Meier | Heimlich, heimlich mich vergiss | E-Book | www2.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 336 Seiten

Reihe: Literatur

Meier Heimlich, heimlich mich vergiss

Roman
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-03734-368-5
Verlag: diaphanes
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 336 Seiten

Reihe: Literatur

ISBN: 978-3-03734-368-5
Verlag: diaphanes
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



In ortloser Höhe thront eine gläserne Klinik über den Angelegenheiten der Normalsterblichen. Dr. Franz von Stern, der als Arzt selbstverständlich mit einer zusätzlichen Hirnrindenschicht und einem Mediator zwischen den Rippen ausgestattet ist, versagt als Referent in eigener Sache: Unfähig, den geforderten Eigenbericht für seine Klinikleitung zu verfassen, erzählt er sich zurück in seine Vergangenheit. Eine »Ambulante« erscheint ihm als Wiedergängerin seiner Frau, und im vermeintlichen Wahngerede seiner Patienten sucht er nach dem Echo der eigenen Geschichte. Irrealer als die Gegenwart, dieses taghelle Delirium, kann das Erinnerte nicht sein, und so macht von Stern sich auf, seine verglaste Welt zu verlassen.

Angelika Meiers Roman spielt in einer Welt, in der »mangelnde Gesundheitseinsicht« ein tödlicher Befund ist: eine fröhlich-düstere Elegie auf uns fast vergangene Gegenwartsmenschen.



Angelika Meier lebt als freie Schriftstellerin in Berlin und Essen. 2016 erhielt sie den Kunstpreis Literatur der Akademie der Künste, Berlin.
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1.

Patient schreit unablässig. Dennoch muss ich ihn für eine Weile sich selbst überlassen und gebe ihm bloß die Flasche mit dem Opium-Rhabarbersaft, in der Hoffnung, ihn so für ein paar Minuten ruhigzustellen. Opium und Rhabarber, das ist alles, was ich momentan für Sie tun kann. Er saugt gierig am Gumminuckel der Flasche, während er mich vorwurfsvoll durch die Fenstergläser seiner Brille anstarrt, und mir fällt auf, dass ein weiteres Regiment seiner Haare die gestrige Spezialbehandlung für einen Rückzug hinter die feindliche Stirnlinie genutzt hat. Ich nicke dem Patienten verständnisvoll oder eigentlich eher um Verständnis bittend zu – ich weiß, dass ich als sein Arzt und Referent die Pflicht habe, mich fortwährend um ihn und seine Schreierei zu kümmern. Aber schließlich ist er nur ein Patient von vielen, und vor allem ist es ebenso meine Pflicht, als Referent in eigener Sache den Bericht über mich selbst vorschriftsmäßig bis Ende des Jahres der Klinikleitung einzureichen. Ich drehe dem Patienten also den Rücken zu, und erwartungsgemäß beginnt er wieder zu schreien. Er beginnt zu schreien und ich beginne zu schreiben.

Kaum dass ich der Tastatur auch nur die drei Buchstaben des Wortes Ich übergeben kann, muss ich bereits wieder unterbrechen. Schreierei des Patienten nimmt unmenschlichen oder eher übermenschlichen Ausdruck an. Seufzend erhebe ich mich von meinem Schreibtisch und gehe zurück an sein Bett. Seine Flasche ist leer, weshalb er sie wütend gegen die Wand geworfen hat, was ihn sichtlich noch wütender gemacht hat, weil die Plastikflasche im Gegensatz zu ihm einfach nicht kaputtgehen will, und während ich mich, abermals und diesmal bösartigerweise wie eine der Schwestern demonstrativ lang-, länger-, allerlängstmütig seufzend, nach der Flasche bücke, achte ich reflexartig darauf, ihm weder Rücken noch Hinterkopf für einen seiner Faustschläge oder Fußtritte anzubieten. Ich gehe pfeifend in den Flur, um die Flasche an einem der Zapfhähne aufzufüllen, er beobachtet mich durch die Glaswand, wird dabei ruhiger, seine Schreierei mündet in einen hellen, wortlosen Singsang, der schließlich ausrollt in der leisen Brandung seines üblichen verwunderten Gemurmels der Worte Pamplona! Pamplona!

Diesmal endlich nimmt er die Flasche mit einem höflichen Nicken entgegen, wackelt leicht mit dem Kopf, als er sie wie eine Jazzklarinette vor seinem Gesicht aufragend an die Lippen setzt und das Mundstück des Gumminuckels mit den Zähnen prüft, dann schließt er genüsslich trinkend die Augen. Ich setze mich wieder an den kleinen Schreibtisch in der Ecke seines Zimmers, und solange er trinkt, beobachte ich ihn über den Rand meines Bildschirms hinweg, mein Kinn gestützt auf die beiden Daumen der über den aufgestellten Ellbogen gefalteten Hände, die wie in einem verzweifelten oder wohl eher frömmlerischen Gebet Mund und Nase bedecken. Die Augen darüber werden langsam glasig, während sie die wiegende Bewegung des Patienten taxieren.

Jetzt müsste ich schreiben, wenigstens noch schnell einen ersten Satz, denn er wird gleich zu sich kommen und zu sprechen beginnen. Ich kann zusehen, wie sich die idiotische Entstellung seiner Züge wieder einmal mit erstaunlicher Schnelligkeit auflöst, ein Naturschauspiel wie in einer meteorologischen Animation, der Geist kehrt schrittweise in sein Gesicht zurück, und so schiebe ich meinen Eigenbericht wieder auf.

»Sagen Sie, Herr Doktor, habe ich Ihnen eigentlich schon einmal gesagt, dass Sie eine alte ausgelaufene Rotweinflasche sind?«

»Sie haben es das ein oder andere Mal erwähnt, Herr Professor.«

»Hm ja, mir war auch so. Nun ja, man kann es nicht oft genug sagen. Wo waren wir gestern stehengeblieben?«

»Sie haben versucht, mir Ihre Vorstellung von der Astrologie als eines auf die Zukunft projizierten Namensfetischismus darzulegen.«

»Ah ja, richtig. Schreiben Sie mit?«

»Ja natürlich«, ich wechsele schnell die Datei. »Fahren Sie fort. Ich bin ganz Ohr.«

»Ach, Sie verstehen es ohnehin nicht, ihr Ärzte versteht nie etwas von den wesentlichen Dingen des Lebens!«

»Mag sein, aber seien Sie unbesorgt, zum bloßen Aufschreiben wird mein Verständnis schon ausreichen.«

»Na gut, dann schreiben Sie. Böser Doktor, verschlagenes Aas, elender Hurensohn, Satanssonde! Liebes Buch, liebes gutes Papier!«

»Soll ich das …?«

»Nein, natürlich nicht, ich denke noch nach. Früher schien es mir so, als ob die Ambivalenz der Sternbilder je nach der inneren Kultur der Zeit entweder zu Magie, also einer monströsen kultischen Ekstase, geführt hat, oder aber zu einer mathematisch-kontemplativen Diastase, also zu Entformung, Kosmologie. Ja, genau so hat er’s … hab ich’s gesagt. Haben Sie das?«

»Ja, ja.«

»Entweder Magie, also der Glaube, die Zeichen der Zeit lesen zu können, die Namen beim Wort nehmen, über die Gestaltlosigkeit der Welt triumphieren, mit den kleinen verschmierten Händen am Heiligen herumtappen, oder aber entrückende Durchsicht, Distanz, Abstraktion. Haben Sie das?«

»Ja, ja.«

»Verstehen Sie es auch?«

»Hm … so ungefähr, kommt drauf an, wie’s weitergeht.«

»Ja, darauf kommt es euch immer an, immer wissen wollen, wie’s weitergeht, ihr Rattensäue von Ärzten!« Mit seiner von der Schreierei kaputten Stimme lacht er sein kratziges Spottlachen. »Prognose durchaus günstig – Prognose durchaus ungünstig! Je nachdem, wie der Herr Doktor gerade scheißt oder fickt, aber immer wissen wollen, wie’s weitergeht! Aber damit ist jetzt Schluss! Darauf kommt es heute nicht mehr an! Nie mehr!«

»Sie beruhigen sich jetzt, Professor, oder ich stecke Sie wieder ins Bett – ohne Rhabarberopium!«

Patient verfällt in Schimpfparoxysmus, brüllt die üblichen gemeinsten Obszönitäten, lässt sich aber durch Androhung von fünftägiger Bettruhe und Vorzeigen der Schlafmittelsonde schnell beruhigen, entschuldigt sich, gibt zu, dass seine Raserei halbe Pose war, und räumt ein, dass der Tag nicht recht geeignet ist für die Fortführung seiner wissenschaftlichen Arbeit. Danach bis zum Abend durchgängig gut, nett und rücksichtsvoll, darf Referenten zum Abendessen auf die große Terrasse begleiten.

Da Patient trotz von ihm selbst eingeräumten besseren Wissens in durchgängiger Zwangsvorstellung gefangen, dass in das Essen die moussierten Leichen seiner von der Klinikleitung ermordeten Familienmitglieder gemischt werden, bekommt er neuerdings Vor-, Haupt- und Nachspeise doppelt serviert, sodass er von dem jeweils einen Teller relativ angstfrei essen kann, solange der zweite Teller unberührt danebensteht und Patient sich durch diese List versichern kann, seine Liebsten nicht verspeist zu haben.

Nach dem Essen überaus zufrieden und still, nickt mit schräg in die Hand gestütztem Kopf im Takt der leise herüberwehenden Musik, lächelt dankbar in Richtung der Musiker. Unwillkürlich ahme ich ihn nach. Es ist ein unwirklich schöner Maienabend, die Luft ist die leichteste des Jahres, sonnengewärmt und doch frisch, und Fliederduft umhüllt das ganze Haus. Noch immer etwas flach einatmend, lasse ich meinen tagesstieren Blick von der Leine, er lässt sich ins Gras fallen und rollt dann auf der sanften Kaskade der sattgrünen Wiesen hinab ins Tal, wo ich ihn wegen der einsetzenden Dunkelheit aus den Augen verliere. Nun endlich ergreift von meinen Augen ausgehend ein köstliches schwarzes Nichts meinen gesamten Kopf, weshalb ich das Gemurmel des Patienten lange für ein unsichtbares Bächlein halte, bis sich mit seinem lauter werdenden Gerede auch die Leinwand vor mir wieder mit der Abendlandschaft füllt.

»Konsequent, konsequent – inkonsequent, inkonsequent! So hat er’s gesagt! So und nicht anders! Pamplona, Pamplona!«

»Ja, Herr Professor.«

»Herr Doktor, Sie sind ein schlimmer Sünder, wissen Sie das überhaupt?«

»Ja, Herr Professor.«

»Im Ernst, wollen Sie nicht mir all Ihre Sünden gestehen?«

»Ich bin nicht katholisch, Professor, ich glaube nicht an die Beichte.«

»Was soll dann aber aus Ihnen werden?«

»Das steht in den Sternen.«

»Tatsächlich? Ich dachte nicht, dass dort … um Gottes willen, kommen Sie!« Er springt auf, die Patienten und Ärzte an den Nebentischen sehen mürrisch zu uns herüber, weil er das Streichquartett nun entschieden stört. »Wenn es dort oben noch immer etwas zu lesen gibt – wir müssen das aufzeichnen gehen, kommen Sie, kommen Sie, um Himmels willen!«

»Schschsch, gut, gut, gut«, ich ziehe ihn am Arm wieder herab auf seinen Stuhl, sehe ihn begütigend oder...


Meier, Angelika
Angelika Meier lebt als freie Schriftstellerin in Berlin. Mit ihrem vielbeachteten zweiten Roman 'Heimlich, heimlich mich vergiss' stand sie 2012 auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. 2016 erhielt sie den Kunstpreis Literatur der Akademie der Künste, Berlin.

Angelika Meier lebt als freie Schriftstellerin in Berlin. Mit ihrem vielbeachteten zweiten Roman 'Heimlich, heimlich mich vergiss' stand sie 2012 auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. 2016 erhielt sie den Kunstpreis Literatur der Akademie der Künste, Berlin.



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