E-Book, Deutsch, 544 Seiten
McPherson Die Spur der Lügen
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-641-19455-0
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 544 Seiten
ISBN: 978-3-641-19455-0
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ben McPherson wurde in Glasgow geboren und ist in Edinburgh aufgewachsen. Mit 18 Jahren verließ er seine schottische Heimat, um in Cambridge zu studieren. Nach seinem Studium war er für viele Jahre in London in der Filmbranche tätig. Heute lebt Ben McPherson mit seiner Familie in Oslo, wo er als Kolumnist für die bekannte norwegische Tageszeitung Aftenposten arbeitet.
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1
Die bedenkliche Magerkeit seiner weißen Arme, die sich knochig vor dem dunklen Laubwerk abhoben.
»Max.«
Nichts. Keine Reaktion. Er war halb verborgen, saß rittlings auf der Mauer, den Oberkörper von mir abgewandt. Er schien zu lauschen. Oder zu warten.
»Max.«
Er drehte sich zu mir um, sah mich an, wandte sich sofort wieder ab und blickte zum Nachbarhaus hinüber.
»Foxxa«, sagte er leise.
»Max. Schlafenszeit. Komm da runter.«
»Aber Dad, Foxxa …«
»Schlafenszeit, hab ich gesagt.«
Max schüttelte den Kopf, ohne sich umzudrehen. Ich ging zur Mauer und legte ihm meine Hand auf den Arm. »Sie kommt wieder nach Hause, Max. Sie kommt immer nach Hause.«
Max sah zu mir herunter, suchte meinen Blick, wandte sich wieder dem Nachbarhaus zu.
»Was ist los, Max?«
Keine Antwort.
»Max?«
Max schwang sein Bein über die Mauer und verschwand. Einen Moment lang stand ich verärgert da.
In unserer ersten Zeit in Crappy hatten wir uns eine Gartenbank gekauft, Liebesbank, hatte Millicent sie genannt, weil nur zwei darauf passten. Aber Finsbury Park ist keine Gegend für Liebesbänke. Wir hatten längst festgestellt, dass sie zu klein für uns war; so steif und zusammengequetscht, wie man darauf saß, das hatte nichts mit Liebe zu tun.
Jetzt stand die Liebesbank ein Stück weiter hinten an der Mauer, teilweise von einem hässlichen Strauch verdeckt. Auf der Bank stehend konnte ich fast den ganzen Nachbargarten überblicken, der genauso erbärmlich winzig war wie unserer, aber makellos gepflegt mit geraden Linien, die die verschiedenen Bereiche abgrenzten. Ein mit hellen Steinen gepflasterter Weg führte von einem Teich an der hinteren Gartenmauer zu einem Gebilde, das Millicent einmal als Laube bezeichnet hatte und das, soweit ich es erkennen konnte, aus Kletterrosen bestand.
Max stand auf dem Weg. Als er mich sah, wandte er sich ab und ging schnurstracks in die Laube hinein.
»Max.«
Nichts.
Ich stieg auf die Armlehne der Bank, legte die Hände auf die Mauer und drückte mich ab. Mein linkes Knie stieß gegen einen Nagel, und der Schmerz war so heftig, dass ich beinahe das Gleichgewicht verloren hätte.
Keuchend setzte ich mich, genau wie Max vorher, rittlings auf die Mauer und schaute zum Nachbarhaus hinüber. Die beiden Doppelhaushälften waren identisch bis ins Detail, nur dass der Nachbar seine Fenster geputzt und die Hintertür frisch gestrichen hatte.
Mehr war vom Erdgeschoss nicht zu sehen, weil eine Japanische Zierweide davorstand. Ein Baum, ein Teich, eine Laube. Wer baut sich in Finsbury eine Laube?
Max kam wieder aus der Laube heraus.
»Dad, komm mal gucken.«
Ich blickte mich um. War das unbefugtes Betreten? Ich war mir nicht sicher.
Max verschwand wieder. In den anderen Häusern war niemand am Fenster zu sehen. Das einzige Haus, von dem aus man den Garten einsehen konnte, war unseres. Und ich musste meinen Sohn da rausholen.
Ich sprang von der Mauer, landete ungeschickt und verschlimmerte den Schmerz in meinem Knie.
»Man soll nicht Scheiße sagen, Dad.«
»Hab ich auch nicht.« Oder?
»Hast du doch.«
Er war wieder aus der Laube gekommen und schaute zu, wie ich mir das Knie massierte, in der Hoffnung, dass es nicht anschwellen würde.
»Ich darf das sagen. Im Gegensatz zu dir.«
Er grinste. »Du hast ein Loch in der Hose.«
Ich nickte, stand auf und zauste ihm das Haar.
»Tut’s weh?«
»Nur ein bisschen.«
Er sah mich ernst an.
»Also gut«, erklärte ich. »Es tut tierisch weh. Vielleicht hab ich’s doch gesagt.«
»Hast du.«
»Kannst du mir mal erzählen, was du hier machst, Max?«
Er streckte mir seine Hand hin. Ich nahm sie überrascht, und er führte mich in die Laube.
Der Nachbar hatte sich viel Mühe gegeben. Aus vier metallenen Rankgittern hatte er eine Art Kuppel geformt, so dass seine Kletterrosen – wenn es denn welche waren – daran hochranken konnten. Hier konnten zwei Personen liegen, vollständig vor Blicken geschützt. Dem plattgedrückten Gras nach zu urteilen, hatte tatsächlich vor kurzem jemand hier gelegen.
Plötzlich hörte ich Vogelgezwitscher, wie von weit her; es klang irgendwie falsch.
Max hockte sich hin und schnippte mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand.
Wie aus dem Nichts tauchte eine kleine, schattenhafte Gestalt auf und wand sich um sein Bein. Schildpatt, rot und schwarz. Max schnippte noch einmal mit den Fingern, und die Katze begrüßte ihn, richtete sich auf die Hinterläufe auf, wankte kurz, als sie mit den Vorderpfoten nach seinen Fingern langte, ließ sich fallen und drehte sich auf den Rücken, um ihm ihren Bauch darzubieten.
»Foxxa.«
Max hatte der Katze ihren Namen gegeben. Er hatte Stunden mit ihr verbracht, nachdem wir sie geholt hatten, und ihr von der anderen Seite des Zimmer aus zugeflüstert: F, K, Ks, S, Sch. Er hatte beobachtet, wie sie auf die einzelnen Laute reagierte, bis er sich schließlich sicher war, dass er den richtigen Namen gefunden hatte.
»Foxxa.«
Die Katze schnurrte. Max streckte die Hand aus, und sie wälzte sich auf dem Rücken hin und her, umfasste seine Hand mit den Vorderpfoten und rieb den Kopf an seinen Fingerknöcheln.
»Verrücktes kleines Biest«, flüsterte er.
Sie schlüpfte aus der Laube. Sie war wirklich ein verrücktes kleines Biest. Wir hatten sie schon seit Tagen nicht gesehen.
Max ging in Richtung Terrasse. Ich folgte ihm. Die Katze war nicht da.
Von der Terrasse aus gesehen wirkte die Laube noch absurder und völlig fehl am Platz. Der ganze Garten war höchstens fünf Meter lang und vier Meter breit. Die Laube nahm mindestens ein Drittel der Fläche ein, so dass der Garten noch beengter war, als er beim Einzug des Nachbarn gewesen sein musste.
Die Katze schlüpfte unter einem Strauch hervor und flitzte über die Terrasse. Zu spät sah ich, dass die Hintertür offen stand. Foxxa hielt kurz inne und drehte sich zu uns um.
»Nein, Foxxa!«, sagte Max.
Ihr Schwanz wand sich um die Türkante, dann war sie im Haus verschwunden.
Max starrte auf die offene Tür. Ich fragte mich, ob der Nachbar hinter den Drahtglasscheiben stand, wo wir ihn nicht sehen konnten. Max ging auf die Tür zu und drückte sie ganz auf.
»Max!«
Ich machte einen Satz auf ihn zu, doch er schlüpfte hinein und ließ mich im Garten stehen.
»Hallo?«, rief ich. Ich wartete an der Tür, aber es kam keine Antwort.
»Komm schon, Dad«, sagte Max.
Ich ging hinein. Max stand mitten in der Küche, die Katze zu seinen Füßen.
»Max, wir hätten hier nicht reinkommen dürfen. Los, nimm sie auf den Arm. Wir gehen.«
Max marschierte zum Lichtschalter und machte das Licht an. Der Kitzel des Verbotenen. Wir durften nicht in diesem Haus sein.
»Max«, sagte ich. »Komm schon, raus jetzt. Auf der Stelle.«
Er drehte sich um, schnippte mit den Fingern, und die Katze sprang mit einem geschmeidigen Satz auf die Anrichte, von wo aus sie uns anblinzelte.
»Ihr gefällt es hier.«
»Max … schnapp sie dir.«
Max tat so, als hätte er mich nicht gehört. Ich konnte an seiner Haltung nichts ablesen außer störrischer Entschlossenheit. Es war noch nie vorgekommen, dass er sich mir so offen widersetzt hatte.
Die weiße Arbeitsplatte, die grauen Schranktüren und die Terrakottafliesen glänzten im Lampenlicht. Alles war so sauber, so hell, so makellos. Ich dachte an unsere Küche, die genauso geschnitten war. Wie ähnlich und wie unterschiedlich zugleich. Auf dem Tisch lag ein Stapel sauberer Kleidung in Plastikhüllen – zwei Anzüge, mehrere Hemden, frisch aus der Reinigung. Keine vor zwei Tagen benutzten Kasserollen in der Spüle. Hier verdarben keine Lebensmittel, hier knirschte kein Katzenstreu unter den Füßen, hier vertrocknete keine Zimmeraralie.
Von der Mitte der Küche aus konnte man die Haustür sehen. Der Nachbar hatte eine Wand herausgerissen; oder vielleicht hatte er auch einfach nur seine Küchentür versetzt. Von beiden Seiten fiel Tageslicht herein. Geschickt.
Max verließ die Küche. Ich schaute zu der Stelle, wo die Katze gestanden hatte, aber sie war weg. Ich hörte, wie Max sie mit einem leisen Schnalzen rief.
Ich folgte ihm ins Wohnzimmer. Er stand bereits am Lichtschalter. Unser Nachbar hatte eine Deckenrose aus Stuck anbringen lassen und einen für das kleine Zimmer viel zu großen antiken Kronleuchter aufgehängt. Den Kronleuchter hatte er mit Energiesparbirnen ausgestattet, die jetzt langsam zu leuchten begannen und ein hässliches Licht auf die Wände warfen. Was für ein merkwürdiges Szenario. Und wo war die Katze?
Max drückte auf einen zweiten Schalter, und die untere Hälfte des Zimmers wurde von in den Boden und in die Fußleisten eingelassenen Strahlern erhellt.
»Los, nimm die Katze, Max. Wir gehen jetzt.«
Er machte eine Geste. Arme ausgebreitet, Handflächen nach oben. Dann hob er eine Hand. Horch, schien er mir zu bedeuten, und ich horchte. Ein Hund; Verkehrsgeräusche; eine Krähe auf dem Dach. Passanten, leise Stimmen, Schritte auf dem Asphalt.
Diese Häuser sollten einen Vorgarten haben, sagte Millicent immer: Es ist, als würden die Leute durch dein Wohnzimmer trampeln. Man konnte sie so deutlich hören, all diese schlimmen Jugendlichen und die...