E-Book, Deutsch, 416 Seiten
Meißner Nachkriegswelpen
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7526-9309-6
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Penzliner Werwolftragödie
E-Book, Deutsch, 416 Seiten
ISBN: 978-3-7526-9309-6
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Penzlin/Punschendörp, 1956 Das Mädchen Ruth beobachtet den jüngeren Till beim Fischen am Penzliner See und erzählt ihre Familiengeschichte, über die man zu Hause und überall in dem kleinen Ackerstädtchen einen Mantel des Schweigens legt. Ruths Bruder Rudi gehörte zu den minderjährigen Opfern der sogenannten Werwolftragödie, die sich in Mecklenburg-Vorpommern 1945/46 ereignete. Unter dem Vorwand der Planung terroristischer Akte und Spionage gegen sowjetische Truppen stellte der sowjetische Geheimdienst wahllos herausgegriffene Jugendliche vor ein Militärtribunal. Rudis erschütternde Aufzeichnungen werden, wie andere Zeugnisse Penzliner Leids aus dem Jahr 1945, von einem Buchhändler als wertvolles Erinnerungsgut in Obhut genommen. Als man Rudi aus dem Gefängnis in Bautzen entlässt, setzt sich das Unrecht in Penzlin fort, von dem Ruth berichtet. Sie beschreibt ihren abwesenden Bruder als Gespenst am Tisch der Familie und offenbart damit, dass sie selbst Betroffene der Werwolftragödie geworden ist.
Dirk Meißner, 1962 in Dessau geboren, ist als Kriegsenkel mit den Folgen des Zweiten Weltkriegs aufgewachsen. Mit seinen Romanen, zuletzt Lebensborn Pommern (2020), möchte er Geschichte erlebbar und fühlbar machen. Für die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, auch mit künstlerischen Mitteln, bemüht er die Metapher der Erforschung eines Brunnens, in dem der Reichtum tiefen Wissens ruht. Der Autor studierte Rechtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Von 1989-1991 arbeitete er als Redakteur bei der Tageszeitung 'Der Morgen'. Nach einer Laufbahn als Direktor einer Unternehmerbank wechselte er 2012 als Vertriebsleiter in ein Unternehmen der Erneuerbaren Energien.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
I.
Sommer 1956
Eine Pike spazierte durchs Schilf, vier Meter hoch, drei ineinander geschobene Bambusröhren, in Schwingung gebracht und außerordentlich biegsam. Den unteren Teil konnte man wie einen Spazierstock umfassen, der obere wippte und war dünn wie ein kleiner Finger. Ein Bändchen, blau mit gemusterten Zacken, flatterte an der Spitze im Wind und nahm den Tritt des Jungen auf, der diese forsch in den Himmel piksende Angel trug. Das lustige Bändchen straffte sich bei jedem energischen Schritt, ein Hingucker über dem träge winkenden Schilf. Vom Hügel lief ein Mädchen herbei, das hätte den Wimpelfetzen schon sehen können, aber den stolzen Träger der Stippangel noch nicht, einen zwölfjährigen Jungen. Das Schilfmeer verschluckte ihn ganz und gab nichts von ihm preis. Sie wollte zum See, sich eine Abkühlung verschaffen, und rannte nun den Hügel hinab. Sie sauste und brauste durch glühende Sommerluft, breitete die nackten Ärmchen aus, um zu fliegen. Ihr dunkles Haar flatterte, da sich das Zopfgeflecht löste. Ruth kribbelte es vor Freude im Bauch. Bienen, Hummeln und Käfer nahmen eilig Reißaus. Sie hätte jetzt ihren Penzliner, ihren großen See, umarmen und mit einem großen Schluck austrinken können. Ruth flog und als sie abhob, sah sie auf einmal den Wimpel genau, nur das gezackte Muster noch nicht. Sie sah ihn jetzt und nahm ihn zielsicher ins Visier. Der kleine Till mit seiner Standarte stapfte derweil über sumpfigen Grund am Ufer entlang. Der Weg war schmal, ein ausgetretener Pfad zu einer wilden Badestelle am See. Die musste er erst noch passieren, um an jenen geheimnisvollen Ort zu gelangen, wo er die Angel auswerfen wollte. Da hatte er vor ein paar Tagen jenen Mann gesehen, den Angler mit dem traurigen Blick, und sich gewundert, wie lange und oft der Mann da saß und fischte, tagelang offenbar, ohne je die Stelle zu wechseln und sicher, ohne etwas zu fangen. Das hatte Till nach einer Erfrischung im See, von wo er gut sehen konnte, und während er zurück ans Ufer schwamm, denn doch einmal sehr neugierig gemacht. Er erkundete nach jenem Bad uferseitig den Weg, um den Mann über sein Anglerglück auszufragen. Der zeigte nur auf den Eimer. Vorsichtig hatte sich Till genähert und den Deckel angehoben. Den skeptisch dreinblickenden Angler ließ er dabei nicht aus den Augen. Wie er dann in den Eimer geschaut hatte, glaubte er es nicht. Was für ein Fang! Und das Hochmittag und nicht des Nachts oder im Morgengrauen! Ein großer, dickbäuchiger Fisch im schuppigen Silberkostüm! Das strahlte hell, glänzte und schillerte in allen Regenbogenfarben. Was für ein Fang! Da war Till mit einem Mal klar geworden, an diese Stelle musste er hin, um auch einmal etwas Großes zu fangen. Bei der Großmutter, wo Till seine Ferien verbrachte, hatte er es dann auch feierlich angekündigt, nicht ohne den Fang schon auf ihren Speiseplan zu setzen. Das hatte Großmutter freilich sofort pariert: „Pass ma op, dat de groode Fisch di nich upfreten deit!“ Aus Mitteilungen Pastor Hendriks1 wusste der Angler, der häufig jene Stelle am Seeufer besuchte, dass man genau hier im Frühjahr 1945 die Schuhe und das zerrissene Kleid seiner Verlobten gefunden hatte. Sie war nicht wieder aufgetaucht und gehörte sicher zu denen, die man ohne Hinweis auf ihre Identität bestatten musste. Bestimmt waren es keine wilden Tiere, die ihr das Kleid aufgeschlitzt hatten, bevor sie sich ertränkte. Der Angler dachte über Gründe und menschliche Abgründe nach, tagelang und ohne zu einem befriedigenden Ergebnis zu kommen. Sie wollten sich für den Frieden aufsparen, so war es besprochen, und er sollte, das war seine Bedingung, wohlbehalten aus dem Krieg zurückkehren. Das Seewasser reichte hier tief und war trübe. Er wartete nach Auswerfen der Schnur auf ein Signal und auf eine Verbindung. Unendlich erschien ihm die Tiefe, unendlich und still wie der Tod. „Wenn ich mich mit der Angel nicht hielte“, dachte er, „zöge es mich hinab. Und ein Grund würde sich finden, mich an ihre Seite zu legen.“ Klara konnte nicht schwimmen und es gab kein Zurück, als sie den Boden unter den Füßen verlor. Manchmal träumte der Angler, sie sei immer noch hier. Überall. Seine Lippen bebten. „Sie tanzt mit dem Schilf im närrischen Wind und lernt mit den Fischen das Wasser zerteilen. Mit jeder Brise, die über den See streicht, kann ich ihren Atem spüren. Meine Angel ist eine Antenne, damit gehe ich auf Empfang.“ Vielleicht hatte der Fisch im Eimer, der den Jungen so elektrisierte, Klaras Verlobungsring verschluckt. In den Sagen gab es solche Geschichten. Der Angler wartete immer auf Zeichen, er suchte nach einem Sinn und nach haftfähigen Gründen für seine Gedanken. Oder gab es keine? Manchmal wollte alles so bedeutungslos und beliebig scheinen. „Ich schaue immer ganz genau hin, wenn ich einen Fang ausnehme.“ Er lief mit den Augen, die niemals müde wurden, übers Wasser, als könnte seine Klara da plötzlich wie eine Nymphe auftauchen und brummte im Selbstgespräch: „Vielleicht ist der Junge der Grund, weshalb ich mit Anglers Geduld, die keine Zeit kennt, hier sitze. Der sah beinahe so aus, als wollte er wiederkommen und seine eigene Schnur in die Tiefe abrollen.“ Hinter dem Haus gab es einen abschüssigen Garten, wo Till nach Würmern suchte, und einen Schuppen, ein ehemaliger Stall, in dem das Angelzeug lag. Es waren seine ersten Ferien in Penzlin, da man ihm die Benutzung all dessen ohne weitere Anleitung oder Begleitung durch einen Erwachsenen erlaubte. Man hätte die aus drei Teilen bestehende Stippangel bequem im Sack transportieren und am See montieren können. Aber das zog Till keinen Augenblick in Betracht, denn er wollte einen Umzug durchs Ackerstädtchen machen, um sich und allen anderen zu zeigen, dass er ausgezogen war, einen respektablen Fisch heimzubringen. Sie sollten alle dabei sein und sehen, dass er sich nicht zu klein dafür hielt. Während er die Rute zusammensteckte, mit dem Bändchen schmückte und das Marmeladenglas mit den kringelnden Tauwürmern in Großvaters lederne Schuhmachertasche legte, all die Hilfs- und Reservemittel eines Anglers, sogar einen Kescher zur Hebung des schwergewichtigen Fangs, sah er sich die Angel im Soldatenschritt durchs Städtchen präsentieren und die Leute erstaunen, winken und rufen „Hoch lebe er! Hoch!“. Und dabei schauderte es Till, denn ihm und allen anderen war klar, dass damit keine gewöhnliche Plötze oder ein grätiger Barsch zum Verfüttern an Nachbars Hühner gemeint war. Deshalb beeilte er sich, nahm noch einen Löffel von Großmutters Grütze und überflog zuletzt, ob er an alles gedacht. Der Riemen an der Schuhmachertasche ließ sich nicht ohne weiteres kürzen und er behalf sich mit einem einfachen Knoten. Aus dem Vorhaben, dachte er, wird nichts ohne den richtigen Vorsatz, ohne wirklichen Glauben. Till stellte deswegen die Tasche auf dem Flur noch einmal ab und legte die Angel daneben. Er erinnerte sich an das in Leder geschlagene Büchlein in der Vordertasche mit vielen Abbildungen von Fischen. Ihm fehlte ein Zeichen, ein Ritual, denn er war drauf und dran, in Kontakt mit dem Fisch zu treten, den er heute fangen wollte. Der mochte schon gierig auf seine Tauwürmer warten. Er sah sich die mit Bleistift gezeichneten Fische im Büchlein nun sehr genau an. Auf den ersten Seiten dieser merkwürdigen Post wimmelte es nur so davon. Die waren ja alle mit der Hand gezeichnet! Till fand sogar den Bleistift, der einst als Werkzeug gedient hatte. Das war sehr interessant. Aber seine Enttäuschung wuchs, als er in den Fischköpfen menschliche Gesichter erkannte. Es handelte sich nicht um Anschauungsmaterial für Fischer und das Büchlein enthielt auch keine Zaubersprüche zur Beschwörung des Anglerglücks. Es blieb Till ein Rätsel, was der Stift nach zahllosen Skizzen auf den ersten Seiten in endloser Buchstabenfolge ausgespuckt hatte. Denn diese Mitteilungen in winziger Schrift, vermutlich um Papier zu sparen, konnte er beim besten Willen nicht lesen. Nur die Überschrift entzifferte er: „Eine Werwolftragödie“. Ein Fall für den Buchhändler, dachte er. Der fragt doch immer nach so seltsamen Sachen, alten Briefen und Büchern. Also musste sich Till selbst einen Zauberspruch ausdenken. Leise murmelte er etwas Unsinniges, denn eigentlich hatte er dem Fisch nichts zu sagen, außer vielleicht: „Goden Appetit man ook.“ Schnell stieg er die Hirtenstraße hinauf, überquerte die von Großmutter Chaussee genannte Große Straße und strich an der Bäckerei Wagner in der Turmstraße vorbei. Da hätten sie ihm aus dem offenen Fenster im Obergeschoß eine Brezel anhängen können, als er dort mit der Angel kurz hielt, um die große Ledertasche auf die andere Seite zu hieven. Es war zu heiß in Penzlin, keiner stand heute Spalier. Nur vor dem Buchladen blinzelte und rekelte sich, an einen Türpfosten...