E-Book, Deutsch, Band 2, 224 Seiten
Reihe: Assessor Georg Hiebler
Meining Würzburger Dynamit
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-8392-7690-7
Verlag: Gmeiner-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Historischer Kriminalroman
E-Book, Deutsch, Band 2, 224 Seiten
Reihe: Assessor Georg Hiebler
ISBN: 978-3-8392-7690-7
Verlag: Gmeiner-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Im Sommer 1888: Während der Hundertjahrfeier König Ludwigs I. explodiert eine Bombe. Rasch wird ein Attentat auf die königliche Familie vermutet. Die Spur führt nach Würzburg zu einer Anarchistengruppe. Georg Hiebler aus dem Innenministerium übernimmt gemeinsam mit seinem Kollegen Iannis Krieger sowie Friedhelm Deschel von der Würzburger Gendarmerie die Ermittlungen. Der Fall scheint schnell gelöst, doch dann besucht der Prinzregent die Residenzstadt am Main, und der eigentliche Attentäter erwartet ihn bereits.
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Kapitel 1
Georg Hiebler hasste solche Tage. An einem normalen Werktag an der Straße stehen und auf Ereignisse zu warten, die weder lustig noch aufregend waren. Was für ein Unsinn! Mochten die anderen Menschen hier an der Ludwigstraße, im Herzen Münchens, stehen und ihren Spaß haben. Für Hiebler war das alles nur vergeudete Zeit. Viel lieber wäre er in seiner Schreibstube im vierten Stock des Innenministeriums gesessen und hätte Akten gewälzt. Aber nein, der Herr Minister Freiherr von Feilitzsch wollte es so: Jeder Mitarbeiter – vom Assessor bis zum Laufburschen – musste als Teil einer Feierkulisse herhalten. Für viele der Beschäftigten war es eine Belohnung, auf Geheiß des Ministers Akten und Schreibtische zu verlassen. Für Hiebler war es eine Strafe. Was sollte das überhaupt für eine Feier sein? Ein Centenar? Am 31. Juli 1888 den 100. Geburtstag von König Ludwig I. zu feiern? Hiebler war es fremd, gegen die Monarchie zu hetzen. Im Gegensatz zu den Anhängern der republikanischen oder sozialdemokratischen Bewegungen, die immer mehr Sympathisanten im Deutschen Reich fanden, war Hiebler ein treuer Staatsdiener – ein Beamter des Prinzregenten Luitpold von Bayern. Aber dennoch fragte er sich, was es wohl bringen sollte, den Geburtstag einer Person zu feiern, die seit 20 Jahren tot und seit 40 Jahren kein König mehr war? Eine Vergeudung von Zeit und Ressourcen, sonst nichts. Stumm schüttelte er den Kopf und blickte sich um. Er selbst stand mit den anderen Angestellten und Mitarbeitern des Innenministeriums auf der Ludwigstraße. Stadteinwärts, unmittelbar vor dem Hofgarten der Residenz, waren zwei Tribünen mit Sitzplätzen aufgebaut. Auf der ersten Tribüne saßen die Honoratioren der Stadt – einflussreiche Geschäftsleute, Vertreter der Kirche, der Bürgermeister sowie einige Parlamentsabgeordnete. Die zweite Tribüne war die Loge des königlichen Hofes. Hier hatte der Prinzregent, ein Großteil der königlichen Familie, mehrere Kabinettsmitglieder sowie die Leibgarde Seiner Majestät Platz genommen. Am Straßenrand gingen Gendarmen auf und ab, um für Ordnung zu sorgen und den wenigen Platz zwischen Publikum und Festzug freizuhalten. Direkt vor der Tribüne des Prinzregenten hatten sich zwei Fotografen postiert, welche ihre Köpfe unter schwarzen Tüchern begruben und die schweren Holzkästen abwechselnd in Richtung der Ehrengäste oder des Festzuges ausrichteten. Die Ludwigstraße weiter stadtauswärts in Richtung Siegestor standen dicht an dicht gedrängt zugereiste Gäste und Bürger der Stadt München. All die, welche schon frühmorgens vor Ort waren, hatten einen Platz in der vorderen Reihe oder auf der anderen Straßenseite auf Höhe der Tribünen. Viele der Anwesenden trugen ihre Festtagstracht oder Sonntagskleidung. Die Damen hatten vereinzelt einen Schirm dabei, den sie bei unbeständigem Sommerwetter sowohl als Regen- als auch als Sonnenschutz nutzen konnten. Die Stimmung war heiter und festlich zugleich. Gegenüber der beiden Tribünen, auf der anderen Straßenseite, um das Reiterdenkmal von Ludwig I. gruppiert, sah Hiebler eine Gruppe Männer mit schmutziger Kleidung und unrasierten Gesichtern, die so gar nicht in das Gesamtbild der feiernden Bevölkerung passen wollten. Hiebler hob kurz die Achseln und spitzte die Lippen. Denen geht es wohl ähnlich wie mir, dachte er. Trotz Anwesenheit kein Interesse an dem Umzug. Nur, dass ich wenigstens nach außen hin in der Lage bin, Haltung und Contenance zu bewahren, statt mich mit schmutziger Kleidung im Blickfeld des Prinzregenten zu positionieren. Als ob die Männer seine Gedanken hätten lesen können, verließ in dem gleichen Moment die gesamte Gruppe ihren Platz direkt gegenüber der Hofloge und verschwand in Richtung Briennerstraße. Unter den Männern war eine kleinere, etwas untersetzt wirkende Person mit Halbglatze, die im Gegensatz zu den anderen gepflegt und dem Anlass entsprechend gekleidet war. Der Mann erinnerte Hiebler an Severin Knoll, den Fotografen, den er während seines Aufenthaltes in Würzburg kennengelernt hatte. Knoll wird wohl kaum den weiten Weg von Würzburg nach München zur Centenarfeier gekommen sein, um dann plötzlich mitten während des Festzuges aufzubrechen, dachte er sich. Hiebler kramte seine Taschenuhr aus der Westentasche und schaute auf die Uhrzeit. Er hatte nun schon fast zwei Stunden stehend am Straßenrand verbracht. Der Festumzug hatte etwa eine Stunde zuvor begonnen. Im Wechsel mit diversen Blaskapellen zogen die Bäcker, die Müller, die Schäffler und die Metzger an ihm vorbei. Sämtliche Berufsgruppen und Vereine der Stadt München nahmen teil. Es war immer das gleiche Winken der Zugteilnehmer in die Menge, die gleichen Musikstücke der Kapellen und der gleiche Applaus der Zuschauer. Am Ende kam das Defilee der jeweiligen Gruppen vor dem Prinzregenten, bis sie über den Odeonsplatz vorbei links abbogen und in Richtung Hofgarten verschwanden. Hiebler musste jetzt an den Faschingsumzug denken, den er im Februar unfreiwillig in Würzburg erleben durfte. Auch dort fand er die aufgesetzte Heiterkeit und den Lärm nur lästig. Dass die Menschen nicht ihrer normalen Tätigkeit nachgehen oder sich an stillen und einfachen Dingen erfreuen können? Muss es denn immer laut, bunt und nervig sein, fragte er sich, klappte den Deckel seiner Uhr zu und steckte das Erbstück wieder in die Westentasche. Was meinte der Minister?, grübelte Hiebler. Bis 13 Uhr dauert der Umzug. Jetzt ist 12.55 Uhr. Am Ende des Zuges tritt noch die Vereinigung der Münchner Kauf- und Handelsleute auf, bis die Veranstaltung durch den Salut der Böllerschützen beendet wird. Dann ist Schluss – endlich! Er lupfte kurz den Hut, kramte aus seiner Hosentasche ein Taschentuch hervor und wischte sich ein paar Schweißtropfen von der Stirn. Dann fuhr er sich durch die Haare, um akkurat den Scheitel von rechts nach links zu ziehen – so, wie er es gewohnt war. Anschließend strich er mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand von der Mitte über seiner Lippe ausgehend nach beiden Seiten den Schnurrbart glatt. »Noch fünf Minuten, dann ist Schluss«, murmelte er leise vor sich hin, gefolgt von einem tiefen Seufzer. Plötzlich nahm er von der Ferne ein Raunen wahr, das sich immer weiter in seine Richtung ausbreitete. »Schau, Valentin!«, rief unvermittelt eine junge Dame neben Hiebler. Sie trug ein weißes Sommerkleid und einen ausladenden Hut mit Blumenstickereien. »Schau, da vorne!«, rief sie erneut zu ihrem Begleiter, hielt sich mit der Hand den Hut fest und hüpfte juchzend auf und ab. Valentin war ein Arbeitskollege Hieblers. Die Dame musste dessen Verlobte oder Gattin sein. Hiebler drehte sich kurz zu den beiden hin und sah sie breit grinsend in Richtung der nächsten vorbeiziehenden Gruppe blicken. Etwas genervt folgte er dem Blick des jungen Paares. Weniger amüsiert als eher verwundert sah er in der Ferne eine Art Karawane in seine Richtung ziehend. Statt Blasmusik hörte Hiebler jetzt fremdländische, orientalisch anmutende Klänge. Der Gruppe voran gingen Männer mit buntglänzenden Umhängen, Turbanen auf dem Kopf und braun geschminkten Gesichtern. Darunter spielte einer ein Instrument, das vom Aussehen und Klang einer Klarinette ähnelte. Ein seltsames Gequietsche mit einer immer wiederkehrenden Melodie aus wenigen Tönen kam aus dem fremden Instrument. Hinter den Männern trotteten gemächlich mehrere Elefanten. Auf dem Hals von drei der Tiere, sich an deren gigantischen Ohren festhaltend, saß jeweils ein Mann in gleicher Aufmachung wie die vorwegziehenden Personen. »Das sind … das sind Elefanten. Schau, Valentin, echte Elefanten! Hier in München«, gluckste die junge Dame fröhlich neben Hiebler. Hiebler starrte jetzt selbst auf die riesigen Tiere, die mit gesenkten Köpfen gemächlich marschierten. Es waren insgesamt acht Exemplare. Vorneweg ging ein Bulle mit langen weißen Stoßzähnen. Es war das größte lebende Tier, das Hiebler jemals gesehen hatte. Der Rüssel des grauen Riesen hing bis zum Boden hinab, die Ohren bewegten sich wie große Fächer langsam im Rhythmus der Schritte. Seine im Vergleich zum gigantischen Kopf winzigen Augen ruhten mit Blick auf dem Boden. Alles Treiben um ihn herum schien dem Tier egal zu sein. Der Bulle strahlte Ruhe und Gelassenheit aus. Er wurde mit lockerem Zügel von einem verkleideten Dompteur oder Tierpfleger geführt. Neben dem Bullen ging eine Elefantenkuh, auf der ein weiterer Dompteur saß. In Zweierreihen dahinter folgten die anderen Tiere. Alle hatten Ketten zwischen den Vorder- und den Hinterbeinen. Hiebler wunderte sich, warum Tiere, die auf ihn friedvoller als eine Herde Schafe wirkten, Ketten tragen mussten. Mit etwas Abstand zu den Elefanten und deren orientalisch gekleideten Wärtern rollte mit gleichmäßig tuckerndem Motor und qualmendem Schornstein eine etwa vier Meter lange Straßenlokomotive hinterher. Die Lokomotive war mit bunten Stoffbahnen geschmückt. Links und rechts war jeweils ein Banner angebracht mit der Aufschrift »Verein der Kauf- und Handelsleute München«. Das Publikum um Hiebler winkte den maskierten Männern und den Tieren zu, als diese an ihnen vorbeimarschierten. Es waren nur drei bis vier Meter Abstand von Hiebler zu den Kolossen. Er sah die tiefen Falten in der grauen Haut der Tiere und die spärliche schwarze Behaarung am Rumpf. Hiebler bewunderte, wie sich solche Kolosse scheinbar mühelos fortbewegen konnten. Ein einzelnes Bein des Bullen an der Spitze war in etwa so lang und breit wie ein erwachsener Mensch, dennoch wirkte die Bewegung insgesamt leicht und nahezu...