E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Meier-Böhme Das Ende des Sommers
2. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7693-6417-0
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-7693-6417-0
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kurz vor seinem 60. Geburtstag will der Autor Tobias ein Buch über seinen Vater schreiben, der als Kind in einem Kinderkrankenhaus in Frankfurt am Main nach einem Luftangriff einen Tag verschüttet auf Rettung wartete. Er wählt sich eine*n Erzähler*in und bespricht den Rahmen der Geschichte. Dabei lässt er dem*der Erzähler*in alle Freiheiten des Erzählens unter einer Bedingung: Der Satz "Ich wurde geboren am 4. Oktober 1943" soll unbedingt vorkommen, da die erste flächendeckende Bombardierung der Stadt an diesem Tag geschah. Sein Vater war damals acht Jahre alt. Die*Der Erzähler*in willigt ein, macht sich ans Werk und erzählt die Geschichte von Angela, Sonja und Tanja, drei befreundeten Abiturientinnen, die 1980 etliche Wochen auf Kreta das bestandene Abitur feiern und Pläne über ihre Zukunft entwerfen. 2023 haben die drei Frauen nur noch unregelmäßigen Kontakt, doch sie beschließen, ihre 60. Geburtstage auf Kreta gemeinsam nachzufeiern und alte Erinnerungen aufleben zu lassen. Das aber ist nicht so einfach wie es scheint. Persönliche Konflikte und eigene Probleme drohen das Vorhaben zum Scheitern zu bringen. Während einer Wanderung durch die Samaria-Schlucht stellen sie fest, dass sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Leben übereinander schieben. Dieses Buch erzählt von den enttäuschten Träumen und Lebenskonzepten der Babyboomer und ihrer Fähigkeit, Kraft aus diesen Enttäuschungen zu ziehen.
Bodo Meier-Böhme (*1956), Evangelischer Pfarrer aus Frankfurt/Main. Er war lange Jahre in einer Gemeinde im Rhein-Main Gebiet, bevor er zuerst an ein Gymnasium und später an eine Berufliche Schule in Frankfurt/Main wechselte. Seit seiner Pensionierung beschäftigt er sich intensiver mit dem Schreiben durch Kurse und Seminare. Neben einigen Schulbüchern hat er auch die Serien "Fania und Felix" (Verlag des Rauhen Hauses) und "Die sechs Freunde" (Calwer-Verlag) verfasst.
Autoren/Hrsg.
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Der Anfang
»Sie sind der Autor. Ich mache das so, wie Sie es wünschen.« Tobias lag auf der Couch, eine Wolldecke über den Beinen, fette Kopfhörer auf den Ohren, bis zum Anschlag aufgedreht. So konnte er am besten nachdenken. Sein neues Projekt ließ ihn nicht los. Es sollte sich mit dem Leben seines Vaters beschäftigen. Seines Vaters, der die Familie verlassen hatte, als Tobias neun Jahre alt gewesen war. Des Vaters, den er zeitlebens vermisste und suchte. Der vor Kurzem in einem Altersheim verstarb. Dessen erwachsenes Leben vom Krieg in seiner Kindheit bestimmt wurde, weil er sie damals verloren hatte. Des Vaters, der Gesprächen über diese Erfahrungen gerne auswich. Der für so viele stand, die dieses Land aufbauten, ohne dass sie über ihre Kindheitsverletzungen sprachen. Alle Menschen suchen ihren Vater, aber zu oft wurden diese Väter beschwiegen. Tobias hatte sich mit vielen Leuten unterhalten. Cousins, Tanten, Nichten und Neffen. Sogar mit späteren Geliebten des Vaters, sofern er sie noch ausfindig machen konnte. Mit seiner Mutter gestaltete sich das Gespräch jedoch schwierig. Aber das war klar. Mit seiner Schwester Tanja wiederum konnte und wollte er nicht reden. Für sie war der Vater schon vor seinem Verschwinden in jener Nacht vor dem historischen Fußballfinale 1974 tot. Tobias hatte etliches gelesen, Materialien gesammelt, in seinen Erinnerungen geforscht. Der große Couchtisch war bedeckt mit all den Aufzeichnungen und Unterlagen. Eine Zeitung lag oben. »Scholz verkündet eine Zeitenwende« war der Aufmacher. Daneben mehrere Seiten mit einer Handschrift beschrieben, die nicht seine war. Er suchte eine:n Erzähler:in für sein Projekt. Nun, so kam ich ins Spiel. »Ich will kein langweiliges Nacherzählen eines Lebens. Keine Aneinanderreihung von Jahreszahlen. Das interessiert mich nicht.« Wenn ich einen Mund hätte, würde man jetzt einen Erleichterungsseufzer hören. Mir kam dieser Gedanke sehr entgegen. Es ist nicht möglich, Zeiten zu benennen. Natürlich gibt es Zeitangaben. Menschen suchten sich ein System, um sich zurechtzufinden und miteinander Vereinbarungen treffen zu können. Ich jedoch mag es nicht, von Zeit zu reden. Sie ist vorgeschoben. Dahinter steht eine andere Macht. Es wird in die Zukunft geträumt und geplant. Veränderungen und Verbesserungen werden auf morgen verschoben. Die Kraft dafür speist sich aus der Sehnsucht, die sich auf die Vergangenheit richtet. Was aber befindet sich dazwischen? Wo findet das statt, was Menschen »Leben« nennen? Was ist »Heute«? Das ist mein Thema. Selbst wenn ich über ein Fußballspiel erzähle (was ich als Auftrag mitunter annehme – ich muss ja auch leben!). »Okay. Verstehe. Komme ich mit klar. Aber ist es nicht wichtig, wann eine Geschichte spielte oder wann ein Ereignis stattgefunden hat?« Ich spielte den Advocatus Diaboli. »Klar, da haben Sie recht. Manche Zahlen sind ja auch wichtig. Aber ich will noch etwas anderes.« Läuft gut. Er hätte aber wenigstens die Musik leiser stellen können. Da kam man ja kaum durch mit seinen Gedanken. Nichts zu machen. Bis zum Anschlag aufgedreht, endlose Gitarrenlinien. Jimi Hendrix nannte sich der Typ, schon lange tot. Alter Kram. Dessen Biografie sollte ich einmal erzählen. Aber ich habe abgelehnt. Der interessierte mich nicht. »Wissen Sie, das Leben meines Vaters hatte Auswirkungen auf mich.« Wenn ich ein Gesicht hätte, wäre es mir jetzt verrutscht. »Nun, das ist nicht wirklich überraschend, oder? Nennt man Erziehung.« Er lachte bitter. »Das wäre schön gewesen. Ich hatte als Kind nicht viel von ihm.« Verdammt! Hatte ich vergessen. Gerade noch gesagt. So geht das, wenn man sein normales Programm abspult. Ich muss mich besser konzentrieren. Aber bei der Musik …! Dann wurde er ernster. »Ich muss wissen, wo ich herkomme. Mich interessiert, warum ich so bin. Mein Leben lang fühle ich mich ohne Wurzeln.« Er griff sich die Zeitung und blätterte ein wenig darin, nachdem er sich das Foto auf der ersten Seite angesehen hatte, das eine Unmenge an Panzern auf einem Acker zeigte. »Und ich interessiere mich für den Gang der Welt. Den Gang der Menschen. Warum machen wir immer die gleichen Fehler?«, ergänzte er brüchig. »Warum erst jetzt?«, rutschte es mir heraus. Ich hatte das Gefühl, diese Frage schon einmal – bei einem ähnlichen Projekt vor vielen Jahren – formuliert zu haben. Ach, nein, das hatte ein anderer gesagt. Ich war es nicht, auch wenn ich es gewollt hätte. Aus dieser Anfangsfrage wurde ein viel beachtetes Buch, das für Gesprächsstoff gesorgt hat. »Es hat sich nie die Gelegenheit ergeben. Ich habe mich nicht getraut. Gott, was waren wir selbstgerecht. Die Generationen vor uns waren verstrickt in Schuld und wir waren die Ersten, die es gut machen würden. Wir wollten nicht hören – und sie wollten nicht erzählen. Sie hatten Schuld oder fühlten sich schuldig. Was machte das für einen Unterschied? Verschämt schwiegen sie. Laut tönten die wahrhaft Schuldigen und betonten ihre Unschuld. Und so haben wir alle über einen Kamm geschoren. Meine gesamte Kindheit lang hing in unserem Wohnzimmer das Bild meines Großvaters, den ich nie kennengelernt hatte. Er fiel auf Kreta. Das Bild zeigte ihn in seiner Wehrmachtsuniform. Es war das einzige Foto, das mein Vater von seinem Vater besaß. Es wurde der Familie zugesandt, kurze Zeit, nachdem ihr mitgeteilt wurde, dass er auf Kreta gefallen war. Die Insel war umkämpft. Die Mittelmeerbastion. Briten und Australier erhofften sich eine strategisch günstige Lage von der Insel. Den Deutschen konnte das nicht gefallen. Sie nahmen die Insel mit einem erheblichen Aufwand und unglaublich hohen Verlusten ein. Ein grandioser Sieg. Mein Opa war tot. Mein Vater hat nie darüber gesprochen. Bei einer Renovierung ist das Bild dann plötzlich verschwunden und niemand hat nachgefragt. So viel Verunsicherung, so viel Enttäuschung, so viel versteckte Wut. Erst im Alter, als das Leben bewältigt war mit seinen Anforderungen an Beruf und Familie, erst, als sich der eigene Radius altersbedingt immer enger gestaltete, gingen viele in ihrem Leben zurück und fanden verschüttete Ängste und übergangene Verletzungen. Und sie entdeckten eine Sehnsucht nach ihrer verlorenen Kindheit. Jetzt wurde die Trauer über das Verlorene hochgespült. Die Väter, die in einem selbst verursachten Krieg gefallen waren, die Mütter, die hilflos versuchten, ihre Kinder zu bewahren und immer wieder die Rache und die Verzweiflung des Gegners am eigenen Leib erfuhren, die Heimat, die zerstört war und verlassen werden musste. Im Alter fühlten sich die damaligen Kinder plötzlich schuldig. Sie sahen sich verantwortlich für das, was ihren Vätern, Müttern und ihnen angetan wurde. Und verlängerten so ihre Qual.« Er stockte und wählte ein anderes Musikstück. Das dauerte eine Weile, aber ich wollte ihn nicht stören in seinem Gedankenfluss und sagte deshalb nichts. »Wissen Sie, ich habe das Gefühl, etwas gutmachen zu müssen.« Immer noch Hendrix, immer noch laut. »Aber es ist doch in den letzten Jahren viel passiert«, wandte ich ein. »Filme und Literatur sind voll von Darstellungen der Kriegserlebnisse und vor allem davon, was dies mit den Menschen machte.« »Klar. Stimmt. Vieles von dem, was ich weiß, habe ich aus Büchern, Dokumenten und Filmen. Es hat sehr lange gedauert, bis man endlich einmal bereit war, sich das alles anzuschauen. In anderen Ländern ist man längst nicht so weit. Aber da ist noch mehr: Ich werde bald sechzig. Wer weiß, wie viel Zeit mir noch bleibt. Ich möchte darüber reden, was das alles mit mir gemacht hat. Damit andere nicht die gleichen Fehler begehen.« Wieder nahm er die Zeitung zur Hand, warf sie dann aber entnervt zurück auf den Tisch. »Ich weiß, die Jugend kann mit Krieg nichts mehr anfangen. Das Thema ist zu weit weg für sie.« Ach, und wieder drehte es sich um Zeit. Unsere Probleme waren viel wichtiger, als es eure je sein werden. Nein, unser heutiges Problem ist Folgendes … Und so geht es immer weiter. Es gibt keine unterschiedlichen Themen. Sie hängen alle zusammen, sind eins. »Und jetzt wollen Sie auch eine Geschichte schreiben? Gibt es da noch etwas hinzuzufügen?« Wieder mein diabolischer Part. »Natürlich gibt es schon viel.« Er seufzte. »Aber ich denke, dass jede Erfahrung es wert ist, erzählt zu werden.« Er schwieg für einen Moment und schloss die Augen. Hendrix mühte sich redlich an seiner Gitarre. Mir kam ein Verdacht. »Entschuldigen Sie bitte, falls Sie das nerven sollte: Aber hat es etwas mit dem sechzigsten Geburtstag zu tun?« »Nennen Sie es meinetwegen ›Älterwerden‹«, entgegnete er träge. »Ist mir gleich. Und ich denke, ja, es hat was damit zu tun. Meine Schwester und ich haben kaum noch Kontakt. Ich kümmere mich um Mutti, die bei mir wohnt. Tanja und ich hatten als Kinder viele gemeinsame Träume, auch wenn sie vier Jahre...