E-Book, Deutsch, 210 Seiten
Reihe: Niederbayern Krimi
Mehler Milchschaum
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-86358-367-5
Verlag: Emons Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 210 Seiten
Reihe: Niederbayern Krimi
ISBN: 978-3-86358-367-5
Verlag: Emons Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Warum liegt der Dorfpfarrer im Kotau erstarrt vor dem Grab des Bürgermeisters? Weil er tot ist! Erschlagen! Kalt gemacht! Von einem seiner Pfarrkinder? "Nie und nimmer", rufen die Birkdorfer im Kollektiv und stempeln vorschnell einen Verdächtigen nach dem anderen zum Sündenbock. Fanni und Sprudel dagegen machen sich ihre eigenen Gedanken. Gemeinsam mit dem jungen Kommissar Marco Lübsch suchen sie nach Spuren, die zum wahren Täter führen. Es gelingt und - und sie geraten beide in Gefahr.
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1 Fanni hatte wieder einmal selbst Schuld. Sie hatte Schuld, dass ausgerechnet sie es war, die den toten Pfarrer fand, weil sie ihre Handschuhe auf dem Grabstein abgelegt und dann dort liegen gelassen hatte. »Typisch«, schimpfte Hans Rot, »vergesslich, schludrig, unkonzentriert. Ich frage mich, was in deinem Kopf so vor sich geht. Du hast doch den ganzen Tag nichts weiter zu tun, als dich um dich selbst zu kümmern, und nicht einmal das kriegst du hin. Wieso hast du die Handschuhe überhaupt ausgezogen bei der Kälte?« »Ich musste mich schnäuzen«, verteidigte sich Fanni. »Ich hol sie schnell. Bin gleich wieder da. Such dir inzwischen einen Platz in der Gaststube und bestell dir ein Bier.« Sie eilte davon. Schon nach wenigen Schritten aber drosselte sie das Tempo. Fanni hatte keine Eile. Ganz im Gegenteil, der Abstecher zurück zum Friedhof kam ihr sehr gelegen. Damit konnte sie Zeit schinden. Ein Grüppchen säumiger Trauergäste kam ihr entgegen und hielt auf das Dorfwirtshaus zu. Fanni bedachte sie mit einem Nicken, sie nickten zurück. Mit einem Mal war der Birkenplatz leer. Wohin haben sich denn alle so schnell verlaufen?, überlegte Fanni und musste dann spöttisch über ihre eigene Frage lachen. In warme Stuben natürlich. Sie selbst hatte eiskalte Füße, obwohl sie in plüschgefütterten Stiefeln steckten. Kein Wunder, dachte Fanni. Dickwanst musste ja sämtliche Totengesänge aus dem Lobgottes herunterleiern. Nichts hat er uns erspart am Grab. Nicht mal den Kirchenchor, dabei hat der doch während der Totenmesse schon mehr als genug Performance gehabt. Aber Elsie Kraft musste ja noch »Jesus lebt« trillern. Jesus lebt – schön, aber die Toten sind trotzdem tot, mausetot. Ja, Fanni hatte schlechte Laune, extrem schlechte Laune sogar. Sie hasste Beerdigungen. Es machte sie krank, zusehen zu müssen, wie ein Mensch, der zuvor noch gelacht, geweint, gesprochen hatte, der zu Besuch gekommen oder dem man im Supermarkt über den Weg gelaufen war, mit Erde zugeschaufelt wurde. Sie hatte versucht, sich vor dieser Beerdigung zu drücken. Aber damit war sie bei Hans Rot nicht durchgekommen. »Wenn der Bürgermeister zu Grabe getragen wird«, hatte ihr Mann kategorisch verkündet, »dann geht da die Gemeinde geschlossen hin. Auch die Fanni Rot!« Und Fanni hatte pflichtschuldigst ihren schwarzen Mantel, den Leni »Allerheiligenstandarte« nannte, aus dem »Schrank für in Misskredit geratene Kleidung« im Keller geholt. Die Kranzniederlegungen waren es schließlich, sinnierte Fanni, die sämtliche Birkdorfer Gemeindemitglieder an den Rand des Erfrierungstodes gebracht haben. Die haben glatt – sie sah auf ihre Uhr –, glatt eine Stunde gedauert. Feuerwehr, Waldbesitzerverein, Trachtenverein, Schützenverein … »Ist doch klar«, hatte Hans Rot geflüstert, als Fanni bei der achten Kranzniederlegung verzweifelt die Augen zum Himmel verdrehte, »das ist doch klar, dass der Bürgermeister sämtlichen Vereinen der Gemeinde angehören muss.« … CSU-Ortsgruppe, VDK, Bergwacht … »Ich wusste gar nicht, dass Birkdorf einen Bergrettungsdienst unterhält«, hatte Fanni zurückgeflüstert, »man kommt doch hier überall mit einem Fahrzeug der Ambulanz hin.« Sie hatte hinter sich leises Lachen vernommen und mit einem schnellen Blick erkannt, dass es von ihrem Nachbarn Böckl kam, von Böckl, dem Jäger und Büchsenmacher. Richtig. Hatte nicht Böckl neulich erst erzählt, dass er auf seinen Jagdausflügen kaum mehr einen Schritt zu Fuß gehen müsse? Im Geländewagen mit Allradantrieb zum Hochsitz, und »Peng«. Fanni betrat den Friedhof durch das Haupttor. Sie blieb einen Moment stehen und blinzelte. Noch wenige Minuten zuvor dicht an dicht von schwarz gekleideten Gestalten umringt, starrten die Grabsteine jetzt nackt und einsam von ihren Sockeln. »Mir war bis heute nicht klar«, murmelte Fanni, »was Birkdorf für eine große Gemeinde ist.« Sie konnte Hans Rots Antwort auf diese Weltfremdheit geradezu in ihrem Kopf hören: »Meine Güte, Fanni, um Birkdorf herum liegen doch jede Menge Weiler, die zur Gemeinde gehören. Welcher fiele denn da meinem Fannilein ein?« »Erlenweiler, Buchenweiler, Altfleck«, zählte Fanni auf, während sie den gekiesten Hauptweg des Birkdorfer Friedhofs entlangging – und Birkenweiler natürlich. Seit Jahrzehnten lagen sich Birkdorf und Birkenweiler wegen einer Namensänderung in den Haaren. »Wir sind und bleiben Birkdorf«, sagten die Birkdorfer, »wir haben die meisten Einwohner, deshalb heißen wir auch Dorf und nicht Weiler. Die ganze Gemeinde ist nach uns benannt. Egal, ob einer in Altfleck oder Birkenweiler wohnt, seine Postanschrift lautet ›Birkdorf, Altfleckstraße, oder eben Birkenweilerstraße, Nummer sowieso‹. Außerdem steht auf unserem Dorfplatz die größte Birke vom ganzen Landkreis.« »Die Birke zählt kein bisschen«, konterten die Alteingesessenen aus Birkenweiler. »Unsere Häuser liegen mitten in einem ganzen Wald gestandener Birken, alter Birken, älter als Birkdorf.« Seit der soeben beerdigte Bürgermeister vor zwei Jahren vorgeschlagen hatte, die Leute von Birkenweiler sollten ihren Ort in Laubholzweiler umbenennen, hatten sich die Fronten verschärft und der Bürgermeister war bei den Birkenweiler-Leuten schwer in Ungnade gefallen. Fanni fragte sich, wie viele aus Birkenweiler wohl zu seiner Beerdigung gekommen waren. Hans Rot würde es wissen. Plötzlich hielt sie mitten auf dem Hauptweg an. Wo hatte sie eigentlich während der Beerdigung gestanden? Das Grab des Bürgermeisters lag im ältesten Segment gleich neben dem vier Meter hohen Kreuz, das von jedem Winkel des Friedhofs aus zu sehen war. Zwei Gräberreihen dahinter stand das Leichenhäuschen mit Platz für zwei aufgebahrte Tote. Aufgebahrt werden sie heutzutage nicht mehr, korrigierte sich Fanni. Und man sagt vielleicht auch nicht mehr Leichenhaus. Sie nahm sich vor, Hans Rot zu fragen, wie man heutzutage dazu sagte. Aber zuerst musste sie ihre Handschuhe finden. Wir sind mit dem ersten Drittel des Leichenzugs auf den Friedhof gekommen, rekapitulierte Fanni. Sie hätte sich ja viel lieber weiter hinten in den Zug eingereiht, aber ihr Mann hatte nach vorn gedrängelt. Fanni konnte ihm nicht entwischen, denn er hielt sie am Arm gepackt. So ist er halt, dachte Fanni, immer vorne dran, wenn sich eine Möglichkeit bietet, sich in Szene zu setzen. Aber wehe, ein bisschen Stil ist gefragt, da stellt er sich ganz hinten an. Hans Rot, grummelte Fanni, kennt schier jeden im Umkreis von zehn Kilometern. Ulrich Zankl, den verstorbenen Bürgermeister von Birkdorf, hat er sogar privat und persönlich gekannt! Hans kennt auch Anna Eder, die Oberbürgermeisterin von Deggendorf – nicht ganz so persönlich allerdings. Alois Schraufstetter, den Kommandanten der Deggendorfer Feuerwehr, kennt er und den Wirt von Schaching sowieso. Aber komme ihm bloß keiner mit Namen wie Newton, Kant, Böll, die sind Schall und Rauch für ihn. Fanni peilte das Friedhofskreuz an und befand es von der Stelle am Hauptweg, an der sie soeben stehen geblieben war, als viel zu weit entfernt. Ich stand bei der Beerdigung näher dran und ein Stückchen weiter rechts davon, dachte sie und ging weiter. Weil sich Hans im Friedhof vom Trauerzug ausgeklinkt hat, erinnerte sich Fanni, weil er, statt mit der ganzen Gemeinde den Hauptweg entlangzuziehen, etliche Abkürzungen über Nebenwege genommen hat, sind wir ziemlich nah ans Grab des Bürgermeisters herangekommen. Unsere Position befand sich zwei Gräberreihen davor, höchstens drei. Sie begann in der dritten Reihe mit der Suche nach ihren Handschuhen. Jeweils nach drei, vier Schritten innehaltend las sie die Namen auf den Grabsteinen, denn sie musste das Grab von Erna Saller finden. Die Goldbuchstaben hatten sich in Fannis Hirn geradezu eingeschmolzen, und sie würden auf dunklem Granit sicher leichter zu entdecken sein als schwarze Handschuhe. »Weber«, »Praml«, »Hübler« … Fanni querte einen Seitenweg: »Hönig«, »Kundler«. Kundler!, natürlich, hier lag Frau Kundler bestattet. Vergangenen Herbst ist ihre Beerdigung gewesen, entsann sich Fanni. Und Hans Rot befand sich in jenen Oktobertagen wegen dieser Beerdigung schwer in der Zwickmühle. Er hatte Vera versprochen, am Einheitstag, der in diesem Jahr auf einen Mittwoch fiel, nach Klein Rohrheim zu kommen – samt Fanni, versteht sich – und bis zum Wochenende zu bleiben. Doch dann war Frau Kundler gestorben und sollte am Donnerstag, den 4. Oktober, beerdigt werden. »Kruzitürken, Kreuzdonnerwetter«, hatte Hans Rot geflucht, »dass alles aber auch so saudumm zusammenkommen muss. Die Kundlers sind quasi unsere Nachbarn. Wir müssen zur Beerdigung, wir können uns da nicht drücken.« »Hans Rot hat neben Ihrem Sarg Spalier gestanden, und er hat es trotzdem geschafft, die Dampferfahrt mit dem Klein Rohrheimer Kegelclub nicht zu versäumen, das nennt man Organisationstalent«, sagte Fanni zur toten Frau Kundler. Ihr Blick fiel auf einen Strauß frischer weißer Lilien, der in einer dunkellila Porzellanvase steckte. Geschmackvoll, dachte Fanni. Insgesamt war das Grab auffällig gut gepflegt. Herr Kundler muss die Lilien gerade eben erst gebracht haben, überlegte Fanni, sonst würden sie längst die Köpfe hängen lassen bei dem Frost heute. Kundler verwöhnt seine tote Frau nachgerade, stellte Fanni fest, ohne zu bemerken, wie absurd dieser Gedanke war. Drückt ihn ein schlechtes Gewissen?, fragte sie sich. Fühlt er sich schuldig, weil sich das...




