen Untergrund der DDR, veröffentlichte u. a. in illegalen Zeitschriften, gründete das Musikprojekt 'Kriminelle Tanzkapelle' und arbeitete als Kinokartenabreißer. An der Berliner Universität der Künste studierte er Gesellschafts- und Kommunikationswissenschaften.
1990 veröffentlichte er mit 'Richtiges Leben' seinen ersten Roman bei Albrecht Knaus, München (Taschenbuch bei Goldmann) und wurde zum Ingeborg-Bachmann-Preis eingeladen. Er arbeitete als Redakteur bei verschiedenen Tageszeitungen und gründete 1993 die Werbeagentur Melle.Pufe und 1996 Melle.Pufe Online, die er 2001 verkaufte. 2004 fusionierte Melle die Agentur mit dorland und wurde er neben Stefan Hansen Geschäftsführer.
Unter seiner Führung als Chief Creative Officer entstanden unter anderem die Imagekampagnen 'Not for everybody' für die Parfüms von bruno banani und 'Berlin, du bist so wunderbar' für Berliner Pilsner, die auch das Ansehen Berlins wesentlich mitprägte.
2014 lösten Hansen und Melle dorland wieder aus dem Grey/WPP Network heraus[2] und integrierte diese in seine 2011 gemeinsam gegründete Beteiligungsgesellschaft Private Pier Industries.[3]
Im gleichen Jahr erschien der autobiographische Roman 'Die Amazone vom Kollwitzplatz', in dem sich Melle mit dem Themenkreis Beziehung und Krebs auseinandersetzt. In den Folgejahren wurde unter dem Dach von Private Pier Industries die Hundefutter-Marke Irish Pure, die Whiskey-Marke Grace O'Malley Whiskey und das Fashionlabel Lemanjá entwickelt und vertrieben. 2018 erschien 'Wurst' bei Schwarzkopf&Schwarzkopf in Berlin - ein Roman über den Ernährungswahnsinn, toxische Männlichkeit und die Lust an der Selbstzerstörung und das Hörbuch 'Ayahuasca - Tage der Wahrheit'.
Er lebt mit seiner Familie in Berlin.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1: Der Heimkehrer
Der ICE 841, aus Frankfurt kommend, fuhr in den Berliner Hauptbahnhof ein und kam quietschend zum Stehen. Die Türen öffneten sich mit scharfem Zischen. Der Duft der Stadt flutete den Zug: ein Gemisch aus Schmieröl, heißem Frittenfett, synthetischen Parfüms, frischen Laugenbrezeln und dem Geruch von Teenagerschweiß. Der Gast auf Sitz 74, Einzelsitz mit Tisch, sog den Duft tief in sich ein. Er mochte den Geruch; es roch billig und lebendig. Der Gast hatte eine mächtige Nase. Auf seltsame Weise harmonierte sie mit den eher weichen Gesichtszügen und dem sinnlichen Mund. Die Gesichtshaut war glatt, wie frisch rasiert. Vielleicht war es die Haut einer Frau, der ihr Schöpfer ein paar männlich-herbe Gesichtszüge mitgegeben hatte. Femininer Mann, maskuline Frau. Als der Gast Berlin zum letzten Mal besucht hatte, lag Brandgeruch und der süßliche Duft von Verwesung über der Stadt. Der Gast mochte Brandgeruch; es war der Geruch eines jeden dramatischen letzten Aktes der großen Alchemie, indem die Flammen das Edle vom Unedlen trennen. Auch dem Geruch von Verwesung war einiges abzugewinnen; wo den Göttern geopfert wird, fängt es früher oder später immer an zu stinken. Der Gast wollte nicht hetzen, war aber darauf erpicht, endlich auszusteigen. Draußen im frühen Abend der Stadt wartete das Glück auf ihn. Das Neue ist immer Glück, weil es neu ist. Es haftet ihm noch keine Spur von vergeblicher Mühe und Enttäuschung an; es will noch geformt werden. Er schaute auf seine Hände. Sie waren schlank, gepflegt und manikürt. Kräftig und sorgfältig falteten sie die Kopfhörer zusammen, um sie in dem kleinen Lederetui zu verstauen. Er hatte Bruckner gehört. Der Gast fand, dass Bruckner wunderbar zum Reisen mit der Bahn passte: das richtige Tempo, die angemessene Dramatik. Fürs Fliegen war das nichts. Nachdem die anderen Gäste der 1. Klasse bereits ausgestiegen waren, stand der Gast auf und warf sich seinen Reisemantel über. Es war ein knöchellanger, schwarzer Mantel aus dicht gewebtem Stoff mit einer einfachen Knopfleiste und großen Taschen auf beiden Seiten, die unter Schlitzen verborgen waren. Offenbar ein sakrales Kleidungsstück. Es hätte an jedem anderen theatralisch ausgesehen. Der Mann trug den Mantel mit Würde. Er war etwas über eins achtzig, schlank und von unbestimmtem Alter. Er konnte ein Manager sein oder ein diskreter Berater der Macht. Sein schwarzes, von grauen Strähnen durchzogenes Haar, trug er kurz. Er hatte tiefe Falten um die Augen. Ein nach innen gerichtetes Lächeln umspielte seine Lippen – es war Erinnerung und Vorfreude zugleich. Der Mann hatte während seines letzten Berlinaufenthaltes als Berater für den Zwerg gearbeitet. Als sein Auftraggeber immer beratungsresistenter wurde, von Osten der Geschützdonner nicht mehr zu überhören war und es in den Bunkern nach Scheiße, saurem Schweiß und Hoffnungslosigkeit stank, bestieg der Mann im Tiergarten eine Fieseler Storch und ließ sich in die Schweiz ausfliegen. Die Stadt hatte er nach der Flucht nur noch aus der Ferne beobachtet. Fliehen ist keine Schande, wusste der Mann, erwischt zu werden – schon. Er war geübt im Verschwinden und Wiederauferstehen. Dass es die Stadt noch gab, dem war Respekt zu zollen. Das war das Phänomen großer Opferplätze: Die Götter wechselten, der Platz blieb. Wann aus Erinnerung an große Opfer wieder Sehnsucht nach einem neuen Brand, einem neuen Blutbad wird, das wissen nur die Nornen, die blinden Weberinnen der Schicksalsfäden. Das braune und das blaue Auge des Mannes blitzten vor Unternehmungslust. Er wusste: Der rechte Zeitpunkt war jetzt. Ein junger Mann im schwarzen Anzug betrat den Wagen. Er war mittelgroß, bullig und trug einen Knopf im Ohr. Er schaute sich kurz um, trat dann auf den Mann zu. »Herr von Laufey?« Der Angesprochene nickte und deutete auf den großen, silbernen Rimowa-Koffer. Herr von Laufey verstaute das Kopfhöreretui in seiner ledernen Reisetasche, warf sich den Gurt über die Schulter und folgte dem Fahrer und seinem Koffer. Auf dem Bahnsteig wartete der Chauffeur, bis der Mann mit ihm auf gleicher Höhe war. Er wollte ein Gespräch beginnen, eine Beziehung aufbauen. Der Mann kam ihm zuvor. Er wies ihn an, den Koffer ins Hotel zu bringen, während er noch was zu erledigen habe. Dann war Laufey zwischen Wartenden und Ankommenden, zwischen Treppen und Ständen für Laugengebäck, italienisches Eis und Becherkaffee verschwunden. Während der Chauffeur sich noch suchend umschaute, ließ ein trockenes, metallisches Geräusch die Bahnhofshalle erzittern. Alle Blicke richteten sich nach oben. Ein gläsernes Segment hatte sich aus der Dachkonstruktion gelöst und segelte dem Boden entgegen. Es krachte auf einen Mast der Oberleitung, zersprang in tausend Splitter, die, scharf wie Skalpelle, Metalle durchschlugen, Scheiben zum Bersten brachten und sich in die Fliehenden und Schutzsuchenden bohrten. Hinter dem Taxi verhallten die Sirenen der Rettungswagen, die Richtung Bahnhof unterwegs waren, während Laufey sich im zerschlissenen Kunstleder des alten Mercedes rekelte. Wie es in dem Taxi duftete! Sein Geruchssinn durchquerte eine olfaktorische Landschaft epischen Ausmaßes: von den Gipfeln der Euphorie in die Täler der Depression, von »Obsession« zu »Döner mit alles«. Dazwischen lagen die Flüsse der Gier und die Ebenen der Traurigkeit sowie Trotz, Rotz und Verzweiflung. Nur große Städte haben diese aufregende Melange, dachte der Mann. Er hatte selbst nicht geahnt, wie sehr ihm dieser Duft gefehlt hatte. In der Schweiz roch es immer wie kurz nach dem Mittagessen – noch nach Sahnesoße, schon nach Kaffee und dazwischen wie frisch aufgestoßen. »Sind ‘se sich sicher, dass ‘se hier raus wollen?«, fragte der Taxifahrer. Der Wagen hatte auf Wunsch des Gastes am 17. Juni zwischen Entlastungsstraße und Großer Stern gehalten. Hier gab es absolut nichts, wofür es sich zu halten lohnte. Ein paar Autos standen am Seitenstreifen, eine Reihe mobile Reklametafeln, die auf ihren nächsten Einsatz warteten. Sie warben für eine Partei. Herr Laufey wusste, dass in wenigen Wochen in Berlin gewählt wurde. Die D.A.D., »Das Andere Deutschland«, rechnete sich beträchtliche Chancen aus, die stärkste Oppositionspartei zu werden. »Früher war nicht alles schlecht!«, stand auf den Werbetafeln. Das war raffiniert. Der Satz war in jede Richtung dehnbar. Er war ein Code. In den letzten Monaten hatten Anschläge auf die S-Bahn, Krawalle in der Rigaer Straße und eine neue Dealer-Schwemme für erhebliche Unruhe bei den stoischen Berlinern gesorgt. Früher hätte man so was weggeschlossen! Früher hätte man solche Leute auf der Flucht erschossen! Früher hätte man so was vergast! Früher hätte man denen Arbeiten beigebracht! FRÜHER WAR NICHT ALLES SCHLECHT! Der Mann wusste, was das bedeutete: Die Dinge kamen in Bewegung. Er wunderte sich nur, dass sich die DAD traute, ihre Wahlkampftafeln so ungeschützt stehen zu lassen. Aber dann verstand er – würden sie zerstört, wäre das weitere positive PR für das undemokratische Verhalten der politischen Gegner. Kluge Leute. Jenseits des 17. Juni war der Teil des Tierparks dafür berüchtigt, dass Gruppen von Säufern und Obdachlosen hier ihre Lager aufschlugen. Nutten und Stricher hatten sich schon lange andere Plätze gesucht und selbst Fahrradfahrer mieden den Park nach Anbruch der Dunkelheit. »Dit is hier keene unjefährliche Gejend!«, ergänzte der Taxifahrer. »Ick will ‘s nur jesacht haben.« »Alles in Ordnung.« Herr von Laufey zahlte mit einem Zwanziger und ließ den Rest als Trinkgeld auf der Mittelkonsole des Taxis liegen. »Einen schönen Abend Ihnen.« Beim Klang der sonoren Stimme des Gastes wurde dem Taxifahrer weich ums Herz. »Dit wünsch ick och, wünsch ick.« Stammelte der Kutscher. Aber da war der Mann mit dem Mantel schon im Schatten verschwunden. Den Bauch zu einer mächtigen Erhebung vorgestreckt, saß ein alter Mann mit weit über die Rückenlehne gelegten Armen auf seiner Bank. Seine Füße steckten in schwarzen, mit Klebeband zusammengehaltenen Schuhen. Er schaute auf den Jüngeren, der vor ihm stand. Ersterer trug verschiedene Hosen und Jacken übereinander. Die letzte Schicht bildete ein großer, grauer Mantel, der von einem Strick zusammengehalten wurde. Der Mantel war fleckig, zerrissen und es war ihm anzusehen, dass er stank. Auf dem Kopf thronte ein Filzhut, aus dem struppiges, graues Haar hervorschaute. Der größte Teil des Gesichts war unterm Bart verborgen. Was davon zu sehen war, war grindig und von Adern durchzogen. Die Nase war ein Kolben und das linke Auge lag in so tiefen Falten, dass mehr als ein Leben darin versteckt werden konnte. Das rechte Auge war unter einer Augenklappe verborgen, die in die Augenhöhle eingewachsen zu sein schien. »Nach all den Jahren …« Der Penner schaute Herrn von Laufey jetzt direkt an, »tauchst du hier einfach so auf, was?« Er begann zu lachen. Es war ein warmes, weiches Lachen und sein Auge blitzte dazu, dass sein ganzes Gesicht strahlte. »Und weißt du was? Ich freue mich! Nimm Platz.« »Danke. Ich freue mich auch.« Von Laufey setzte sich mit etwas Abstand neben den Alten, lehnte sich zurück und schlug entspannt ein Bein übers andere. »Nett hast du es hier.« Er blinzelte in die Abendsonne. »So wie du es schon immer am liebsten mochtest – wie ein Wind, der in jede Richtung weht, wie ein Säuseln, das aus...