Meinhof | Die Würde des Menschen ist antastbar | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 192 Seiten

Meinhof Die Würde des Menschen ist antastbar

Aufsätze und Polemiken
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-8031-4323-5
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Aufsätze und Polemiken

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

ISBN: 978-3-8031-4323-5
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die wichtigsten Texte Ulrike Meinhofs sind ein Beispiel von entschiedenem Journalismus, der nicht vor den Höhen der Macht skandiert, sondern den politischen Widerspruch aufzufinden
versteht, und zugleich ein Abriss deutscher Nachkriegsgeschichte: Sie analysieren die Unfähigkeit der Verarbeitung des Nazismus und die eilige Rekonstruktion der Macht, sie beschreiben
das Verkümmern der Demokratie am Fall des Einzelnen – seine Würde wird antastbar.

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Der Friede macht Geschichte
Zwei Ereignisse des Monats September haben die Bevölkerung unseres Planeten in atemberaubende Spannung versetzt, haben auf dem Feld wissenschaftlicher und politischer Bemühungen Perspektiven eröffnet, deren eine der Menschheit bisher nur im Traum erschienen, deren andere den Menschen bis vor kurzem als Illusion im Gewand der Hoffnungslosigkeit vorgekommen war. Es ist gelungen, ein von Menschenhand gemachtes Ding auf den Mond zu schießen, und es ist gelungen, das Startzeichen für eine neue Konzeption internationaler Verhandlungen über die Fragen von Entspannung, Frieden und Koexistenz in breitester Front von Camp David aus abzugeben. Und wenn sich Adenauer von der sowjetischen Mondrakete nicht imponieren lassen will, so stellt er nur einmal mehr die spießbürgerliche Mediokrität seiner politischen Intentionen unter Beweis, und auch die Reise des Herrn Strauß nach Kanada zum Zweck des Studiums von Waffen der Luftverteidigung und von Verhandlungen über eine rüstungswirtschaftliche Zusammenarbeit erscheint nur noch als hilfloses Störmanöver am Rande der Weltpolitik, konnte nur noch als taktlos empfunden werden. Chruschtschow reiste nach Amerika. Der Ministerpräsident und Erste Sekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion war Gast in der Hochburg des kapitalistischen Westens, dem Ursprungsland des McCarthysmus. Einen ersten Begriff für die Bedeutung dieses Besuches wird man kaum anders gewinnen können, als aus der Konfrontation mit historisch gewordenen Leitbildern der Ost-West-Politik, von denen sich diese Reise mit der Wende, die sie auf höchster Ebene eingeleitet hat, abhebt: Konnte man noch bis vor kurzem in den Veröffentlichungen des Foreign Office ebenso wie in den Spalten des Rheinischen Merkur den innenpolitischen Gegner als »Ko-Existenzler« entlarvt sehen, so bewarben sich jetzt während der Reise Chruschtschows durch Amerika die Staatsmänner dieses Landes um das Monopol jener Ideen der ehemals Beschimpften, wetteiferten mit Chruschtschow um die Glaubwürdigkeit bei der Proklamation eines Gedankengutes, dessen Realisierung die Möglichkeit eines Krieges endgültig ausschalten wird, dessen Verkündung der Ära des Kalten Krieges den Gnadenstoß versetzt hat. Weiter: Das Gefühl des Gruselns, das manch einem Amerikaner noch gekommen sein mag, als er den Chef des Kreml leibhaftig erblickte, schlug um im Verlauf von wenigen Tagen in den jubelnden Applaus für den Staatsmann eines anderen mächtigen Landes, mit dem man sich eingelassen hat, weil die Entscheidung gegen den Krieg, für Koexistenz gefallen ist. Der Gegner wurde zum Partner; die Einsicht, daß es besser ist, miteinander zu leben, will man überleben, ist durchgebrochen; der Wille zur Verhinderung des Krieges hat gesiegt über den Unwillen gegenüber der Weltanschauung des Kommunisten. Chruschtschow hat sich bemüht, dem amerikanischen Volk und seinen Politikern deutlich zu machen, daß die Sowjetunion den Abbau des Kalten Krieges ernstlich wünscht, und ist schließlich auf Verständnis und Sympathie gestoßen. Daß er dabei von realen Interessen wirtschaftlicher und politischer Art geleitet war, das gibt seinen teils freundlichen, teils unwirschen Reden die Basis, hebt sie aus dem Bereich der Willkür auf die Ebene der Notwendigkeit, entzieht etwaigen Befürchtungen vor Vertragsbrüchen und Aggressionsmanövern den Boden. Eisenhower ist es gelungen, die innenpolitischen Querulanten zum Schweigen zu bringen, und er hat seinen Gast empfangen wie einen Freund, mit dem es eine gemeinsame Aufgabe zu lösen gilt. Am Beispiel der Gespräche in Camp David hat er die Wende der amerikanischen Politik demonstriert, dem Willen für Frieden, Entspannung und Koexistenz im eigenen Land zum Durchbruch verholfen. Wichtiger noch als dieser Wandel der politischen Leitgedanken sind die Verhandlungsgegenstände von Camp David, Vorschläge und faktischen Zugeständnisse, die beim Besuch Chruschtschows in Amerika zur Sprache kamen und ausgehandelt wurden. Chruschtschow eröffnete das Gespräch, als er vom Rednerpult der UNO-Vollversammlung herab seinen sensationellen Vorschlag zu einer allgemeinen, kontrollierten Abrüstung vortrug, der geeignet wäre, das Spiel mit dem Weltbrand endgültig und für immer auszuschalten. Vor dem gleichen Forum und vom gleichen Podium aus hatte ein Jahr zuvor John Foster Dulles den militärischen Aufmarsch der USA im Vorderen Orient zu rechtfertigen gewagt, hatte die berühmte Anklage der »indirekten Aggression« vor diesem juristischen Welttribunal erhoben. Wo die UNO noch vor einem Jahr zu Gericht saß über Brandstifter und Kriegsstrategen, wurde sie im September 1959 zum Diskussionsplenum für den umfassendsten und endgültigsten Friedensplan, der seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, der überhaupt je ausgedacht wurde. Fast schüchtern nimmt sich daneben der Dreistufenplan des britischen Außenministers Selwyn Lloyd aus, der doch die gleiche Richtung meint und jene Stationen bezeichnet, die durchlaufen werden müßten, soll Chruschtschows gigantisches Projekt verwirklicht werden: Einstellung der Atomwaffenversuche, Beendigung der Produktion von Kernwaffen, Umwandlung der vorhandenen Atombombenvorräte für friedliche Zwecke, Reduzierung der herkömmlichen Waffen, Einrichtung eines Inspektionssystems zur Sicherung gegen Überraschungsangriffe, internationale Kontrolle der Militärhaushalte. Der Plan Großbritanniens, der Abrüstungsvorschlag Chruschtschows und die, wenn auch zurückhaltende, so doch wohlwollende Resonanz, die beide Entwürfe in amerikanischen Regierungskreisen fanden, sind ein Erfolg für jene, die zu Hunderttausenden und Millionen seit Jahren diese Forderungen vertreten, sind Zeugnis dafür, daß Zahl und Einfluß derer, die sich an schlammichte Rüstungsprofite klammern und den eigenen Konkurs zum Untergang der Welt proklamieren oder gar gestalten wollen, geringer ist, als der Lebenswille der Völker im kapitalistischen ebenso wie im kommunistischen Machtbereich. Der Vorschlag Chruschtschows mutet nur denjenigen phantastisch an, der nicht bereit ist, seine ausgesprochenen und unausgesprochenen Details zur Kenntnis zu nehmen und ihn damit auf eine Stufe mit Adenauers Parole von der »allgemeinen, kontrollierten Abrüstung« stellt, die noch nie präzisiert und bislang nur bei der Ablehnung von Teilabrüstungsvorschlägen als Alternativforderung vorgetragen wurde. Allgemeine kontrollierte Abrüstung, wie sie jetzt durch Chruschtschow in die Debatte geworfen wurde, ist keine Alternative zum Rapacki-Plan und ähnlichen Entwürfen, sondern die Perspektive, das Ziel dieser Einzelvorschläge, in das sie schließlich zum Zwecke der Befriedung unserer Erde einmünden sollen. Joachim Besser, der mit seinen Kommentaren in der »Welt« zu Chruschtschows Reise gründlich bewies, daß er den Nikita nicht leiden kann, gibt die Antwort, die einzig realistisch und einzig anständig ist: »Es liegt jetzt an den Staatsmännern des Westens, Chruschtschow auf die Probe zu stellen.« Wurde in Genf dem Dulles-Kurs endgültig abgeschworen, so hat sich im Weißen Haus eine Alternativkonzeption durchgesetzt, deren Umrisse aus den Camp-David-Gesprächen und den nachfolgenden Pressekonferenzen in Washington und Moskau schon heute klar erkennbar sind. Neben der Hauptforderung nach einer globalen Abrüstung stehen Detailfragen, deren Kristallisationspunkt nach wie vor das Aufmarschfeld der großen Antipoden ist: der Raum Mitteleuropa, der Krisenherd Deutschland, der Angelpunkt einer neuen Phase internationaler Politik – Berlin. Verhandlungen über einen Friedensvertrag mit Deutschland sind in greifbare Nähe gerückt, wobei die DDR als eigenes Staatswesen mit eigenen Interessen voll anerkannt wird, die Gespräche über Berlin haben eine gemeinsame Voraussetzung gefunden, indem nun auch Eisenhower wörtlich erklärte, die Lage dieser Stadt sei »unnormal«, und zugleich eine Lösung nicht länger vom Verbleiben alliierter Truppen in Berlin abhängig machte. Auf dem Sektor von Handel und Wissenschaft wurden bereits konkrete Abkommen angebahnt, die nur noch formuliert und unterzeichnet werden müssen. Embargobestimmungen sollen aufgehoben werden, die wissenschaftliche Zusammenarbeit einschließlich der Atomforschung soll intensiviert werden. Wirtschaft und Wissenschaft aber sind bekanntlich nicht geringe Triebkräfte im Rücken politischen Handelns, sind nicht selten Wegbereiter und Motor zugleich, sind in der gegenwärtigen Phase der Ost-West-Verhandlungen Brücken der Verständigung. Es gibt kein Berlin-Ultimatum mehr, der Weg ist frei für einen Friedensvertrag mit Deutschland, die Zeichen der Zeit stehen auf Abrüstung, global und territorial beschränkt, atomar und konventionell, weltweit und an jedem Ort. Daß der quengelnde Bündnisbruder in Bonn, dessen politischer Sprachschatz in der Ära Dulles erworben und entsprechend beschränkt ist, in Gestalt von Nachhilfestunden darüber aufgeklärt werden mußte, daß die Berliner trotz allem frei bleiben würden, und daß ein Friedensvertrag der Sowjetunion mit der DDR für die USA nicht verbindlich, ein Friedensvertrag der vier Siegermächte mit Deutschland allerdings durchaus verbindlich sein werde, brachte nur noch den alten Jargon zum Vorschein, der das Vergangene nicht zu bannen, die Kalten Krieger höchstens im Föhn der Entwicklung noch ein wenig zu trösten vermag. Man hat sich in Bonn redlich bemüht, um aufzuhalten, was nicht aufzuhalten ist, um retardierende Momente einzubauen, wo nach allen Regeln der Kunst sie keinen Platz und keine Wirkung mehr haben. So passierten das Gezänk Adenauers um die englischen Disengagementpläne und um Rapackis Entwurf einer kernwaffenfreien Zone in Mitteleuropa, die Reise von Strauß nach Kanada und die...


Ulrike Marie Meinhof wurde 1934 in Oldenburg geboren. Von 1959 bis 1969 war sie Mitarbeiterin bei der Zeitschrift konkret. 1970 ging sie in den Untergrund, wurde 1972 verhaftet und starb 1976 im Gefängnis in Stammheim.



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