E-Book, Deutsch, 432 Seiten
Meier NOW Du bestimmst, wer überlebt.
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-641-20045-9
Verlag: Penguin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Thriller
E-Book, Deutsch, 432 Seiten
ISBN: 978-3-641-20045-9
Verlag: Penguin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Stephan R. Meier, geboren 1958, hat in der Schweiz studiert und in China, Frankreich, Italien, Spanien, Thailand und den USA als Hotelier gearbeitet. Neben dem Thriller »NOW« veröffentlichte er zwei biografische Sachbücher, darunter eines über seinen Vater Richard Meier, der in den Siebzigerjahren Leiter des Bundesamts für Verfassungsschutz war. In »44 TAGE« verarbeitete er sein exklusives Insiderwissen über den Höhepunkt der RAF-Zeit zu einem großen Politthriller.
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PROLOG
In der Wildnis, dreißig Jahre nach NOW
Grimmig umklammert er die alte Jagdbüchse, die ihm wie ein Relikt aus einer fernen Vergangenheit erscheint. Er atmet flach, konzentriert. Seit Stunden schon liegt er auf der Lauer, späht angestrengt über den rostigen Lauf der Waffe auf die Ebene vor ihm. Er kann sein Glück kaum fassen. Die beiden kapitalen Hasen grasen friedlich nebeneinander, keine dreißig Meter vor ihm im rot-goldenen Licht des Spätherbstes. Der Wind steht günstig, sie können ihn nicht riechen. Er verharrt starr, um ja kein Geräusch zu machen. Es sind dicke, fette Tiere. Ein Pärchen, wie er vermutet. Er peilt über den Lauf; aus seiner Perspektive sehen sie riesig aus.
Töten ist ihm zuwider. Aber er muss essen. Hunger und Not stumpfen ab. In seiner Lage kann er sich kein Mitleid mit den unschuldigen Kreaturen leisten.
Die Zeit verrinnt. Er wartet bewegungslos und beobachtet. Er darf keinen Fehler machen. Sein linker Arm, der den Lauf hält, ist ein einziger Krampf. Die rechte Hand umklammert den Kolben aus geschliffenem Holz, der Zeigefinger liegt schussbereit am Abzug. Zwei Schrotpatronen sind alles, was er noch hat. In einem günstigen Moment kann er beide Tiere mit einem einzigen Schuss erwischen.
Der Boden unter ihm wird immer kälter. Sein Nacken schmerzt, und sein Rücken wird auf Höhe der Lenden schon gefühllos. Er spürt, wie immer mehr Ameisen in seine Stiefel kriechen. Sie beißen ihn. Er versucht sie zu zerquetschen, indem er die Zehen aneinanderreibt.
Feiner Nebel steigt in der Ebene vor ihm auf. Der Wald hinter ihm wird immer dunkler, das Licht auf der Ebene mit jeder Minute rötlicher. Plötzlich hoppelt der eine Hase ein Stück weg vom anderen. Zu weit, um sie mit einer Patrone zu kriegen. Wie lange wird er noch warten können?
Vorsichtig, in Zeitlupe, löst er die Hand vom Abzug. Ein Schweißtropfen hat sich in seiner Augenbraue gesammelt. Er wischt ihn weg, gerade noch rechtzeitig, bevor die salzige Lösung sein Zielauge blind macht. Dann streicht er sich die zotteligen, viel zu lang gewordenen Haare aus der Stirn.
Jetzt folgt der zweite Hase dem anderen. Gemächlich hüpft er immer weiter nach rechts, macht einen Kreis, hält an und bewegt sich dann weiter. Mit einem Mal ist er ganz nahe beim anderen. Darauf hat er lange gewartet. Plötzlich streckt der große Hase den Rücken, sein Kopf kommt hoch, die Ohren stehen steil nach oben. Seine Nase zittert, und die feinen Haare flirren im dunstig-rötlichen Gegenlicht. Er wittert. Ihn?
Jetzt sind beide fast genau in einer Linie vor ihm. Endlich kann er es riskieren. Seine Hand kriecht in Zeitlupe wieder um den Kolben, schmiegt sich um das Holz, und sein Zeigefinger tastet nach dem Abzugshebel. Leicht drückt er gegen das kalte Metall, spürt den Widerstand der Feder. Er spannt alle Muskeln an. Dann atmet er aus. Wie ein Schraubstock hält er die Waffe in Position und zieht mit einem Ruck bis zum Anschlag durch. Er spürt den Hammer vorschnellen, spürt, wie er die Sprengkapsel trifft, und hört, wie sie explodiert. Ein scharfer Knall ertönt. Er sieht durch die Schmauchwolke hindurch über den Lauf hinweg, wie die beiden Tiere durch die Luft gewirbelt werden.
Er lässt das Gewehr sinken, stöhnt vor Erleichterung und Erschöpfung kurz auf, rollt sich zur Seite und kommt mit schmerzenden Gliedern auf die Beine. Wachsam blickt er sich um und verlässt dann den Schutz des Busches, unter dem er gelegen hat. Er sieht nicht aus wie ein Jäger, eher wie ein verwitterter Waldgeist. Seine Bekleidung ist improvisiert, schäbig, aus alten Fetzen zusammengestückelt. Eine dünne, eckige Gestalt, eins fünfundneunzig groß, früher eine kraftvolle, unbestechliche und selbstbewusste Erscheinung. Davon ist wenig geblieben. Die Konturen seines mächtigen Kinns sind unter dem Gestrüpp eines ungepflegten Barts verschwunden. Nur der Blick aus seinen eisblauen Augen über der scharfen Nase und dem schmalen Mund verrät etwas über seine wahre, bis vor Kurzem wohlbehütete Herkunft.
Er rafft den fleckigen Umhang, schiebt die Zweige beiseite und rennt mit steifen Beinen los, so schnell er kann. Ein Schwarm Vögel hat sich unter lautem Protest vom Waldrand erhoben und flattert wild umher. Zweimal sieht er sich um. Dann ist er bei den toten Hasen angekommen.
Er sichert das Gewehr, bückt sich und klaubt den ersten Feldhasen aus dem Präriegras. Er hat starre himmelblaue Augen. Sie sind rund und im Tod weit geöffnet. Er staunt, wie schwer der schlaffe, leblose Körper sich anfühlt. Ein wenig warmes Blut sickert durch das Fell auf seine Hand. Er muss den Bauch getroffen haben. Er ist hin- und hergerissen zwischen Stolz und schlechtem Gewissen.
Rasch vergewissert er sich, dass der zweite Hase ebenfalls tot ist. Es ist ein Weibchen, wie er vermutet hat. Er nimmt sie hoch und tastet den schlaffen Körper ab, fühlt instinktiv den weichen Unterbauch. Ihr von den Schrotkugeln gesprengter Kopf ist auf obszöne Weise nach hinten verdreht und berührt fast den Rücken. Er packt beide Hasen mit der Linken, schultert die Beute und klemmt sich das Gewehr wieder unter den rechten Arm. Sein Blick schweift über das weite Plateau, das sanft zum großen Fluss hin abfällt. Hier ist er nicht sicher. Mit eiligen Schritten läuft er über die schutzlose Ebene und verschwindet kurz darauf im sicheren Schatten der Bäume.
Hastig dringt er tiefer in den Wald ein, der nach nasser Erde, Pilzen und Harz riecht. So wie ein unberührter Wald riecht, der sich seit Jahrtausenden von selbst regeneriert. Der Indian Summer mit seinen warmen Tagen und den kühlen Nächten dringt nicht bis hierher.
Seine klobigen Stiefel aus dickem Pferdeleder hat er drei Monate lang in Pflanzenöl gelagert, bis sie geschmeidig wurden und ausreichend Schutz vor Nässe und Kälte boten. Die Sohlen hat er aus alten, weggeworfenen Winterreifen geschnitzt, die er mit Nägeln an dem dicken Leder befestigt hat. Selbst auf den glitschigen Stämmen umgestürzter Bäume bieten sie ausreichend Halt und hinterlassen nur flache Dellen auf dem weichen Boden aus Nadeln, Moos und Laub. Er hat lernen müssen, sich möglichst geräuschlos und ohne Spuren zu bewegen.
Als er meint, weit genug in den schützenden Wald eingedrungen zu sein, geht er am Fuße einer Kiefer in die Hocke und legt die beiden Hasen vor sich ins Moos. Sein Atem geht stoßweise, das Herz schlägt wie wild gegen die Rippen. Er muss sich beeilen!
Er lehnt die Flinte griffbereit gegen den Baumstamm und holt ein Stück Draht aus der Tasche seiner vielfach geflickten Hose. Frisches Blut glänzt auf der Wachsschicht seines tarnenden Umhangs. Unwillkürlich zieht er das metallische Aroma in seine Nasenflügel. Es ist ein intensiver Duft, der seinen Magen schlagartig erregt. Ein archaisches Gefühl, dem er sich einen Moment lang hingibt. Dann schreitet sein Verstand ein und warnt ihn. Hungrige Braunbären, deren Spuren er in der Gegend gesehen hat, würden das auch riechen, und zwar aus viel größerer Entfernung als er. Er kann nur hoffen, dass der laute Knall des Schusses sie eine Weile auf Distanz hält. Geschickt wickelt er den Draht um die Vorderläufe der beiden toten Tiere und bindet sie zusammen, sodass er sie wie eine Satteltasche über die Schulter werfen kann.
Langsam beruhigt sich sein Herzschlag und fällt wieder in einen normalen Rhythmus. Sein erhitzter Atem trifft auf die kühle Luft der aufziehenden Dämmerung und umhüllt seinen Kopf wie eine Fahne aus Dampf. Er sichert aufmerksam seine Umgebung, späht in das dunkle Unterholz und lauscht angestrengt auf Geräusche. Aber da ist nichts. Das Pochen seines eigenen Pulses im linken Ohr, seiner schwachen Seite, wird langsam leiser. Es wird überlagert von dem hohen, hartnäckigen Pfeifen, das der Schuss ausgelöst hat.
Er hat Glück gehabt. Nur eine Patrone für zwei Hasen. Wäre er nicht schon so lange allein in der Wildnis, würde er jetzt lächeln. Aber da ist niemand, mit dem er seinen Triumph teilen könnte. Es sind mindestens drei Kilo Fleisch, zwei plüschweiche Felle und Zehrung für mehrere Tage. Aus den zarten splitternden Knochen kann er Angelhaken schnitzen. Er streicht anerkennend über den Lauf der Waffe.
Eine Weile wartet er noch, weil er sichergehen will, dass sein Schuss von niemandem bemerkt wurde. Vor zwei Tagen erst hat er die noch warme Asche eines Lagerfeuers gefunden. Es muss ein großer Clan gewesen sein. Sie hatten Tiere bei sich, er hat den Kot gesehen. Er würde lernen müssen, die Losung zu lesen. Aber von wem?
Er kommt aus der Hocke hoch und richtet sich auf. Noch einmal sichert er nach allen Seiten, orientiert sich kurz am Einfall des Lichts und sammelt seine Beute und die Flinte ein. Die Feldhasen haben ein fein gezeichnetes Herbstfell, braun und schwarz gemustert, durchsetzt mit den ersten weißen Flecken ihres bald gänzlich schneeigen Winterfells.
Jede Hast vermeidend, läuft er durch die mal mehr, mal weniger dicht stehenden Bäume, windet sich unter tief hängenden Ästen hindurch und überquert die hoch aufragenden Wurzelknoten der jahrhundertealten Bäume.
Seine Sinne funktionieren immer besser. Sein Gehör ist feiner, die Augen sehen schärfer, und sein ganzer Körper reagiert intensiv auf die neue Umgebung und die vielen Gefahren, die in ihr lauern. Es ist überlebenswichtig: Nicht nur die Bären, auch Wölfe und hungrige Wildschweine oder verwilderte Hunde riechen die toten Tiere auf seiner Schulter, riechen ihn, und vor allem hören sie ihn, lange bevor er sie hört. Wenn er sie sieht, wenn sie sich zeigen, ist es wahrscheinlich zu spät, um unbeschadet in seinen Verschlag zu kommen. Besonders jetzt im Herbst ist es gefährlicher als sonst, fresswütigen Wildtieren im Kampf um...