E-Book, Deutsch, 270 Seiten
McNeill Rückkehr nach Irland
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7472-0301-9
Verlag: ars vivendi
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, 270 Seiten
ISBN: 978-3-7472-0301-9
Verlag: ars vivendi
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Gruppe Burgsteinacher geht auf eine Irland-Rundfahrt mit dem erfahrenen irischstämmigen Reiseleiter Michael, der seit über vierzig Jahren
in Franken lebt. Vor den grandiosen Kulissen der grünen Insel machen sich aber bald erste Risse im kleinbürgerlichen fränkischen Mikrokosmos und
Ungereimtheiten in der Biografie des Reiseleiters bemerkbar. Warum will Michael nicht seinen Heimatort in Nordirland aufsuchen? Und warum ist
er damals überhaupt ausgewandert? Die Reise wird mehr und mehr von mysteriösen Vorfällen überschattet, die schließlich in einem Todesfall gipfeln. Als die Gruppe bei einem Sturm auf einer entlegenen Insel strandet, spitzen sich die Ereignisse endgültig zu ...
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Prolog Mary Doherty, 16. Mai 1959 Das Böse ist fort, als Mary aufwacht, und eine unheimliche, ermattete Stille herrscht im Haus. Aber irgendwo wird es sich versteckt haben und auf sie lauern. Gestern Nacht tobte es zwischen ihren Eltern wieder lange, zog von der Küche ins Wohnzimmer und nach draußen in den Garten. Es drang in Marys Schlafzimmer ein, bis sie aufstand und das Fenster schloss. Und immer noch hörte sie es mit seinen hässlichen Worten in der Nachtluft flattern, wie Raubvögel, die mit ihren Flügeln gegen die Fensterscheiben schlugen. »Wo warst du?« »Ich halte das nicht mehr aus!« »Du warst schon wieder mit ihm auf der Insel.« »Du spionierst mir nach!« »Du lügst.« Jetzt wird es wenigstens bis Mittag ruhig sein, weil Marys Mutter auch heute so lange schlafen wird. Ihr geliebter Daddy wird, wie immer in letzter Zeit, die Nacht auf dem Sofa im Wohnzimmer verbracht haben. Nur die zusammengeknüllte Decke wird davon zeugen. Aber seltsam, dass Mary das Muhen der Kühe auf dem Weg von der Wiese in den Stall zum Melken noch nicht gehört hat. Mary steht auf. Sie zieht ihre Latzhose und die Gummistiefel an und geht nach unten. Sie ist fünf Jahre alt. Im Wohnzimmer zeigt die Standuhr neben dem Bild von dem Mann, der in den Fluss schaut, acht Minuten vor sechs, und die Decke liegt zu Füßen des Sofas. Ihr Vater ist schon fort. Mary meint gehört zu haben, wie er vor ungefähr einer Stunde aufgestanden ist. Ein Rumoren unter ihr, das in ihren Halbschlaf drang. Aber warum hört sie jetzt nicht die Kühe oder das Zischen der Melkanlage? Sie zieht den Hocker aus der Küche, seine Beine scheppern über die Fliesen im Flur. »Shhh!«, flüstert sie ihnen zu. Sie will ihre Mutter nicht wecken. Sie stellt den Hocker vor die Hintertür, steigt darauf, hebt den Riegel an, zieht die Tür etwas nach innen auf. Dann steigt sie wieder vom Hocker, schiebt ihn zur Seite und macht die Tür auf. Kühle, feuchte Luft zieht von draußen ins Haus. Der Mond hängt über Mulroy Bay und spiegelt sich darin. Der Bergrücken von Loughsalt schwebt zwischen dem silbernen See und dem grauen Himmel wie eine schwarze Wolkenschicht. Jetzt hört sie das Stöhnen der Kühe auf der Wiese. Warum hat ihr Vater sie nicht geholt? Noch ein Geräusch vernimmt sie, ein mechanisches, aber nicht die Melkanlage, sondern einen Motor. Es ist der Ford Prefect, der ganze Stolz ihres Vaters. Doch er klingt gedämpft, wie wenn er in der Scheune wäre. Aber wenn er in der Scheune ist, warum läuft er dann? In dem Moment kommt der Motor ins Stolpern, stottert und setzt aus. Mary läuft über den betonierten Weg zwischen Haus und Scheune. Schon vorher riecht sie die Dämpfe, die der Motor ausstößt, und sieht die Schwaden, die zwischen den Scheunentoren nach außen drängen. Jetzt weiß Mary: Da drin in der Scheune wartet das Böse auf sie. »Bleib stehen, Mary.« Es ist ihr zehn Jahre älterer Bruder John-Joe. Er hat einen Bademantel über seinen Schlafanzug geworfen, und seine nackten Füße klatschen auf dem Weg. Er geht an ihr vorbei zum Scheunentor und macht es auf. Ein Riesenschwall weißen Gases entweicht aus dem Inneren, wie eine Nebelbank, die über der Bucht von Mulroy Bay schwebt. John-Joe keucht und hustet und geht zur Seite. Mary stellt sich neben ihn. Die Dämpfe verflüchtigen sich, aus dem grauen Schleier taucht das schwarze Heck des Fords Prefect auf, dann zwei Körper, die Rücken an Rücken vorne sitzen. Die Köpfe hängen nach unten. Die Vordertüren sind offen; die Beine ihres Vaters baumeln aus dem Auto. Er trägt noch seine gestreifte Schlafanzughose. »Daddy!«, ruft Mary. »Beweg dich nicht weg von hier«, sagt John-Joe. Er läuft vor zur offenen Fahrertür, hustend und mit den Armen wedelnd. Dann kommt er wieder. »Ist Mammy auch im Auto?«, fragt Mary. »Das ist nicht Mammy«, sagt John-Joe. »Das ist eine andere Frau.« Schon ist ihre Mutter da, ebenfalls im Bademantel. Sie dünstet den Branntwein von gestern Abend aus, man riecht es selbst im Freien. »Oh Gott«, sagt sie. »Er hat’s getan. Er hat’s wirklich getan.« Niemand kümmert sich um Mary. Sie steht alleine vor der Scheune. Ihre Mutter ist zur Telefonzelle am Ende der Auffahrt gelaufen, und John-Joe ist verschwunden. Niemand hat Mary gesagt, dass ihr Vater tot ist. »Daddy?«, ruft sie. »Daddy?« Sie tritt näher. Ein Schlauch führt vom Unterboden des Autos ins Innere. Er ist in das hintere Fenster eingeklemmt. »Daddy?« Ihr Vater sitzt seitlich auf dem Fahrersitz, Rücken an Rücken mit dem Körper einer Frau, von der Mary nur die gewellten braunen Haare sieht. Über seinem Schlafanzug trägt er einen blauen Bademantel. Mary bückt sich, um ihm ins Gesicht zu sehen. Vielleicht schläft er nur. »Weg da!«, ruft eine raue Stimme hinter ihr, und eine Hand fasst sie an der Schulter und zieht sie weg. Jetzt erst fängt sie zu weinen an, aber auch der Mann, der sie weggezogen hat, kümmert sich nicht um sie. »Geh ins Haus«, sagt er, und sie geht ein Stück vom Auto weg, bleibt aber vor der Scheune stehen. Sie schaut zu, wie der Mann in der blauen Uniform erst den Oberkörper ihres Vaters packt, ihn halb aus dem Auto holt, ihn umdreht, seine Beine ins Auto legt und die Fahrertür schließt. Dann macht er das Gleiche mit der Frau und wischt die Türgriffe mit einem Taschentuch ab. Anschließend wischt er sich die Hände ab, dreht sie nach innen und wieder nach außen. Er hat ein Feuermal an der Innenseite seiner linken Hand. SUIZIDPAKT IN MILFORD steht riesengroß auf der ersten Seite des Donegal Reporter, als ginge es um den neuesten Hollywoodstreifen. Mary lernt gerade Lesen, aber das versteht sie nicht, und keiner will es ihr erklären, nicht ihre Mutter, nicht John-Joe, nicht Miss Rafferty in der Primary School. In ihrem Kopf schiebt Mary es zu den vielen Dingen, auf die sie sich keinen Reim machen kann oder über die sie sich keine Gedanken machen will: dass ihre Mutter immer öfter im Bett liegen bleibt und dass das ganze Zimmer nach Branntwein riecht; dass John-Joe jetzt die ganze Arbeit auf der Farm machen muss, dass ihre Mutter John-Joe jedes Mal zum Schweigen bringt, wenn er über ihren Vater reden will; dass das Bild von dem Mann, der in den Fluss schaut, auf einmal verschwunden ist; dass immer weniger Essen da ist. Und eines Tages ist auch John-Joe verschwunden aus ihrem Leben. Er ist in einem Heim, hat ihre Mutter erzählt, da ist er besser aufgehoben. Und dann müssen auch Mary und ihre Mutter von der Farm wegziehen, in ein Council House in Milford. Und ihre Mutter trinkt immer mehr und lebt von der Sozialhilfe, und Mary schämt sich für sie und für sich selbst. Mary versucht aufzuräumen und die Flaschen zu verstecken, wenn jemand vom Sozialamt kommt. Zum Glück ist sie gut in der Schule, das ist ihre Zuflucht, darüber bestimmt sie. Ihre Welt ist der Küchentisch zu Hause, wenn sie dort alleine sitzt und ihre Hausaufgaben macht, hat sie alles im Griff. Mathe, Englisch, Gälisch, alles beherrscht sie, Bücher werden ihr Zuhause, andere Hobbys hat sie nicht. Einmal, als sie neun ist, besucht sie mit ihrer Mutter John-Joe in seinem Heim in Sligo, und das, was sie verdrängt hat, kommt wieder hoch. SUIZIDPAKT IN MILFORD. Ihr Vater soll Selbstmord begangen haben, zusammen mit einer anderen Frau. John-Joe weiß etwas, das er nicht sagen darf. Marys eigene Erinnerungen an den Tag werden immer verschwommener, aber sie hat noch vor Augen, wie der Polizist die Lage der Leichen geändert hat. Warum? Wer war die andere Frau? Dann kommt die Nachricht, dass John-Joe sich umgebracht hat. Wie der Vater, wird getuschelt. Liegt in der Familie. Mary kann mit niemandem darüber reden. John-Joe ist tot, und ihre Mutter schweigt. Wenn sie groß ist, wird sie die Wahrheit herausfinden. Das Erwachsenwerden wird sie retten. Bis dahin muss sie den Kopf unten halten und ihre Kindheit hinter sich bringen. Die Schule ist der Schlüssel dazu. Sie ist die beste Schülerin in ihrer Klasse, bekommt ein Stipendium und kann mit zwölf auf die Mädchenschule in Letterkenny gehen. Am Wochenende und in den Ferien verdient Mary Geld. Sie arbeitet im Haushalt einer reichen Familie. Aber das Geld muss sie vor ihrer Mutter verstecken, so wie diese ihre Schnapsflaschen vor ihr verstecken muss. Mary muss am Ersten jedes Monats auch immer schauen, dass sie das Geld aus ihrem Stipendium von der Bank abhebt und verbirgt, sonst versäuft es ihre Mutter. Die Dohertys, einst angesehene Bauern, sind jetzt slags, Gesocks, das Gespött ihrer Siedlung, in ganz Milford bekannt. Ihre Mutter ist eine Witzfigur. Wenn sie wieder irgendwo betrunken und vollgepinkelt herumliegt, muss Mary sie auflesen, stützen und nach Hause schaffen. Zu zweit sehen sie aus wie ein laufender Heubock. Wenn die Mutter hinfällt, zieht Mary sie mit, und für alle Welt sieht es so aus, als ob auch Mary besoffen ist. In der Pubertät wird sie ein hübsches Mädchen, im gleichen Maße, in dem ihre Mutter immer mehr vor die Hunde geht; es ist, als würde Mary ihre ganze Schönheit aufsaugen. Und ihre Mutter hasst sie dafür. Oder für etwas anderes, das Mary nicht versteht. Aber mehr noch hasst ihre Mutter, wie es scheint, sich selbst. Einmal hält ein Auto an, als Mary ihre Mutter wieder einmal heimschleppt. Es ist ihre Französisch- und...